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Der Fussabdruck des Staates im Markt

Die öffentliche Hand ist in ­vielfältiger Weise wirtschaftlich aktiv, und ihre Tätigkeit ­beeinflusst die wirtschaftlichen Handlungen. Der nachfolgend dargelegte «Staatsabdruck» soll als ordnungspolitischer ­Kompass die Auswirkungen dieser Aktivitäten abbilden und ­aufzeigen, wie stark die einzelnen Wirtschaftssektoren vom Staat geprägt sind. Anhand von sechs Dimensionen wird ein wett­bewerblicher Fussabdruck des Staates im Markt erstellt.
Dieser Text beruht auf den Arbeiten der Arbeitsgruppe «Staat und Wettbewerb» von Economiesuisse. Die Arbeit wurde von Prof. Reto Föllmi (Universität St. Gallen) und Prof. Rudolf Minsch (HTW Chur und Chefökonom von Economiesuisse) fachlich kritisch begleitet. Der Autor dankt Katharina Jaik für die Unterstützung.

Nach einer liberalen Überzeugung führt staatliches Handeln nur zu dauerhaftem Wohlstand, wenn es sich an Freiheit, Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Eigenverantwortung orientiert. Das gleiche Bild prägt die internationale Diskussion, insbesondere in der OECD unter dem Stichwort der Wettbewerbsneutralität (Competitive Neutrality).
Vgl. OECD (2012): Competitive Neutrality – Maintaining a level playing field between public and private business, Paris, 30. August. Ein Überblick befindet sich auf >http://www.oecd.org/daf/ca/achievingcompetitiveneutrality.htm In verschiedenen Ländern sind zur Thematik Studien erschienen.
Vgl. zum Beispiel: Serco Institute (2006): A fair field and no favours. Die Zielsetzungen solcher Arbeiten liegen darin, eine Verbesserung der Produktions- und Verteilungseffizienz 
in der Volkswirtschaft zu erreichen. Wenn Akteure bevorzugt oder benachteiligt werden, erbringen nicht mehr diejenigen die wirtschaftlichen Leistungen, welche dies am leistungsfähigsten tun können. Gerade staatliche Aktivitäten können Vor- oder Nachteile für Partikularinteressen zu Lasten der Allgemeinheit zur Folge haben. In diesem Sinne 
ist «Wettbewerbsneutralität» nicht nur öko­nomisch, sondern auch staatspolitisch geboten.

Ein ordnungspolitischer Kompass fehlt


Trotz einer liberalen Tradition und einer Verankerung der Wirtschaftsfreiheit in der Bundesverfassung wird die Diskussion in der Schweiz defensiv und wenig systematisch geführt.
Hinzuweisen ist aber immerhin auf die Publikationen von Avenir Suisse, insbesondere: Urs Meister et.al. (2012): Mehr Markt für den Service Public. So zeugt zum Beispiel der Entscheid des Bundesgerichtes zur Glarner Sachversicherung
2C 485/2010 von einer geringen Sensibilisierung für die Problematik einer ausufernden staatlichen Aktivität in wirtschaftlichen Belangen. Dies hat im Parlament jüngst zu verschiedenen Vorstössen geführt.
Postulat FDP 12.4172: Für eine freie Wirtschaftsordnung. Gegen Wettbewerbsverzerrung durch Staatsunternehmen; Interpellation Hutter 12.3687: Aufrechterhaltung der liberalen Wettbewerbsordnung. Wenn staatliche Aktivitäten in Frage gestellt werden, wird oft gleich eine Gefährdung des Service public befürchtet.
Mit einer Volksinitiative «Pro Service public» sollen die Leistungen gar in der Verfassung verankert werden (http://www.proservicepublic.ch)Die staatliche Präsenz in den verschiedenen Wirtschaftssektoren sowie die Entwicklung über die Zeit wurden in bisherigen Studien kaum untersucht.
Der Bundesrat lehnt es in seiner Stellungnahme vom 8.3.2012 zum Postulat der FDP-Fraktion 12.4172 wegen «politischer Aussichtslosigkeit» ab, einen Bericht in diesem Bereich zu erstellen. Der hier präsentierte Staatsabdruck soll diese Lücke schliessen und einen Orientierungsrahmen im Sinne eines ordnungspolitischen Kompasses schaffen. Der Staatsabdruck bildet den Ist-Zustand in den einzelnen Wirtschaftssektoren mit Fokus auf den Wettbewerbszustand ab, ohne eine Wertung vorzunehmen. Es geht darum, die Präsenz des Staates – Bund, Kantone, Gemeinden, staatlich dominierte Unternehmen – in den einzelnen Wirtschaftsbereichen aufzuzeigen und darzulegen, wie weit den entsprechenden Markt prägt. Die Analyse kann auch die Entwicklung innerhalb der Sektoren über die Zeit darstellen. Ziel ist es aufzuzeigen, wie intensiv und in welcher Art der Staat insgesamt in einem Wirtschaftssektor präsent ist.

Liberale Grundsätze als Basis


Ausgangspunkt für den Staatsabdruck sind sieben liberale Leitsätze:

  • Staatliches Wirken soll nur subsidiär erfolgen, wo private Angebote nicht genügen.
  • In Wirtschaftsaktivitäten hat der Wettbewerb ein klares Primat.
  • Staatliches Handeln soll den Wettbewerb möglichst wenig verzerren.
  • Marktversagen kann eine Begründung für Eingriffe darstellen, muss aber nach objektiven ökonomischen Kriterien stets kritisch hinterfragt werden.
  • Über die Eingriffe, Einflussnahmen, Bedingungen und Finanzströme muss volle Transparenz herrschen.
  • Staatliche Eingriffe und Angebote sollen die private Entwicklung nicht behindern. Vielmehr sind aktiv Freiräume für private Akteure zu schaffen.
  • Im Sinne einer guten Governance müssen Regulierung, Überwachung und wirtschaftliche Tätigkeit klar getrennt und die Kumulation von Aufgaben abgeschafft werden.


In Grafik 1 werden diese Leitsätze in den Dimensionen (staatliche) Beteiligung, Regulierung, (staatliche) Beihilfen, Rechtfertigung, Governance und Verdrängung Privater abgebildet. Auf diesen Dimensionen werden die Staatseingriffe nach einer Skala zwischen 1 und 10 bewertet. Das Spinnendiagramm zeigt den Fussabdruck des Staates optisch auf. Je höher der Wert ausfällt, umso intensiver ist der Staat im Markt präsent. Die resultierende Fläche bildet die Präsenz des Staates ab. Der abdruck kann aber auch numerisch dargestellt werden: Je höher der resultierende Wert, desto schlechter ist die 
Wettbewerbssituation im betreffenden Wirtschaftssektor insgesamt zu bewerten. Massnahmen und konkrete Aktionen sind nicht Teil des Staatsabdruckes, sondern in einem zweiten Schritt Sache der politischen Entscheidungsträger.

Verlässliche Aussagen über die ­zeitliche Entwicklung


Die Bewertung in den einzelnen Dimen­sionen erfolgt naturgemäss subjektiv, auch wenn festgelegte Bewertungsskalen willkürlichen Einschätzungen entgegenwirken. Der Staatsabdruck ist daher eine Grobeinschätzung. Er kann keine exakte Abbildung der Realität liefern, genauso wenig wie beispielsweise die Wettbewerbssituation zwischen privaten Akteuren einzig und allein aufgrund der Marktkonzentration beurteilt werden darf.
Dennoch wird etwa der Herfindahl-Index in der Wettbewerbsanalyse häufig als eines der Beurteilungselemente neben anderen verwendet. Diese subjektiven Elemente verhindern einen absoluten Vergleich zwischen den Sektoren und absolute Aussagen über den «richtigen» Wert. Immerhin sind die Aussagen verlässlich, wenn sie denselben Sektor über verschiedene Zeiteinheiten oder die Auswirkungen beabsichtigter Massnahmen vergleichen. Dann kann die Entwicklung aussa­gekräftig aufgezeigt werden. Auf eine Gewichtung der Dimensionen wird in diesem Modell verzichtet.
Man könnte etwa die Frage stellen, ob Änderungen in der Governance den Wettbewerb wirklich gleich stark beeinflussen wie Beihilfen. Das Abbild und die Stimulierung der Diskussion stehen im Vordergrund. Eine spezifische Gewichtung und Beurteilung ist hingegen bei allfälligen Massnahmen vorzunehmen. Die Analyse betrachtet nicht Märkte im Sinne des Wettbewerbsrechts, sondern statistische Sektoren, deren Einteilung über die Zeit konstant bleibt. Die Sektoren können nach Bedarf präziser eingegrenzt werden oder auch grössere Bereiche umfassen. Obwohl bei den Skalen ein gewisser Ermessensspielraum besteht, ist eine Zuordnung für den Handlungsbedarf möglich und ein Trend bei einem Vergleich über die Zeit feststellbar. Dank der Nutzung der international angewandten Noga-Klassifizierung wären auch länderübergreifende Vergleiche – mindestens in Europa – möglich.

Ordnungspolitisch orientierte ­Beurteilungsdimensionen


Ausgangspunkt für die Beurteilungsdimensionen sind die angeführten ordnungspolitischen Leitsätze. Im Einzelnen geht es um folgende Aspekte:
Die konkrete Bewertung ergibt sich aus den vorgegebenen Bewertungstabellen. Diese sind abrufbar unter http://www.economiesuisse.ch, Themen, Wettbewerb, Wettbewerbsverzerrung durch den Staat, siehe Tabelle unten rechts.

Staatliche Beteiligung


Diese Dimension zeigt, in welchem Umfang der Staat die wirtschaftlichen Akteure im ausgewählten Wirtschaftssektor finanziell oder durch Einfluss auf die Entscheide der Akteure beherrscht. Einer (Kapital-)Beteiligung gleichgestellt wird die staatlich festgelegte Finanzierung des laufenden Budgets
Auch etwa durch staatlich festgelegte Zwangsgebühren wie bei Radio und TV. eines oder mehrerer wirtschaftlich aktiver Einheiten. Gleiches gilt für die Einflussnahme mit Sperrminoritäten oder der Delegation von Vertretern in die Entscheidorgane der operationellen Akteure. Der höchste Wert ist gegeben, wenn die Aktivitäten integral von Einheiten der staatlichen Administration erbracht werden. Bei der tiefsten Bewertung bestehen keinerlei staatliche Beteiligungen oder Finanzanlagen zu Marktkonditionen und ohne Einflussnahme.

Regulierungsdichte (wettbewerbs­beeinflussende gesetzliche Vorschriften)


Generell umfasst diese Dimension alle Regelungen, die zu Wettbewerbsbeschränkungen oder gar -verzerrungen führen, ausser Wettbewerbsverzerrungen durch finan­zielle Anreize. Beispiele sind ungleiche Vorschriften zu Aufsichtssystem, Rechnungslegung, Kapitalis­ierung, selektive Verbote oder Zulassungsvorschriften. Erfasst wird auch die Regulierungsdichte insgesamt, welche die Innovation – gemessen an der Möglichkeit, neue Produkte oder Dienstleistungen anzubieten – beeinflusst. Ebenfalls bewertet werden Aktivitäten, welche nur mit Bewilligungen und staatlicher Aufsicht möglich sind. Entscheidend ist, wie frei private Akteure in der Gestaltung ihrer Angebote sind. Die Rechtfertigungen für solche Regelungen ­werden hingegen an anderer Stelle berücksichtigt. Beim tiefsten Wert liegen weder Beeinträchtigungen, Einschränkungen, Bevorzugungen noch Bewilligungsvoraussetzungen oder staatliche Aufsicht vor. Wenn Angebote nur aufgrund einer staatlichen Bewilligung, zu staatlich festgelegten Bedingungen und unter staatlicher Aufsicht erbracht werden können, wird der höchste Wert eingesetzt.

Staatliche Beihilfen


Zu dieser Kategorie gehören alle Arten von direkten und indirekten Zuwendungen des Staates mit einem geldwerten Vorteil (z.B. Subventionen, Steuervorteile, Garan­tien sowie sämtliche Zuwendungen und Vorteile ohne Erbringung einer entsprechenden Gegenleistung). Besonders erfasst werden Zuwendungen wie die (Staats-)Garantie, die eine selektive Wirkung haben, indem einzelne Unternehmen oder ganze Sektoren im Vergleich zu anderen Unternehmen oder Sektoren profitieren. Die Selektivität der Zuwendung bewirkt die Wettbewerbsverzerrung. Erfasst werden nicht nur asymmetrische Leistungen, bei denen zwar eine Leistung des Beihilfeempfängers erbracht wird, jedoch der Gegenwert nicht im Verhältnis zur empfangen Leistung steht. Auch die regelmässige Abnahme von Leistungen Privater durch den Staat in einem erheblichen Ausmass zählen zu dieser Dimension. Der höchste Wert liegt vor, wenn der Staat das gesamte Sektorvolumen direkt oder indirekt finanziert.

Rechtfertigung


Staatliche Eingriffe in den Wettbewerb lassen sich durch ökonomische oder allgemein anerkannte, übergeordnete Prinzipien begründen und rechtfertigen. Hier geht es um die ökonomische Bewertung der Rechtfertigung des staatlichen Eingriffs (bei Vorliegen von Netzwerkeffekten, Externalitäten, meritorischer Güter etc.). Dazu gehört etwa die Korrektur von Ungleichgewichten (z.B. im Konsumentenschutz und bei Informa­tionsasymmetrien) oder von Marktfehlern oder -versagen. Gewisse staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen können zudem notwendig sein, um den Wettbewerb in einem Sektor überhaupt entstehen zu lassen oder um ihn zu sichern. Der höchste Wert liegt vor, wenn Regulierung partikulär orientiert und politisch motiviert ist. Keine Verzerrung liegt vor, wenn es um eine staatliche Kernaufgabe – wie Sicherheit im öffentlichen Raum – oder um öffentliche Güter geht.

Governance


Besonders stark wirken sich Eingriffe aus, wenn sie auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig erfolgen. Dies ist der Fall, wenn die 
Regelsetzung, deren Überwachung und die 
Aktivität durch die gleiche Stelle oder verbundene Stellen erfolgen.
Ein Beispiel ist etwa das Gesundheitswesen: die Kantone erarbeiten die Spitalplanung und bieten die Leistungen auch mit ihren eigenen Spitälern an. Eine objektive Beurteilung wird erschwert, und die Akteure gehen – oft stillschweigend – von einem 
Biased Judgement aus. Klare, öffentlich zugängliche Regeln verringern die negativen Auswirkungen staatlicher Eingriffe in den Wettbewerb; umgekehrt verstärkt sie deren Fehlen. Die Governance beschreibt, inwieweit die Auswirkungen des staatlichen Eingriffs beispielsweise durch Schaffung von Transparenz oder Gewährleistung von Checks and Balances minimiert worden sind. Der tiefste Wert liegt vor, wenn alle Elemente getrennt und Finanzflüsse völlig offengelegt sind, eine von den politischen Behörden unabhängige Aufsicht besteht und die Eingriffe regelmässig nach objektiven Kriterien überprüft werden.

Verdrängung Private


Die private Entwicklung und die marktwirtschaftliche Ordnung erbringen grundsätzlich langfristig die besten volkswirtschaftlichen Leistungen.
Marktfehler/Marktversagen werden unter Rechtfertigungen erfasst. Entsprechend soll dieser Spielraum gezielt und aktiv vergrössert werden. Diese Dimension zeigt, inwieweit der Gestaltungsspielraum für die private Initiative im Rahmen der Umsetzung der Gesetze erweitert werden kann. Umgekehrt sollen sich staatliche Aktivitäten nach der Beurteilung dieses Aspektes nicht in bisher private Domänen ausdehnen, da sonst ein Verdrängungseffekt des wettbewerblich orientierten Sektors entstehen kann.
Vgl. auch die Festlegung der Grundsätze der Wirtschaftsordnung in Art. 94 BV, insbesondere Abs, 2 und 4. Der tiefste Wert wird erreicht, wenn durch Ausschreibungen mit Leistungsaufträgen, Aufteilung von Einzelaufgaben oder ähnliche Massnahmen bisher staatliche Aktivitäten systematisch auf Private übertragen werden. Wenn es nur staatliche Akteure gibt und durch deren Marktposition kein Spielraum für Private besteht, gilt der höchste Wert.

Ausblick: Vergrösserung des staatlichen Fussabdruckes verhindern


Economiesuisse nutzt diese Methodik im Rahmen einer Studie zum Verhältnis von Aktivitäten der öffentlichen Hand und Wettbewerb. Für die Wirtschaftspolitik müssen aus liberaler Sicht Massnahmen im Vordergrund stehen, die vorab eine Vergrösserung des «staatlichen Fussabdruckes» verhindern. Das kann etwa mit einer Darstellung der Auswirkungen von geplanten Aktivitäten auf den Indikator verbunden mit institutionellen Bremsen geschehen (zum Beispiel minimale Beschluss-Quoren, Befristungen). In zweiter Priorität sind Verbesserungen bei bestehenden Strukturen anzugehen, vorab in Bereichen mit einer hohen Verzerrung und grosser volkswirtschaftlicher Bedeutung. Eine Wiederholung der Bewertungen erlaubt es, die Entwicklungen über die Zeit zu verfolgen und untereinander zu vergleichen.

Grafik 1: «Staatsabdruck des Bereichs Brandversicherung»

Tabelle 1: «Beispiel einer Bewertungstabelle: Staatliche Beteiligung»

Zitiervorschlag: Thomas Pletscher (2013). Der Fussabdruck des Staates im Markt. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.