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Wohnbaugenossenschaften – ein Modell für die Zukunft?

Ursprünglich als Selbsthilfeorganisationen geschaffen, beruhen Genossenschaften bis heute auf den «sechs S»: Selbsthilfe, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung, Solidarität und Spekulationsentzug. Künftig wird die Schweiz noch mehr auf die Wohnbaugenossenschaften angewiesen sein. Denn sie haben die Strukturen und die Innovationskraft, um den wohnungswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen.

In ihrer Gründungszeit lieferten sie die Antworten auf die Fragen ihrer Epoche: Die Wohnbaugenossenschaften erstellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den dringend benötigten Wohnraum für die Arbeiterfamilien, die im Zuge der Industrialisierung in die Städte gespült wurden und in prekären Verhältnissen hausen mussten. In den neuen Genossenschaftssiedlungen fanden sie bezahlbare, helle und saubere Wohnungen mit einem Fleckchen Grün, wo sie Gemüse anbauen und ihre Kinder sich an der frischen Luft bewegen konnten. Ein wichtiger Grundgedanke des Modells war auch die Solidarität.

Die heutige Generation hat andere Bedürfnisse


Heute, rund hundert Jahre später, sieht dies etwas anders aus. Längst gehört nicht mehr nur die Arbeiterschicht zur Bewohnerschaft. Auch die homogene Zielgruppe der Familie existiert so nicht mehr: Die Familienphase ist eine immer kürzere Periode im Lebenszyklus geworden, und die klassische Kleinfamilie ist nicht mehr das Mehrheitsmodell. Die heutige Bewohnerschaft ist heterogener, multikultureller und mobiler. Sie trägt die Genossenschaftsidee nicht mehr in demselben Masse mit wie die Pioniergeneration. Die demografische Entwicklung mit vielfältigen Haushaltformen, zunehmender Überalterung und Migration stellt die Wohnungsanbieter vor neue Herausforderungen. Die Genossenschaftssiedlungen der Gründerzeit mit ihren vielen uniformen Einheiten liefern darauf nicht mehr die richtige Antwort. Die Ende des Zweiten Weltkriegs erstellten Stammsiedlungen sind mittlerweile am Ende ihres Lebenszyklus angelangt. Energie- und bautechnisch sowie mit kleinräumigen Grundrissen entsprechen sie nicht mehr den heutigen Bedürfnissen.

Einfaches wirtschaftliches Prinzip


Und diese funktionieren noch immer nach demselben wirtschaftlichen Prinzip wie die ersten Wohnbaugenossenschaften und andere Genossenschaftsunternehmen. Als Non-Profit-Unternehmen sind sie sachzielorientiert: Sie verfolgen eine Mission, eine gemeinsame Sache, und nicht ein finanzielles Ziel. Im Gegensatz zu finanziell bestimmten, am Shareholder Value ausgerichteten Konzernen zählt für Genossenschaften der Nutzen für die Mitglieder, der Member Value. Den evidentesten Nutzen spüren die Mitglieder der Wohnbaugenossenschaften noch heute direkt im eigenen Portemonnaie: Da sie nicht gewinnorientiert arbeiten und dem Prinzip der Gemeinnützigkeit verpflichtet sind, berechnen Wohnbaugenossenschaften ihre Mietzinse nach dem Prinzip der Kostenmiete. Das heisst, sie verrechnen nur die effektiven Kosten, die für Land, Bau, Unterhalt und Verwaltung anfallen. Ihre Wohnungen sind deshalb im Durchschnitt rund 20%, in gewissen Städten sogar bis zu 40% günstiger als andere Mietwohnungen. Weil die Liegenschaften und der Boden langfristig der Spekulation entzogen sind, werden die Wohnungen im Laufe der Jahre im Vergleich zum Markt immer günstiger.

Grosser Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft


Damit springen die gemeinnützigen Wohnbauträger dort in die Bresche, wo der Markt nicht spielt: In gewissen Städten und Agglomerationen wie Basel, Zug oder Genf liegt der Leerwohnungsbestand unter 0,5%. Für einen funktionierenden Markt müsste er aber mindestens 1%-2% betragen. Der private Wohnungsbau ist nicht imstande, ein bedarfsgerechtes Angebot bereitzustellen. Deshalb braucht es in Zukunft eigentlich mehr gemeinnützigen Wohnungsbau. Denn von einer ausreichenden Versorgung mit preisgünstigem Wohnraum profitieren auch der Staat und die Wirtschaft: Wenn einkommensschwache Haushalte bezahlbare Wohnungen finden, spart die öffentliche Hand Sozialhilfegelder. Das Wohnangebot wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ob die künftigen Generationen den heutigen Lebensstandard halten werden können, oder ob breitere Bevölkerungsschichten in Armut abrutschen. Mit bezahlbarem Wohnraum und einem hohen Kündigungsschutz bieten Wohnbaugenossenschaften auch dem Mittelstand sehr viel Sicherheit. Das wirkt sich direkt auf die Konsumstimmung aus. Und letztlich ist es auch im Sinne der Wirtschaft, dass die Beschäftigten in vernünftiger Distanz zum Arbeitsort Wohnraum finden.

Konzepte für die Zukunft


Ausserdem übernehmen die Wohnbaugenossenschaften gesellschaftliche Verantwortung: Gemäss ihrer Charta, zu der sich alle gemeinnützigen Bauträger der Schweiz verpflichten, bieten sie Wohnraum für alle Bevölkerungskreise an. Sie geben auch gesellschaftlichen Randgruppen und Personen eine Chance, die es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben. Diese integrierende Kraft nützt der ganzen Gesellschaft. Genossenschaften, die auf gesellschaftliche und demografische Veränderungen eingehen und auf aktuelle Notsituationen reagieren können, werden im schweizerischen Wohnungsmarkt künftig an Bedeutung gewinnen. Interessanterweise sind es derzeit vor allem Baugenossenschaften, die sich mit zukunftsweisenden Konzepten und ganz neuen Wohnmodellen hervortun. Dies hat nicht zuletzt mit dem demokratischen Ansatz zu tun: Weil die Mitglieder mitreden können und Projekte partizipativ aufgegleist werden, können vielfältige Anregungen und Trends aus der Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner aufgegriffen werden.

Grafik 1: «Anteil der Genossenschaften an der Neubautätigkeit, 2000–2011»

Tabelle 1: «Mietpreisstatistik 2011: Miet- und Genossenschaftswohnungen im Vergleich»

Zitiervorschlag: Rebecca Omoregie (2013). Wohnbaugenossenschaften – ein Modell für die Zukunft. Die Volkswirtschaft, 01. November.