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Haben sich die Eigenschaften konjunktureller Schwankungen geändert?

Die längere Periode einer relativ stabilen Wirtschaftsentwicklung seit Mitte der 1980er-Jahre, die sogenannte Great Moderation, hatte unter vielen Ökonomen ­Erwartungen genährt, dass grosse Konjunkturausschläge der Vergangenheit angehörten. Die ­Finanzkrise von 2008/09 und die seither instabile weltweite Konjunkturentwicklung hat diese Sichtweise indes als zu optimistisch entlarvt. Somit stellen sich wieder vermehrt Fragen, ob und vor allem wie sich Konjunktur­zyklen über die Zeit verändern. ­Hierzu lassen sich verschiedene Kriterien heranziehen, etwa die Zyklenlänge oder das – gerade für eine kleine offene Volkswirtschaft wie die Schweiz wichtige – Ausmass der konjunkturellen ­Synchronisierung mit anderen Ländern.

Haben sich die Eigenschaften konjunktureller Schwankungen geändert?

Im Verlauf der Zeit hat sich die Definition von konjunkturellen Schwankungen gewandelt. Ein allgemein anerkanntes Konzept existiert nicht. Während die traditionelle Vorstellung von sich überlagernden Zyklen unterschiedlicher Länge ausgeht, sprechen moderne Ökonomen eher von «Fluktuationen» als von Zyklen. Die Länge des Konjukturzyklus ist ein wichtiges Merkmal, wobei man sich die Zykluslänge nicht als fix, sondern zeitvariierend vorstellen muss. Der Ökonom Ragnar Frisch hat in den 1930er-Jahren dieses Phänomen mit der Bewegung eines Pendels beschrieben, das von erratischen Schocks angetrieben wird.[1] Folgt man der Zyklendefinition des NBER,[2] dann betrug die durchschnittliche Länge eines US-Konjunkturzyklus – jeweils als Abstand zwischen den oberen Wendepunkten gemessen – in der Periode 1945–2009 69 bis 70 Monate. Der kürzeste Zyklus (Januar 1980–Juli 1981) dauerte 18 Monate und der längste (Juli 1990–März 2001) 128 Monate.

Wie steht es mit der Länge des ­Konjunkturzyklus der Schweiz?


Vergleicht man die Veränderung der Varianzanteile von Juglar-Zyklen (7 bis 10 Jahre) und Kitchin-Zyklen (3 bis 5 Jahre) an der ­zyklischen Komponente des realen Brutto­inlandprodukts (BIP) für eine Reihe von OECD-Ländern mit der Schweiz (Zeitraum: 1970–2012), fällt zunächst auf, dass die Varianzanteile sehr stark über die 27 Länder im Datensatz[3] streuen. Man kann also sicher nicht von einem deutlichen gemeinsamen Zyklus in diesem Zeitraum sprechen. Der ­Interquartilsabstand schwankt um 25%; ein offensichtlicher gemeinsamer Trend ist nicht zu erkennen (siehe Grafik 1).[4]

201403_10D_Grafik01.eps[1]

Das Ergebnis für die Schweiz zeigt, dass sich die zyklische Struktur bis auf wenige Jahre deutlich von den anderen OECD-Ländern unterscheidet. Vor 1995 liegt der Varianzanteil des Juglar-Zyklus eher im unteren Bereich der Verteilung (bis auf die Jahre 1978, 1979 und 1980), während er von 1996 bis 2008 deutlich über dem oberen Quartil liegt. Der Varianzanteil des Kitchin-Zyklus zeigt einen spiegelverkehrten Verlauf über die Zeit. Anders ausgedrückt, hat sich die Länge des Schweizer Konjukturzyklus über die Zeit verändert: Der 7- bis 10-jährige Zyklus ist vor 1995 weniger wichtig für die zyklische Struktur des Schweizer BIP als danach. Der Varianzanteil beginnt ab 1985 zu steigen, was zu spät scheint, um das Phänomen mit der von Kehoe und Prescott (2002) identifizierten «Grossen Depression» in der Periode 1974–2000 in Verbindung zu bringen. Seit 2008 scheint der lange Zyklus wieder an Bedeutung verloren zu haben und der kurze Zyklus zu dominieren, auch im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern, was sich mit der relativ raschen Erholung aus der aktuellen Krise erklären lässt.

Wie synchron verlaufen die Zyklen?


Die Natur anderer wichtiger empirischer Regelmässigkeiten konjunktureller Schwankungen hat sich ebenfalls geändert. Für eine kleine offene Volkswirtschaft wie die Schweiz sind der internationale Konjunkturzusammenhang, der die aussenwirtschaftliche Verflechtung widerspiegelt, und die damit einhergehende potenzielle Synchronisierung von konjunkturellen Schwankungen wichtig: Während der Zusammenhang etwas über die Stärke der internationalen Verflechtung sagt, misst die Synchronisierung das Ausmass, in dem obere und untere Wendepunkte des ­Zyklus zur gleichen Zeit erreicht werden.

Ein Vergleich dieser Masse für die drei grossen Nachbarländer und die USA in den Phasen 1922–1939, 1960–1980 und 1980–2000 zeigt, dass der Zusammenhang nicht besonders stark ist und eher abgenommen hat; die Ausnahme bildet Deutschland. Die Synchronisierung mit dem französischen Konjunkturzyklus hat sich über das 20. Jahrhundert hinweg verstärkt, während der Gleichlauf mit dem deutschen Zyklus ungefähr gleich geblieben ist. Die Synchronisierung mit dem italienischen Zyklus und dem US-Zyklus ist am schwächsten und hat bis 1980 abgenommen, bevor sie in der Periode 1980–2000 wieder leicht angestiegen ist.[5]

Die relativ hohe Synchronisierung in der Periode 1922–1939 lässt sich sicherlich damit erklären, dass alle Länder von der Grossen Depression betroffen waren. Es gibt aber trotzdem Unterschiede bezüglich des Ausmasses des Konjunktureinbruchs sowie der ergriffenen wirtschaftspolitischen Massnahmen. So blieben Frankreich und die Schweiz – zusammen mit den anderen Goldblockländern – auf dem Goldstandard, was die Erholung aus der Depression, die international 1933 begann, bis 1936 verzögerte. Den Rückgang des Zusammenhangs ist zurückzuführen auf die Unterschiede bezüglich der geografischen Diversifikation der Schweizer Exporte sowie auf den Anstieg der Spezialisierung der Wirtschaft, hervorgerufen durch die zunehmende internationale Arbeits­teilung.[6]

Geringere Volatilität vor der Finanzkrise: Reiner Zufall?


Eine weitere bedeutende Eigenschaft des Konjunkturzyklus ist die Volatilität, d. h. die Stärke der zyklischen Bewegung. Über das ganze 20. Jahrhundert hinweg betrachtet, nimmt die Volatilität der Wachstumsraten des Schweizer BIP deutlich ab.[7] Die Periode von etwa der Mitte der 1980er-Jahre bis zum Beginn der Finanzkrise wird als Great Moderation bezeichnet. In diesem Zeitraum kam es zu einem Rückgang der Volatilität sowohl der Inflation als auch der Outputlücke.

In einer Rede vor der Eastern Economics Association am 20. Februar 2004 hat der spätere Chef des Federal Reserve Board (Fed), Ben Bernanke, drei mögliche Erklärungen für den Rückgang der Volatilität genannt:

  • Strukturwandel, wie sich ändernde Rahmenbedingungen oder technischer Fortschritt;
  • verbesserte makroökonomische Politik, insbesondere Geldpolitik;
  • Glück: kleinere und weniger häufige ökonomische Schocks in dieser Periode.


Als damaliger Gouverneur im Fed verwirft Ben Bernanke in seiner Rede verständlicherweise die Glückshypothese und führt die Great Moderation auf verbesserte Geldpolitik zurück. Für den Rückgang der Inflationsvolatilität besteht in der Literatur in der Tat ein Konsens darüber, was die Bedeutung der Geldpolitik anbelangt. Der Rückgang der Volatilität der Outputlücke lässt sich hingegen offenbar eher mit «Glück» erklären.

  1. Eine Übersicht zu Theorie und Geschichte konjunktureller Schwankungen findet sich in Zarnowitz (1992). []
  2. Internet: www.nber.org/cycles/cyclesmain.html. []
  3. Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, ­Irland, Island, Israel, Italien, Japan, Korea, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Grossbritannien, USA. Das Auswahlkriterium für die untersuchten Länder ist die Datenverfügbarkeit ab 1970. []
  4. Für eine Erläuterung der Methode und weiterführende Literatur siehe Anhang A.1.3 zu Müller und Woitek (2012). []
  5. Müller und Woitek (2012), S. 143–145, 158–160. []
  6. Müller und Woitek (2012), S. 160. []
  7. Müller und Woitek (2012), S. 133. []

Literaturverzeichnis

  • Kehoe, T. J. und Prescott, E. C. (2002): Great Depressions of the 20th Century. Review of Economic Dynamics 5, S. 1–18.
  • Müller, M. und Woitek, U. (2012): Wohlstand, Wachstum und Konjunktur. In: P. Halbeisen, M. Müller, und B. Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Kap. 1.1, S. 91–222, Basel: Schwabe Verlag.
  • Zarnowitz, V. (1992): Business Cycles. Theory, History, Indicators, and Forecasting. Chicago, London: University of Chicago Press.

Bibliographie

  • Kehoe, T. J. und Prescott, E. C. (2002): Great Depressions of the 20th Century. Review of Economic Dynamics 5, S. 1–18.
  • Müller, M. und Woitek, U. (2012): Wohlstand, Wachstum und Konjunktur. In: P. Halbeisen, M. Müller, und B. Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Kap. 1.1, S. 91–222, Basel: Schwabe Verlag.
  • Zarnowitz, V. (1992): Business Cycles. Theory, History, Indicators, and Forecasting. Chicago, London: University of Chicago Press.

Zitiervorschlag: Ulrich Woitek (2014). Haben sich die Eigenschaften konjunktureller Schwankungen geändert. Die Volkswirtschaft, 01. März.