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Der Mindestlohn – ein umstrittenes Thema

Die Auswirkung eines Mindest­lohnes auf die Beschäftigung ist eines der kontroversesten Themen in der ökonomischen Literatur. Die Studien sind seit vielen Jahrzehnten sehr umfangreich. Bis in die 1990er-Jahre lag der Schwerpunkt bei negativen Beschäftigungseffekten. Seither sind auch zahlreiche Studien erschienen, die keine negativen Effekte konstatieren. Angesichts der vorhandenen Ergebnisse versuchten Ökonomen das scheinbare Paradox zu verstehen, dass Mindestlohn und Beschäftigung nicht unbedingt zusammenhängen.

Der Mindestlohn – ein umstrittenes Thema

In der Literatur über den Mindestlohn gehört der Artikel von Brown, Gilroy und Kohen (1982) zu den am häufigsten zitierten Beiträgen. In diesem Artikel fassten die Autoren die Ergebnisse einer Kommission zusammen, welche von der Regierung der USA beauftragt worden war, die Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Beschäftigung zu untersuchen. Auf der Grundlage der Analysen in einem 250-seitigen Bericht mit sechs Anhängen gelangten die Autoren zum Schluss, dass bei Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren eine Erhöhung des Mindestlohns um 10% einen Rückgang der Beschäftigung um 1,5% zur Folge hat. Bei den 20- bis 24-jährigen Erwerbstätigen wurde diese Auswirkung als geringer eingestuft, aber ebenfalls als negativ beurteilt. Bei den übrigen Erwerbstätigen sind die Auswirkungen nach Auffassung der Autoren ungewiss. Während langer Zeit dominierten diese Schlussfolgerungen in der ökonomischen Fachliteratur. Doch weitere Forschungsarbeiten, die auf experimentelleren Ansätzen und räumlichen Vergleichen beruhten, stellten diese Resultate infrage.

Die bekannteste Forschungsarbeit, ebenso häufig zitiert wie der erwähnte Artikel, stammt von Card und Krueger (1994). Sie beruht auf einer nach naturwissenschaftlichen Kriterien durchgeführten Studie im Bereich der Fast-Food-Gastronomie. Der Bundesstaat New Jersey diente als Behandlungsgruppe und der Bundesstaat Pennsylvania als Kontrollgruppe. Gemäss dieser Studie hat eine Erhöhung des Mindestlohns keinen Einfluss auf das Beschäftigungsniveau. Dieser Artikel löste unzählige Kontroversen aus. Vor allem ein Beitrag von Neumark und Wascher (2000) kritisierte die angewandte Analysemethode.

Um diese Kontroverse zu überwinden, verwendete eine dritte Strömung die sogenannte Meta-Analyse. Diese Methode besteht darin, die Resultate einer möglichst grossen Zahl von empirischen Forschungsarbeiten zu vereinen, um daraus einen dominierenden Effekt abzuleiten. Eine der bekanntesten Analysen mit diesem Ansatz ist jene von Doucouliagos und Stanley (2009). Sie beruht auf 64 Studien, welche zwischen 1972 und 2007 durchgeführt wurden. Aus ­dieser Analyse geht hervor, dass ein Mindestlohn das Beschäftigungsniveau nur sehr geringfügig beeinflusst. Es besteht praktisch eine Inelastizität (–0,01).1 Dieser Schluss erscheint paradox und untermauert die Resultate von Card und Krueger (siehe Grafik 1).


Ein nur scheinbares Paradox

Es lassen sich zahlreiche Ansätze anführen, um zu erklären, weshalb ein Mindestlohn nicht zwangsläufig negative Auswirkungen auf die Beschäftigung hat. Der erste Ansatz hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich die Arbeitgeber an die Erhöhung des Mindestlohns oder an dessen Einführung anpassen können, indem sie die Anzahl Arbeitsstunden pro Person ändern, statt Entlassungen vorzunehmen. Dies gilt insbesondere in Ländern, in denen die Fixkosten einer Anstellung hoch sind. Ebenso können die Arbeitgeber Lohnerhöhungen durch eine entsprechende Senkung der Lohnnebenleistungen kompensieren, oder sie können ihre Anstrengungen im Bereich der Berufsbildung abbauen, um Kosten zu senken. Mit solchen Anpassungen wird kurzfristig ein Rückgang der Beschäftigung verhindert. Doch diese Massnahmen haben unter Umständen längerfristige Auswirkungen, deren empirische Erhebung schwierig ist.

Eine andere Form der Anpassung kann für die Unternehmen darin bestehen, dass sie die Zusammensetzung ihres Personals ändern: Sie können schrittweise besser qualifizierte Arbeitskräfte anstellen, dies jedoch in geringerer Zahl, als wenn sie weniger gut qualifizierte Mitarbeitende angestellt hätten. Die Unternehmen können sich auch dazu entschliessen, die höheren Kosten im Zusammenhang mit einem Mindestlohn auf die Preise der von ihnen produzierten Güter umzulegen. Je nach Arbeitsintensität im jeweiligen untersuchten Produktionssektor und abhängig vom Anteil der gering qualifizierten Arbeitskräfte sind die Auswirkungen unterschiedlich. Im Weiteren können die ­Arbeitgeber auch versuchen, auf die Einführung eines Mindestlohns oder auf dessen ­Erhöhung mit einer Steigerung ihrer Produktionseffizienz, mit einer Senkung der Löhne ihrer bestbezahlten Angestellten oder mit einer Herabsetzung ihrer Gewinne zu reagieren. Alle diese Strategien geben den Unternehmen die Möglichkeit, die Mehrkosten zu kompensieren, die mit einer Erhöhung des Mindestlohns verbunden sind, und dessen Auswirkungen auf die Beschäftigung einzuschränken.

Auch die Angestellten können dazu beitragen, die Belastung für ihren Arbeitgeber zu verringern. Dies kann durch eine Senkung der Fluktuationsrate des Personals erfolgen, die in gewissen Branchen hohe Kosten verursacht. Das ist vor allem bei Beschäftigten mit tiefen Löhnen der Fall, die wegen der wenig attrak­tiven Arbeitsbedingungen verhältnismässig häufig die Stelle wechseln. Dies ist eine der Erkenntnisse aus der Theorie der Leistungslöhne. Sie hat dazu beigetragen, die mechanische Beziehung zwischen Lohn und Beschäftigung, wie sie im Rahmen des neoklassischen An­satzes vorherrschte, in einem neuen Licht zu ­betrachten. Auf dieser Grundlage könnte der Anstieg der Kosten im Zusammenhang mit ­einer Erhöhung des Mindestlohns durch ­tiefere Kosten der Personalfluktuation in Kombination mit Anreizen für die Unter­nehmen zum Ausbau der Weiterbildung ihres Personals und mit einer Steigerung der ­Arbeitsproduktivität kompensiert werden.

Schliesslich wurde auf makroökonomischer Ebene im Rahmen verschiedener Studien geltend gemacht, mit einer Erhöhung des Mindestlohns lasse sich die Gesamtnachfrage steigern. Der Grund dafür liege darin, dass die am geringsten entlöhnten Angestellten tendenziell ihr gesamtes Einkommen ausgeben, während die am bestverdienenden Beschäftigten einen Teil ihres Erwerbseinkommens sparen. Ausserdem könne die Tatsache, dass die tiefsten Löhne zu nahe bei den Grenzwerten der Sozialhilfe liegen, die Wirksamkeit von Massnahmen für die berufliche Wiedereingliederung von Arbeitslosen und ausgesteuerten Personen einschränken. Vor diesem Hintergrund kann die Einführung eines Mindestlohns dazu beitragen, dass eine Erwerbstätigkeit attraktiver ist als der Bezug von Sozialleistungen. Dies wiederum ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und sozialer Randständigkeit.


Mögliche politische Strategien

Verschiedene politische Handlungskonzepte kommen infrage, um Tieflöhne zu bekämpfen. Die Festlegung einer Lohnuntergrenze ist nur eine Massnahme von vielen. Möglich sind auch eine Umverteilung über die Besteuerung (Steuerbefreiung für die ­untersten Einkommen) oder reduzierte ­Sozialabgaben unterhalb eines bestimmten Schwellenwerts. Infrage kommt auch eine Politik mit Transferzahlungen, die beispielsweise darauf ausgerichtet ist, die tiefsten Einkommen mit Sozialhilfebeiträgen zu ergänzen. Diese Lösung birgt Chancen, aber auch Risiken. Auf der einen Seite entlastet eine Erwerbstätigkeit von Sozialhilfeempfängern den Staatshaushalt. Andererseits kann dies bis zu einem gewissen Grad wie eine Subvention von Wirtschaftszweigen mit einem hohen Anteil von Tieflohnstellen wirken.

Die häufigste Lösung für den Schutz der Arbeitnehmenden besteht in der Einführung eines Mindestlohns. Zu den zahlreichen Ländern, die auf diese Lösung setzen, gehören auch die USA und das Vereinigte Königreich, die für ihr liberales Wirtschaftssystem bekannt sind. Die jeweilige Praxis in den verschiedenen Ländern ist jedoch in mehreren Punkten sehr unterschiedlich. Dies gilt in erster Linie für den Anwendungsbereich und für die Höhe des Mindestlohns im Verhältnis zum Medianlohn:

In den USA und weiteren Ländern gilt der Mindestlohn für alle Erwerbstätigen. In Frankreich dagegen ist er erwerbstätigen Personen über 18 Jahren vorbehalten. In Belgien liegt die Altersuntergrenze bei 21 und in den Niederlanden bei 23 Jahren.

Bei der Höhe des Mindestlohns bestehen beträchtliche Unterschiede. 2012 entsprach der Mindestlohn in Frankreich knapp 62% des Medianlohns. In den Niederlanden und in Grossbritannien liegt dieser Wert bei 47% und in den USA und Japan bei 38%. Ein Bruttomindestlohn von 4000 Franken entspräche 66,9% des Medianlohns.


Geringer Einfluss auf Beschäftigung, aber ­indirekte Auswirkungen

Früher haben Ökonomen häufig geltend gemacht, mit einer Mindestlohnpolitik sei das Risiko einer höheren Arbeitslosigkeit verbunden, da sich das Arbeitsangebot erhöhe und die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften abnehme. Doch aus verschiedenen empirischen Studien, die in letzter Zeit zu dieser Frage durchgeführt wurden, geht klar hervor, dass diese Gefahr – mit Ausnahme der jungen Arbeitskräfte – nicht oder nur sehr eingeschränkt besteht. Selbst die OECD anerkennt heute, dass eine Mindestlohnpolitik, die an die Bedingungen in den einzelnen Ländern und an die verschiedenen demografischen Gruppen angepasst ist, keine negativen Auswirkungen hat, sondern dazu beiträgt, Ungleichheiten abzubauen und die Armut bis zu einem gewissen Grad zu lindern. Die OECD räumt auch ein, dass eine solche Politik ein wirksames Instrument für die berufliche Wiedereingliederung von arbeitslosen Personen sein kann. Letztlich hängen die Resultate von der Höhe des festgelegten Mindestlohns und vom davon betroffenen Teil der Erwerbsbevölkerung ab.


Höhe des Mindestlohnes ist relevant

Ein Mindestlohn von 4000 Franken könnte junge Menschen von einer nachobligato­rischen Ausbildung abhalten, die ihren beruf­lichen Werdegang ergänzen und ihr ­Arbeitslosigkeitsrisiko verringern würde. Dies könnte sich negativ auf das Wirtschaftswachstum der Schweiz auswirken, da ihr Wohlstand mehr denn je vom Humankapital abhängt, das sie generieren kann.

Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass der von der Initiative vorgesehene Mindestlohn eher hoch angesetzt ist und dass dieser gegebenenfalls auf die Erwerbsbevölkerung ab 20 Jahren beschränkt werden sollte. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass ein landesweiter Mindestlohn angesichts der Unterschiede, die innerhalb unseres Landes bestehen, zur Schaffung beträchtlicher kantonaler Disparitäten beitragen würde. So wurde beispielsweise 2010 im Tessin ein Medianlohn von 5076 Franken verzeichnet, während er in Zürich bei 6349 Franken lag. Wenn für die ganze Schweiz ein Mindestlohn von 4000 Franken festgelegt wird, könnte dies somit im Kanton Tessin viel grössere Auswirkungen haben als im Kanton Zürich. Dasselbe gilt für die verschiedenen Wirtschaftszweige. In einer Branche, die einen Medianlohn von 4000 Franken oder einen tieferen Wert aufweist, müsste nach der Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte der Löhne erhöht werden. Schliesslich könnte eine Mindestlohnpolitik dazu führen, dass die Gesamtarbeitsverträge (GAV) einen Teil ihrer Substanz oder sogar ihre Existenzberechtigung verlieren. Darunter könnte das Prinzip der Kollektivverhandlungen leiden, das mehr denn je eine Stärke der Schweizer Wirtschaft darstellt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wäre es zweifellos sinnvoller, in allen GAV Mindestlöhne einzuführen und den Geltungsbereich der GAV zu erweitern. Mit den flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr wurden bereits gewisse Fortschritte erzielt.


Prof. Dr. Yves Flückiger

Direktor des Observatoire universitaire de l’emploi (OUE), Universität Genf


Literatur

Brown Charles, Gilroy Curtis und Kohen ­Andrew (1982): The Effect of the Minimum Wage on Employment and Unemployment, in: Journal of Economic Literature, Jg. 20, Nr. 2, S. 487–528.

Card David (1992): Using Regional Variation in Wages to Measure the Effects of the Federal Minimum Wage, in: Industrial and Labor Relations Review, Jg. 46, Nr. 1, S. 22–37.

Card David und Krueger Alan (1994): ­Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New ­Jersey and Pennsylvania, in: American Economic Review, Jg. 48, Nr. 4, S. 772–793.

Doucouliagos Hristos und Stanley T. D. (2009): Publication Selection Bias in ­Minimum-Wage Research? A Meta-Regression Analysis, in: British Journal of Industrial Relations, Jg. 47, Nr. 2, S. 406–428.

Neumark David und Wascher William (2000): Minimum Wages and Employment: A Case Study of the Fast-Food Industry in New Jersey and Pennsylvania: Comment, in: American Economic Review, Jg. 90, Nr. 5, S. 1362–1396.


1 Eine Verdoppelung des Mindestlohns hätte einen Rückgang der Beschäftigung um 1% zur Folge.


Der Mindestlohn hat praktisch keine Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau, da die Unternehmer über zahlreiche Möglichkeiten verfügen, sich darauf einzustellen. Foto: Keystone


Zitiervorschlag: Yves Flueckiger (2014). Der Mindestlohn – ein umstrittenes Thema. Die Volkswirtschaft, 01. April.