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Wohnungsmangel ist kein Naturgesetz

Knappheit ist auf dem Wohnungsmarkt allgegenwärtig, vor allem in den Agglomerationen und besonders ausgeprägt an den begehrten Zentrumslagen. Wer je in Zürich, Genf oder Bern eine Bleibe gesucht hat, weiss um die Mühen der Wohnungssuche. Über die Jahre hat man sich mit den Verhältnissen arrangiert. Bei vielen Menschen hat sich dabei der Glaube verfestigt, ausgetrocknete Wohnungsmärkte seien quasi ein Naturgesetz. Doch der Zustand des Wohnungsmarktes ist letztlich ein Abbild von Nachfrage und Angebot – sowie von dessen Regulierung.

Foto: Keystone


Die aggregierte Nachfrage nach Wohnungen wird von zwei Hauptfaktoren angetrieben: der Demografie und der Einkommensentwicklung. Als Faustregel gilt, dass eine Bevölkerungs- oder Einkommenszunahme von 1% die Wohnraumnachfrage um 1% steigen lässt. In der aktuellen wohnungspolitischen Debatte steht zurzeit das Bevölkerungswachstum durch die Zuwanderung im Brennpunkt. Zweifellos hat das Mehr an Menschen – in der Region Zürich beträgt die Zunahme rund 1,5% pro Jahr – den Wohnungsmangel jüngst akzentuiert. Dies bestätigt auch Grafik 1 Während das Einkommens- und Bevölkerungswachstum der Schweiz in den 2000er-Jahren etwa zu gleichen Teilen zur Nachfrageausdehnung beitrugen, kippte das Verhältnis nach 2010 deutlich auf die Seite der Bevölkerungszunahme. Letztere betrug in den letzten drei Jahren durchschnittlich 1%; das Pro-Kopf-Einkommen wuchs lediglich halb so stark. Über einen längeren Zeithorizont gesehen war hingegen der gestiegene Wohlstand – und damit verbunden die höheren Ansprüche an Wohnfläche und Komfort, aber auch die abnehmende Haushaltsgrösse – der wichtigere Nachfragetreiber als die Demografie. In der Periode 1970–2013 expandierte die Wohnungsnachfrage im Mittel um stattliche 1,7% pro Jahr. Zwei Drittel davon gehen auf das Konto der Einkommenszunahme. Die 1980er-Jahre erscheinen im Rückblick als Ausnahmedekade: Die Ausdehnung der Wohnungsnachfrage erfolgte damals doppelt so schnell wie heute. Diese Dynamik führte in eine Immobilienblase, deren Korrektur schmerzhaft war und das Wachstum bis weit in die 1990er-Jahre hemmte.

Steigende Wohnkosten als Folge zu tiefer Investition


Das Neubauangebot konnte mit der starken Nachfragezunahme hingegen oft nicht Schritt halten. Neben dem effektiven mittleren Neubau zeigt Grafik 2 das zusätzliche Angebot, das nötig gewesen wäre, um die realen Mieten konstant zu halten. Unter dieser Voraussetzung wurden in den 2000er-Jahren jährlich 20 000 Wohnungen zu wenig gebaut. Offenbar konnten viele Investoren nicht schnell genug auf die starke Zuwanderung reagieren – oder sie gingen nicht davon aus, dass sie anhält. Der Ausgleich musste über real steigende Mieten erfolgen. Dies barg aber auch sozialen Sprengstoff, denn die Verteuerung des Wohnens vollzog sich in der Landschaft keineswegs homogen. An den Brennpunkten der Zuwanderung führte sie im Mittelstand zu Verunsicherung und Verdrängungsängsten. Mit dem Anziehen der Bautätigkeit auf rund 50 000 Objekte pro Jahr wurde der Mangel seit 2010 zwar etwas reduziert; das Angebot bildet aber noch immer die kurze Marktseite. Aus dieser Sicht kann von einer Investitionsblase im Immobilienmarkt keine Rede sein.

Kostspielige Rationierungen


In Grafik 2 fällt ein weiteres Phänomen auf. Der Anstieg der realen Wohnkosten war in den 1980er-Jahren mit über 6% jährlich wesentlich schärfer als in den 2000er-Jahren, obwohl das Ungleichgewicht im Wohnungsmarkt noch grösser war als heute. Möglicherweise hängt dies mit dem Mietrecht zusammen: 1990 wurde die im Wesentlichen noch heute gültige Kostenmiete gesetzlich verankert. Das Kostenprinzip bewirkt, dass Altmieter vor den Auswirkungen einer überbordenden Nachfrage geschützt werden. Mehr noch: Wegen der Zinsanbindung mussten die schon tiefen Altmieten trotz der Wohnungsknappheit in letzter Zeit weiter gesenkt werden. Mit Sicherheit hat dies die Auswirkungen der Zuwanderung für den städtischen Mittelstand abgefedert. So hat sich der Anteil der Wohnausgaben am Haushaltseinkommen in den letzten zehn Jahren kaum verändert.

Die Regulierungsspirale dreht sich


Angesichts der starken Nachfrage entsteht auch der Druck nach immer weitergehenden Regulierungen. In den letzten Jahren war es für viele institutionelle Investoren gängige Praxis, die schwindenden Erträge durch sinkende Altmieten (infolge sinkender Zinsen) bei laufenden Mieterwechseln auszugleichen. Die Wiedervermietung erfolgte zu Marktkonditionen. Im Kanton Zürich wird nun im November 2013 die Formularpflicht wieder eingeführt, um dieses «Schlupfloch» zu schliessen. Dem Nachmieter muss neu die vorherige Miete offengelegt werden. Im Falle einer «übermässigen» Erhöhung kann der Nachmieter den Vermieter nach unterschriebenem Vertrag einklagen und die Einhaltung der Kostenmiete fordern. Man geht davon aus, dass die Gerichtspraxis bei einem Aufschlag von mehr als 10% die Beweislast umkehren wird; d.h. der Vermieter muss belegen, dass die neue Miete mietrechtskonform ist. Dies ist meist ein sehr schwieriges Unterfangen. Faktisch stellt die Formularpflicht ein Instrument dar, um die Kostenmiete auch bei Mieterwechseln durchsetzen. Die Vermieter ihrerseits könnten darauf reagieren, indem sie zunächst nur befristete Mietverträge abschliessen, bis das Klagerisiko durch den neuen Mieter abgewendet scheint. Sollte sich diese Reaktion der Vermieter bewahrheiten, würden befristete Verträge über kurz oder lang eingeschränkt oder untersagt.

Hausgemachte Knappheit


Am Beispiel des Genfer Wohnungsmarktes lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie eine stärkere Regulierung meist weitere Eingriffe in den Markt und die Eigentumsfreiheit nötig macht. Wie kein anderer Kanton hat Genf den Mieterschutz «ausgereift», indem Lücken abgedichtet wurden, die anderswo eine teilweise Anpassung an die Marktbedingungen erlauben. Das «Loi sur les démolitions, transformations et rénovations» legt im Detail fest, wie Renovationskosten auf die Mieten überwälzt werden dürfen. So schreibt das Gesetz für einen Teil des Wohnungsbestandes einen maximalen Aufschlag nach einer umfassenden Renovation von 3363 Franken pro Zimmer und Jahr vor. Dies führt dazu, dass eine neu renovierte Wohnung im Zentrum von Genf zu einer tieferen Miete vermietet werden muss als eine ähnliche Wohnung in Schaffhausen oder Sion. Die Folgen manifestieren sich in einer tiefen Renovationsquote und einer schlechten Qualität des Genfer Wohnungsbestandes. Während in der Stadt Basel 2011 22% der Neubauten einem Abbruch folgten, lag die entsprechende Quote in Genf bei nur 5%. Die starke Regulierung äussert sich auch in einer Umzugsquote von lediglich 9% pro Jahr, ähnlich tief wie in den ländlichen Kantonen Jura oder Obwalden.

Grafik 1: «Durchschnittliche Wachstumsraten der Bevölkerung und des realen Bruttoinlandprodukts pro Kopf in der Schweiz, 1970–2013»

Grafik 2: «Tatsächlicher und «notwendiger» Neubau sowie mittlere Veränderungsrate der realen Mieten, 1970–2013»

Kasten 1: Literatur

Literatur

  • Patrik Schellenbauer, Wanderung, Wohnen und Wohlstand, Avenir Suisse, 2011.
  • Marco Salvi, Une pénurie fait maison, Avenir Suisse, 2012.

Zitiervorschlag: Patrik Schellenbauer, Marco Salvi, (2013). Wohnungsmangel ist kein Naturgesetz. Die Volkswirtschaft, 01. November.