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Öffentliche Finanzen der Schweiz im internationalen Vergleich: Musterschülerin oder Glückspilz?

Die weltweite Verschlechterung staatlicher Finanzen seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise 2008, die manchenorts zu eigentlichen Staatsschuldenkrisen geführt hat, wird die wirtschaftspolitische Diskussion wohl noch längere Zeit dominieren und die Entwicklung der Weltwirtschaft bremsen. Die Schweiz konnte sich diesem internationalen Trend entziehen und steht mit ihren öffentlichen Finanzen exzellent da. Doch wie gross ist der Anteil der Finanzpolitik an der guten Haushaltslage, und wie viel ist den wirtschaftlichen Umständen zuzuschreiben?

Foto: Keystone


Der Vergleich der Entwicklung einiger weniger Aggregate der öffentlichen Finanzen der Schweiz in einem europäischen Kontext zeigt ein facettenreiches Bild. Ausgangspunkt ist die Veränderung von Saldi und Schulden des gesamten Staatssektors (Zentralstaat, Teilstaaten, Kommunen und Sozialversicherungen) in Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Grafik 1 stellt diese zwei finanzpolitischen Kennzahlen für ausgewählte Länder in den Jahren 2007 und 2012 als Punkte in einem Koordinatensystem dar. Der Pfeil weist jeweils in Richtung 2012.Die Schweiz sticht als Ausnahmeerscheinung hervor: Ihr Saldo hat sich in dieser Zeitspanne zwar reduziert, liegt aber immer noch im positiven Bereich; entsprechend konnte sie ihre Verschuldung reduzieren. Von den abgebildeten Vergleichsländern weist einzig Schweden ebenfalls eine ähnlich positive Entwicklung aus, allerdings mit einem Defizit im Jahr 2012. In allen anderen EU-Ländern erhöhte sich die Schuldenquote. In 20 EU-Ländern nahm sie um über 20 Prozentpunkte zu, darunter Länder wie Italien und Frankreich, deren Schuldenquote schon vor Ausbruch der Finanzkrise jenseits der Maastricht-Grenze von 60% lag.Auch bei der Saldoquote akzentuierte sich in den Krisenjahren die Situation der öffentlichen Haushalte in der EU deutlich: Von allen 27 Mitgliedstaaten hat nur gerade Deutschland – wie die Schweiz – in den Jahren 2007 und 2012 kein Defizit geschrieben. Dass seine Schuldenquote dennoch um über 10 Prozentpunkte angestiegen ist, zeigt, dass das Land in der Zwischenzeit in die Defizitzone eingetaucht ist und Banken-Bailouts durchführen musste. Vor Ausbruch der Krise wiesen noch 11 EU-Mitgliedstaaten einen Überschuss aus, und nur drei hatten ein Defizit, das über der Maastricht-Grenze von 3% lag. In der betrachteten Periode reduzierte sich die Saldoquote in allen EU-Ländern (mit Ausnahme Ungarns und Rumäniens), so dass im Jahr 2012 25 Länder Defizite auswiesen, davon 16 grösser als 3% des BIP.

Der Einfluss der Konjunktur


Zweifellos hat die Finanzmarkt- und die darauf folgende Wirtschaftskrise wesentlich zu der aufgezeigten Verschlechterung der öffentlichen Finanzen beigetragen: Die Rettung von Banken zur Verhinderung eines Kollapses des Finanzsystems hatte manchenorts eine Verlagerung privater Schulden hin zur öffentlichen Hand zur Folge. Die anschliessende Rezession hat durch einen Rückgang der Steuereinnahmen sowie einen Anstieg der Ausgaben infolge steigender Arbeitslosigkeit und diskretionärer Massnahmen zur Konjunkturstabilisierung die Saldi verschlechtert und damit ebenfalls zum Anstieg der Verschuldung geführt. Die konjunkturbedingte Verschlechterung der Haushaltssaldi ist finanzpolitisch an sich unproblematisch, da sie mittel- bis langfristig durch wirtschaftlichen Aufschwung wieder wettgemacht werden kann. Auch aus konjunkturpolitischer Sicht ist diese zyklische Entwicklung sogar durchaus erwünscht.Grafik 2 illustriert den Zusammenhang zwischen Konjunktur und Haushaltssaldi für die Schweiz und vier europäische Länder. In einem Koordinatensystem sind die Saldi und die gesamtwirtschaftliche Auslastung, also der Output Gap (d.h. die prozentuale Abweichung des realen BIP von seinem Potenzialwert), der Jahre 2003–2012 abgetragen, ergänzt um eine Regressionsgerade. Die Linien zeigen für alle Länder den naheliegenden positiven Zusammenhang: Mit steigender Wirtschaftsauslastung verbessert sich der Saldo und umgekehrt. Die Grafik zeigt deutliche Unterschiede bei der Lage der Linien: Im Schnittpunkt mit der y-Achse, also bei Normalauslastung der Wirtschaft, weisen einzig die Schweiz und Schweden einen positiven Saldo aus. Dies deutet darauf hin, dass nur diese zwei Länder einen strukturell – d.h. um konjunkturelle Einflüsse bereinigten – ausgeglichenen Haushalt ausweisen konnten.

Hinweise auf strukturelle Ungleichgewichte vor der Krise


Somit sind die Defizite der Krisenjahre nur teilweise auf die verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen: In der Phase der Hochkonjunktur der Jahre 2004–2007 schrieb die EU als Ganzes (und auch die Eurozone) in allen Jahren Defizite. Betrachtet man die Mitgliedsländer separat, dann wurden in den Jahren 2004–2007 in der Eurozone und in der ganzen EU in rund zwei Drittel der Fälle Staatsdefizite erwirtschaftet. Zwischen Jahresbeginn 2004 und Jahresende 2007 konnten bloss vier Länder der EU (Bulgarien, Dänemark, Finnland, Schweden) ihre Schuldenlast reduzieren. Dies sind Hinweise darauf, dass die meisten Länder Europas schon vor Ausbruch der Finanzmarktkrise strukturelle Ungleichgewichte in ihren Staatshaushalten aufwiesen.Demgegenüber führten in der Schweiz zahlreiche Fiskalregeln auf kantonaler und kommunaler Ebene sowie vor allem die eingeführte Schuldenbremse zu einer nachhaltigen Besserung bei den Staatsfinanzen, was sich seit 2006 in Überschüssen manifestiert. Die Schweiz nutzte diese Überschüsse zur Reduktion der Staatsschulden. Somit ist das gute Abschneiden der Schweiz im internationalen Vergleich auch darauf zurückzuführen, dass sie ihre finanzpolitischen Hausaufgaben vor der Krise gemacht hat und mit soliden öffentlichen Finanzen in die Krise eingetreten ist.

Einnahmen und Ausgabenentwicklung


Grafik 2 zeigt aber auch, dass die Schweiz von der weltweiten Rezession vergleichsweise schwach tangiert wurde. Die negativen Werte des Output Gap reichen sichtlich weniger stark nach links als in den europäischen Vergleichsländern. Die Auswirkungen der unterschiedlichen Wirtschaftsentwicklung verdeutlicht Grafik 3. Sie schlüsselt die Entwicklung der Haushaltssaldi auf nach Einnahmen und Ausgaben. Das Wachstum ist zudem auf zwei Unterperioden aufgeteilt: die Periode von den ersten Anzeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise bis zum Ausbruch der Staatsschuldenkrise (2007–2010) sowie den Zeitraum vom Beginn der Schuldenkrise bis an den aktuellen Rand (2010–2012). Die Pfeile zeigen also an, wie sich die Haushaltsdynamik zwischen der ersten und der zweiten Teilperiode verändert hat.In allen europäischen Vergleichsländern weisen die Pfeile nach rechts/unten: Ihr Einnahmenwachstum hat sich erhöht und ihr Ausgabenwachstum wurde gedrosselt. Mit Ausnahme von Schweden liegen zudem die Dreiecke unterhalb der Winkelhalbierenden; diese Länder konnten die Defizite im Zeitraum 2010–2012 reduzieren. Auch hier schert die Schweiz aus: Sie hat ihr Ausgabenwachstum in der zweiten Subperiode erhöht. Zudem liegt sie wie Schweden auch in der zweiten Periode oberhalb der Winkelhalbierenden, wenn auch deutlich näher und noch immer mit einem Überschuss (siehe Grafik 1).Diese Entwicklung ist stark vom Wirtschaftswachstum in den entsprechenden Zeitabschnitten geprägt (siehe Tabelle 1). Das durchwegs höhere Wirtschaftswachstum in der zweiten Periode erklärt zumindest einen Teil der veränderten Einnahmen- und Ausgabendynamik. Namentlich die grosse Spannweite der BIP-Entwicklung in Deutschland – und etwas weniger ausgeprägt in Österreich und Schweden – dürfte der Hauptgrund für die starke Seitwärtsbewegung in Grafik 3 sein. Zudem ist es Deutschland gelungen, die expansive Ausgabenpolitik der Krisenjahre wieder zurückzufahren. Auf der anderen Seite steht das ansteigende Einnahmenwachstum in Italien im Widerspruch zur schrumpfenden Wirtschaft in beiden Perioden. Dies illustriert deutlich, dass das Einnahmenwachstum vor allem durch Steuererhöhungen erreicht wurde.Bezüglich der Schweiz wird der Eindruck bestätigt, dass ihre gute Position auch darauf zurückzuführen ist, dass ihre Wirtschaft von der globalen Rezession vergleichsweise wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Zinsausgaben und Schulden


Neben der Abhängigkeit des Haushaltssaldos von der BIP-Entwicklung haben die Krisenjahre auch deutlich gemacht, dass Länder mit hoher Staatsschuld viel verletzlicher gegenüber makroökonomischen Schocks sind. Dies lässt sich am Beispiel der Zinssätze auf Staatsanleihen von Euroländern illustrieren. Die Ankündigung der Einführung des Euro führte dazu, dass sich die zuvor deutlichen Unterschiede bei diesen Zinssätzen einebneten. Erstaunlicherweise fielen die Zinssätze in Hochzinsländern wie Italien auf das tiefe Niveau der Zinssätze Deutschlands, was – neben der Angleichung der Inflationsraten – implizit bedeutete, dass allen Euroländern die Bonität Deutschlands unterstellt wurde. Davon profitierten alle ehemaligen Hochzinsländer mit hoher Staatsverschuldung, insbesondere Italien. Noch 1993 musste Italien 22,5% seiner Staatsausgaben für die Schuldenbewirtschaftung ausgeben. Durch den Beitritt zum Euro und die erwähnte Reduktion der Zinssätze auf Italiens Staatsanleihen reduzierte sich dieser Anteil kontinuierlich auf 8,8% im Jahr 2009. Die Finanzkrise hat den Finanzmarktteilnehmern deutlich vor Augen geführt, dass auch in einem einheitlichen Währungsraum die Bonität der verschiedenen Mitgliedsländer nicht identisch ist und die Zinssätze nicht für alle auf dem Niveau des Klassenprimus sein dürfen. Diese Erkenntnis hat die Zinssätze auf Staatsanleihen wieder auseinander driften lassen. Die Bonität ehemaliger Hochzinsländer wurde nun wieder realistischer eingestuft, wodurch sich deren Zinssätze nach oben orientierten.Ein solcher Zinssatzschock wirkt sich umso gravierender aus, je höher die Verschuldung ist. Seit dem Tiefststand 2009 ist der Anteil der Zinsausgaben an den Staatsausgaben in Italien wieder auf 10,7% im Jahr 2012 gestiegen. Beim Refinanzieren von Staatsanleihen aus der Tiefzinsperiode muss Italien nun höhere Zinszahlungen in Kauf nehmen. Der Anteil der Zinszahlungen an den Staatsausgaben wird weiterhin zunehmen und den politischen Handlungsspielraum zusätzlich limitieren. Dieser Effekt dürfte noch verstärkt werden, sobald die EZB von ihrer lockeren Geldpolitik abzuweichen beginnt.In Grafik 4 wird dieser Sachverhalt anhand der Gegenüberstellung des gesamten Finanzierungssaldos und des Primärsaldos (Saldo ohne Zinsausgaben) dargestellt. Es wird deutlich, wie stark der Schuldendienst den Handlungsspielraum einschränkt. So hat z.B. Italien seit 1990 bei jeder Konjunkturlage immer Defizite geschrieben. Die Defizite verringerten sich zwar nicht zuletzt als Folge des Eurobeitritts und der damit verbundenen Reduktion der Zinssätze deutlich. Seit 2010 bewegen sich die beiden Saldi wieder auseinander. Der zu erwartende weitere Anstieg der Zinsausgaben dürfte eine zusätzliche Verschärfung der Haushaltssituation bewirken und damit eine Abwärtsdynamik auslösen, weil aufgrund steigender Zinszahlungen die Schulden weiter erhöht werden müssen. In Frankreich ist derzeit noch keine Einschränkung des finanzpolitischen Handlungsspielraums aufgrund höherer Zinszahlungen erkennbar, obwohl die Schuld 2007–2012 um gut 50% zugenommen hat. Das Niveau der Verschuldung in Frankreich ist zwar deutlich geringer als in Italien; unser westliches Nachbarland weist jedoch einen defizitären Primärsaldo aus. Selbst ohne Zinszahlungen führt die aktuell praktizierte Finanzpolitik also zu einem weiteren Verschuldungsanstieg. Dies ist kein Einzelfall: In der Zeitspanne 2007–2012 wiesen zwei Drittel der EU-Länder negative Primärsaldi aus.In der Schweiz – und noch ausgeprägter in Schweden – ist die Dynamik aus Verschuldung und Zinsbelastung umgekehrt: Der Schuldenabbau der letzten Jahre hat zusätzlichen Handlungsspielraum geschaffen und die finanzpolitische Verletzlichkeit bei Zinsänderungen weiter reduziert.

Schuldenabbau lohnt sich


Ein wesentlicher Teil der aktuellen finanzpolitischen Probleme in Europa wurde vor der Krise geschaffen. Viele der Länder, die heute darunter leiden, hatten schon vor der Krise strukturelle Defizite und relativ hohe Schulden, weshalb ihre Haushalte verletzlicher gegenüber makroökonomischen Schocks waren. Dass die Schweiz in Europa zu den am besten aufgestellten Ländern gehört, liegt somit nicht allein daran, dass sie von der Krise vergleichsweise schwach tangiert wurde. Ebenfalls von Bedeutung ist, dass ihre öffentlichen Haushalte zu Beginn der Krise solider aufgestellt waren. Insbesondere wurden in der Schweiz die Mehreinnahmen der wirtschaftlich guten Jahre vor der Krise genutzt, um Schulden abzubauen.Die Krise hat jedoch auch gezeigt, dass vermeintlich gut positionierte Länder – wie z.B. Irland – sehr schnell zu Problemfällen werden können, wenn ihre Achillesferse getroffen wird. Mit einem tendenziell überhitzten Immobilienmarkt, einem sehr gewichtigen Finanzsektor und einer grossen Abhängigkeit von der Weltwirtschaft hat auch die Schweiz erhebliche Risiken. Die finanzpolitische Herausforderung für die Schweiz besteht darin, sich von Glückssträhnen nicht zum Übermut verleiten zu lassen, damit auch eine Pechsträhne nicht zur Krise wird.

Grafik 1: «Bewegungen des Saldos und der Schulden, 2007–2012»

Grafik 2: «Output Gap und Saldo der Staatsausgaben, 2003–2012»

Grafik 3: «Einnahmen– und Ausgabenwachstum, 2007–2010»

Grafik 4: «Finanzierungssaldo und Primärsaldo (Saldo ohne Zinsausgaben), 1990–2012»

Tabelle 1: «Durchschnittliches jährliches Wachstum des realen BIP»

Zitiervorschlag: Tobias Beljean, Peter Steiner, (2013). Öffentliche Finanzen der Schweiz im internationalen Vergleich: Musterschülerin oder Glückspilz. Die Volkswirtschaft, 01. November.