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Die Schweizer Regulierung auf dem Prüfstand

Das Parlament hat den Bundesrat beauftragt, die für die Unternehmen anfallenden Regulierungskosten zu messen. Dafür musste zunächst eine neue Methode entwickelt werden. Die eigentliche Analyse konzentrierte sich auf 13 staatliche Handlungsfelder. Fünf davon verursachen jährlich Kosten von über einer Milliarde Franken. Die Analysearbeiten mündeten in einen Massnahmenkatalog zur Vereinfachung oder Verbesserung des Systems.

Die Schweizer Regulierung auf dem Prüfstand

Die Konjunkturaussichten sind derzeit gut und die Finanzkrise scheint überwunden. Dennoch bleibt der Wirtschaftsplatz Schweiz weiterhin der ausländischen Konkurrenz ausgesetzt. Auch das Regulierungsumfeld ist in ständigem Wandel begriffen. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu erhalten, müssen die Produktionskosten konkurrenzfähig bleiben. Und um diese nicht übermässig zu belasten, muss sich die Regulierung in einem vernünftigen Rahmen bewegen.

Ein Grossprojekt


Die Postulate Fournier[1] und Zuppiger[2] beauftragten den Bundesrat mit der Messung der für die Unternehmen anfallenden Regulierungskosten. Zwischen der Annahme der Postulate durch die Räte und der Publikation der Resultate waren mehrere Etappen zu durchlaufen. Zunächst galt es festzulegen, wie die Regulierungskosten definiert und welche davon gemessen werden sollten. Denn eine Analyse des gesamten Systems schien von Vornherein unrealistisch.

In Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsverbänden wurden die wichtigsten Bereiche staatlicher Regulierung ermittelt. Zu den klassischen Bereichen zählen die Arbeitssicherheit oder das Umwelt- und das Baurecht. Andere Bereiche – wie die Mehrwertsteuer und die AHV – betreffen eher die öffentlichen Finanzen und die Sozialversicherungen. Diese fallen zwar nicht unter die strikte Definition von Regulierung, sie sind jedoch für die Unternehmen mit einer Belastung verbunden. Aus pragmatischen Gründen wurden sie deshalb auch mit einbezogen.

Der Bundesrat beschloss, eine interdepartementale Arbeitsgruppe zu schaffen, in der elf Bundesämter vertreten waren. Eine ihrer ersten Aufgaben bestand darin, eine einheitliche Methode für alle Untersuchungsbereiche auszuarbeiten. Ziel war nicht nur die Kostenschätzung, sondern auch mögliche Verbesserungen der Regulierung oder ihrer Anwendung zu identifizieren.

Um das vorhandene Fachwissen optimal zu nutzen, übernahmen die für die ausgewählten Bereiche zuständigen Ämter die Leitung der Arbeiten. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) war für die Gesamtkoordination des Projekts verantwortlich. Das KMU-Forum, eine ausserparlamentarische Expertenkommission bestehend aus Unternehmerinnen und Unternehmern, verfolgte und begleitete die Arbeiten.

 

Wie misst man Regulierungskosten?


Die angewandte Methode stellt einen eigentlichen «Regulierungs-Checkup» dar. Sie stützt sich auf frühere Arbeiten, die in den Niederlanden lanciert und anschliessend von einem europäischen Netzwerk von Spezialisten für die Messung der administrativen Belastung übernommen wurden (Standard Cost Model Network). Die entsprechenden Erkenntnisse wurden später unter der Leitung der deutschen Bertelsmann-Stiftung weiterentwickelt. Als zusätzliche Grundlage dienten die in der Schweiz mit den Instrumenten der Regulierungsanalyse gesammelten Erfahrungen.

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Kostenschätzung


Zur Kostenschätzung waren zuerst die wichtigsten Handlungspflichten der Unternehmen auf Basis der bestehenden gesetz­lichen Vorschriften zu ermitteln. Diese ­wurden anschliessend in Gruppen zusammengefasst, um die in den Unternehmen verwendeten Verfahren zur Einhaltung der Gesetzgebung möglichst realitätsnah abzubilden. Dieser Schritt war teilweise relativ einfach, so zum Beispiel bei der Messung der Kosten im Zusammenhang mit der Übermittlung der notwendigen Daten für die Beschäftigungsstatistik. Dafür musste lediglich der Zeitaufwand für die Datensammlung sowie das Ausfüllen und Versenden des Formulars beim Unternehmen erhoben werden. Komplizierter gestaltete sich die Sache etwa bei der Berechnung der Kosten für die Anpassung eines Gebäudes an die Brandschutznormen. Manchmal ist der aufgrund einer Regulierung erforderliche Prozess auch im Produktionssystem des Unternehmens integriert. Legt der Staat beispielsweise Grenzwerte für die Schadstoffkonzentration im Abwasser fest, kann das Unternehmen diese Vorgabe mithilfe verschiedener Technologien erfüllen. In diesem Fall muss der Anteil der Produktionskosten isoliert werden, der ausschliesslich auf die Regulierung zurückzuführen ist.

Da die Kostenstruktur in den verschiedenen Unternehmenskategorien nicht dieselbe ist, waren zudem «Segmentierungen» vorzunehmen. So wurden beispielsweise die grossen Unternehmen von den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) getrennt betrachtet. In einem nächsten Schritt ging es darum, Daten zur Anzahl der Fälle zu erhalten. In der Regel wurden diese Daten Statistiken entnommen. Experten- und Unternehmensbefragungen dienten schliesslich dazu, Einheitskosten zu schätzen.

Bevor diese Kosten mit der Zahl der betroffenen Unternehmen multipliziert werden, sind noch die «Sowieso-Kosten» abzuziehen. Dies sind Kosten für Tätigkeiten, welche die Unternehmen auch ohne Regulierung ausführen würden. Daraus resultieren die realen Gesamtkosten jeder Regulierung.

Eruieren der Potenziale zur Vereinfachung und Kostenreduktion


Nach der Kostenschätzung galt es, die durch die Regulierung verursachten Probleme und die Verbesserungspotenziale zu eruieren. Dazu standen Interviews mit Experten und Unternehmensverantwortlichen sowie verschiedene weitere Quellen zur Verfügung. Wichtig war hier vor allem, das Reduktionspotenzial und die unabdingbaren Kosten der Regulierungspflicht sauber voneinander zu trennen. Zuerst wurden Verbesserungsvorschläge gesammelt, die anschliessend in Workshops mit Vertreterinnen und Vertretern aus verschiedenen Bereichen (Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Bund usw.) anhand vorgegebener Kriterien geprüft wurden.

Jährliche Kosten von zehn Milliarden Franken


Eine solch detaillierte Schätzung der Kosten, die der Wirtschaft durch die wichtigsten Regulierungen entstehen, wurde in der Schweiz erstmals durchgeführt. Die höchsten Kosten (über 1 Mrd. Franken pro Jahr) liegen in jenen Bereichen, welche die meisten Unternehmen betreffen: die Mehrwertsteuer, das Rechnungslegungs- und Revisions(aufsichts)-recht, das Baurecht, das Umweltrecht sowie die Arbeitssicherheit (siehe Tabelle 1). Andere Bereiche verursachen überraschend tiefe Kosten, so zum Beispiel die Statistik mit lediglich 7 Mio. Franken.

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Insgesamt betragen die für die ausge­wählten Bereiche geschätzten Kosten rund 10 Mrd. Franken pro Jahr, was 1,7% des BIP entspricht. Isoliert betrachtet sagen diese Zahlen allerdings nichts über die Belastung durch die Regulierung aus, da keine vergleichbaren Zahlen zu deren Nutzen vorliegen. Der Umfang des Nutzens dürfte jedoch mindestens so hoch sein. Verfügbare branchenspezifische Untersuchungen – z.B. im Bereich der Berufsbildung – deuten zumindest darauf hin.

Ein Strauss von 32 Massnahmen


Um die ermittelten Kosten zu erörtern und nach Reduktionsmöglichkeiten zu suchen, fanden für jeden Bereich gesonderte Workshops statt. In Zusammenarbeit mit den Wirtschaftspartnern wurden dabei 32 Massnahmen identifiziert. Einige davon bergen ein grosses Kostenreduktionspotenzial:

  • Einheitssatz und Beseitigung der Ausnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer: Diese Massnahme hat der Nationalrat Ende 2011 abgelehnt. Die neuen Schätzungen bestätigen allerdings das sehr grosse Potenzial dieser Massnahme; es wird auf mehrere 100 Mio. Franken pro Jahr beziffert.
  • Harmonisierung im Baurecht: Dass diese Massnahme eine deutliche Reduktion der Kosten für die Unternehmen bewirken dürfte, geht aus einer vertieften Studie hervor, die in Zusammenarbeit mit den wichtigsten betroffenen Partnern durchgeführt wurde. Da dieser Bereich in die Zuständigkeit der Kantone und Gemeinden fällt, kann der Bund gemeinsam mit den Kantonen eine «Musterstruktur» für die Baugesetze vorschlagen. Die Kantone und Gemeinden können sich daran orientieren, um die Regulierungskosten zu senken.


Andere Massnahmen bieten ein geringeres Potenzial:

  • Aufhebung der Pflicht für die Unternehmen zur Archivierung der Veranlagungsverfügungen beim Import und Export: Diese Informationen werden bereits bei der Zollverwaltung gespeichert.
  • Flexiblere Ausgestaltung des Sanitätskonzepts im Dienstleistungsbereich: Damit würden sich die Anforderungen an Unternehmen ohne besondere Gefährdungen reduzieren lassen;
  • Abschaffung des AHV/IV-Versicherungsausweises (siehe Kasten 2).

Erkenntnisse aus dem Projekt


Alle Bereiche wurden mit der gleichen Methode analysiert. Um brauchbare Zahlen zu erhalten, musste der Ansatz auf jeden einzelnen Bereich speziell zugeschnitten werden. Da man in einzelnen Bereichen eine grosse Vielfalt unterschiedlicher Situationen antraf, war es teilweise notwendig, Projektionen auf der Basis von Standardfällen vorzunehmen. In jedem Fall lassen sich aber mit dem erworbenen Wissen die Auswirkungen von neuen Regulierungen auf die Wirtschaft künftig besser abschätzen.

Das Projekt hat zudem gezeigt, dass die Prozesse in den Unternehmen oft daraus resultieren, dass verschiedene Regulierungen zusammenwirken. Das Obligationenrecht listet beispielsweise mehrere Anforderungen an die Buchhaltung auf, die auch für die Steuerbehörde (sowie für das Unternehmen selbst) nützlich sind. In diesem Fall ist es sinnlos, die Rechnungslegungsnormen einzig im Obligationenrecht zu vereinfachen, wenn sie im Steuerrecht weiterhin gelten. Hier ist ein integrierter und unternehmensbezogener Ansatz notwendig.

Die Grenze zwischen Obligatorischem und Freiwilligem ist manchmal unscharf. Einem KMU sind unter Umständen nicht alle juristischen Feinheiten der geltenden Regulierungen bekannt, und es muss das mit der Regulierung verbundene Risiko entsprechend steuern. Ein KMU führt somit manchmal gewisse Tätigkeiten aus, die nicht obligatorisch sind, oder nützt vorhandene Vereinfachungsmöglichkeiten nicht, während es andere Aufgaben nicht vollständig erfüllt. Auch Normen oder Empfehlungen, die keine Rechtskraft haben, spielen in die Tätigkeiten der Unternehmen hinein.

Die Unterschiede zwischen Kantonen und Gemeinden hatten bei der Konzeption des Projekts Schwierigkeiten bereitet. Sie stellten sich jedoch häufig als weniger bedeutend heraus als anfänglich vermutet. So liessen sich die Kosten in den meisten Bereichen für die gesamte Schweiz messen, ohne dass eine separate Schätzung nach Kantonen erforderlich war.

Diese Kostenschätzung soll dazu dienen, die bestehenden Regelungen dank eines besseren Verständnisses ihrer Struktur zu optimieren, und nicht diese massiv abzubauen. In diesem Sinne soll dieses Projekt auch die breitere Anwendung von Instrumenten wie der Kosten-Nutzen-Analyse fördern.

Abgesehen von einzelnen Ausnahmen ist denn auch nicht eine bestimmte Vorschrift problematisch, sondern die Summe aller Vorschriften. Aus diesem Grund darf keine Möglichkeit ausser Acht gelassen werden: Alle Vereinfachungen, egal in welchem Ausmass, stärken die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.

Kontrolle der Regulierungskosten – eine Daueraufgabe


Die Regulierungsfolgenabschätzung wie auch die administrative Vereinfachung stellen für den Bund permanente Aufgaben dar. 2006 legte der Bundesrat über 100 Vereinfachungsmassnahmen vor; 2011 kamen 20 weitere hinzu. Bis 2015 ist ein neuer Bericht über die administrative Entlastung geplant, der ebenfalls zusätzliche Massnahmen enthalten soll.

Darüber hinaus gibt es bereits eine Reihe von dauerhaften Instrumenten, die in die gleiche Richtung zielen. So werden beispielsweise sämtliche Gesetze und Verordnungen im Rahmen der Regulierungsfolgenabschätzung auf ihre wirtschaftlichen Folgen hin untersucht. Zahlreiche Gesetze enthalten Evaluationsklauseln, gemäss denen nachträglich überprüft werden soll, ob sie das angestrebte Ziel auf effiziente Weise erreichen. Die Wirtschaftsverbände werden bei bedeutenden Revisionen von Gesetzen und Verordnungen systematisch konsultiert und können dazu Stellung nehmen. Dadurch können ihre Mitglieder die Vorschriften in der Folge einfacher anwenden. Im Übrigen gibt es Kommissionen, die auf die Prüfung von Regulierungen spezialisiert sind. Dazu gehören beispielsweise das KMU-Forum, das Gesetzesvorlagen prüft und Vorschläge zur administrativen Entlastung formuliert, oder Fachkommissionen wie das MWST-Konsultativgremium. Ebenfalls zu erwähnen ist die E-Government-Strategie des Bundes, die zahlreiche Projekte zur Vereinfachung der administrativen Formalitäten für die Unter­nehmen umfasst. Nur dank all dieser In­strumente ist es überhaupt möglich, ein Regulierungssystem dieses Umfangs effizient und dynamisch zu verwalten.

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Zitiervorschlag: Eloi Fellay (2014). Die Schweizer Regulierung auf dem Prüfstand. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.

Ein Beispiel für Vereinfachungen im Bereich Sozialversicherungen

Im Bereich der Ersten Säule wurden 13 Handlungspflichten untersucht, die insgesamt mit schätzungsweise 453 Mio. Franken zu Buche schlagen. Eine dieser Handlungspflichten ist die Meldung neuer Angestellter bei der AHV/IV-Ausgleichskasse, die Kosten von rund 7,6 Mio. Franken jährlich verursacht.

Die Meldung kann entweder per Post oder über das elektronische System Partnerweb (Einzel- oder Listenmeldung) erfolgen. Der Zeitaufwand für den Postweg wurde mit 11 Minuten veranschlagt, während die Einzel­meldung über Partnerweb 4 Minuten und die 3 Minuten beansprucht. Bei einem Stundenansatz von 56 Franken (Erledigung der Arbeiten im Unternehmen) oder 110 Franken (Treuhänder) und der Fallzahl von z.B. 859 000 über Partnerweb (wovon 8% über Treuhänder) kommt man auf den erwähnten Betrag von 7,6 Mio. Franken.

Diese Kosten könnten vermieden werden, wenn die Arbeitgeber nicht mehr verpflichtet wären, ihre neuen Angestellten unter dem Jahr bei der Ausgleichskasse anzumelden und wenn der AHV/IV-Ausweis abgeschafft würde. Diese Verfahren sind überflüssig:

  • Die AHV-Versichertennummer ist heute auf der obligatorischen Krankenversicherungskarte vermerkt.
  • Die Eintritte und Austritte könnten im Rahmen der ordentlichen Lohnmeldung erfolgen. Die Umsetzung dieser Änderung müsste allerdings mit der Bekämpfung von Schwarzarbeit – insbesondere für Temporärangestellte – koordiniert werden; zudem wären die grenzüberschreitenden Situationen zu berücksichtigen.


Für die Arbeitgeber ergäben sich daraus Einsparungen von rund 7 Mio. Franken; hinzu kämen Einsparungen von 2 Mio. Franken bei den Ausgleichskassen.