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Multinationale vielstufige Wertschöpfungsketten: Management in Zeiten beschränkter Transparenz und Kontrolle

«Designed by Apple in California, Assembled in China»: Kaum ein anderes Produkt hat die Öffentlichkeit so sehr auf die Komplexität globaler Wertschöpfungsketten aufmerksam gemacht wie das iPhone. Am gesamten weltumspannenden Herstellungsprozess von den Rohstoffen über die Montage bis zur Belieferung des Einzelhandels mit fertig verpackten Produkten aus Tausenden von Einzelteilen ist Apple nicht beteiligt. Entsprechend hilflos agierte das Unternehmen im Foxconn-Skandal. Auch bei Schweizer Unternehmen liegt der Beschaffungsanteil an den Herstellungskosten in der Regel bei über 70%. Was bedeutet das für die Anforderungen an das Management?

Zwei Trends der letzten Dekaden haben die traditionelle Wertschöpfung grund­legend verändert: die wirtschaftliche Beschaffung aus nahezu jeder Gegend der Welt und die Rentabilitätssteigerungen durch die Fokussierung auf kleine Wertschöpfungs­abschnitte. Der erste Trend führte unter ­anderem zur heutigen Globalisierung der Wirtschaft, der zweite Trend zu stark ver­längerten Wertschöpfungsketten und der Vergrösserung der Arbeitsteiligkeit darin. Beide Trends befeuern sich gegenseitig.

Die Vereinfachung des weltweiten Handels durch nationale und supranationale Gesetze und Abkommen, die Fortschritte im Gütertransport und -verkehr sowie die Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnik werden oft als Wegbereiter der wirtschaftlichen Globalisierung angesehen. Der globale Wettbewerb drängt die Unternehmen, die Vorteile anderer Länder bei Kosten, Qualität und Leistungsverfügbarkeit durch Beschaffung oder Produktionsverlagerung für sich zu nutzen. Begriffe wie Low Cost Country Sourcing und Offshoring stehen stellvertretend hierfür. Viele nationale Gesetze und lokale Praktiken unterscheiden sich stark voneinander und erfordern von den Handelspartnern besondere Aufmerksamkeit und zusätzliche Kompetenzen.

Immer komplexere und intransparentere Wertschöpfungsketten


Die Erfolgsstrategie der Fokussierung auf die eigenen Kernkompetenzen hat viele Unternehmen dazu veranlasst, einen Grossteil ihrer traditionellen Aktivitäten, die nicht ihren Kernkompetenzen zugeordnet werden, zu reorganisieren, zu veräussern oder gar einzustellen. Die Automobilhersteller beispielsweise haben ihre Aktivitäten in Bereichen wie Lenkung oder Bremse nahezu eingestellt und nutzen stattdessen die Leistungen ihrer Lieferanten. In der Chemie- und der Pharmaindustrie werden Basisstoffe nicht mehr von jedem Hersteller selbst, sondern nur noch von wenigen Spezialherstellern produziert. Stellvertretend für diese Strategie stehen Begriffe wie Outsourcing, Marktführerschaft und Downsizing.

In Branchen mit komplexen Gütern wurde im Zusammenhang mit der Verringerung der Wertschöpfungstiefe auch eine Strukturierung der Wertschöpfungskette umgesetzt. Viele Unternehmen beschaffen heute statt einzelner Teile oder Komponenten nur noch ganze Systeme, die von spezialisierten Lieferanten entwickelt und auch verantwortet werden.[1] Die verschiedenen Stufen (Tiers) werden entsprechend ihrer Distanz zum Endprodukthersteller benannt. Am Beispiel Automobil liefert der Tier-1 ein vollständiges Bremssystem an den Hersteller, bezieht aber selbst Subsysteme von Tier-2-Lieferanten, welche ihrerseits verschiedene Komponenten von Tier-3-Lieferanten beziehen.

Die Kombination dieser Trends hat zu einer drastischen Zunahme an Komplexität und zu weniger Transparenz in Wertschöpfungsketten geführt. Auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette können Produktionsstätten in unterschiedlichen Ländern beteiligt sein. Die Verbindung zwischen zwei Produktionsstätten in verschiedenen Ländern erfordert nicht selten die zusätzliche Mitwirkung von Händlern, Importeuren oder Exporteuren. An einer relativ einfachen Wertschöpfungskette, die aus drei Stufen mit jeweils 100 Direktlieferanten besteht, können so bis zu einer Million Unternehmen beteiligt sein.

Kontrollverlust über die Vorlieferanten


Dieser neuen Vielstufigkeit und Multi­nationalität in den Wertschöpfungsketten stehen alte Paradigmen der Kontrolle über die Herstellung von eigenen Produkten gegenüber. Die Beschaffungsstrategie der meisten Unternehmen baut traditionell darauf, dass Direktlieferanten volle Verantwortung für ihre Produkte und Praktiken tragen und sich an alle vertraglichen Vereinbarungen halten. Deshalb ist ein aktiver Zugriff auf vorgelagerte Wertschöpfungsstufen unnötig. Vorlieferanten stehen nur in Ausnahmefällen in direkter kommerzieller Beziehung zum Hersteller des Endproduktes. In der Regel sind sie diesem gänzlich unbekannt und werden von Direktlieferanten auch gerne geheim gehalten.

Immer öfter machen Unternehmen die Erfahrung, dass die Probleme in der Wertschöpfungskette insbesondere von Vorlieferanten verursacht werden.[2] Audi schätzt, dass 80% der Verfügbarkeitsprobleme in der Endmontage auf Vorlieferanten zurückzuführen sind. In der Bekleidungsindustrie stellen die Markenhersteller immer wieder fest, dass trotz Verträgen und Kontrolle Aufträge von ihren Lieferanten im Geheimen an andere Subunternehmen zu Billigkonditionen untervergeben werden. Auch der europaweite Pferdefleisch-Skandal wurde auf Entscheidungen bei Vorlieferanten zurückgeführt. Vorlieferanten können mächtige markt­beherrschende Positionen einnehmen und ihren Kunden die Konditionen diktieren.Heute erwarten Kunden von Markenherstellern, dass diese die Einhaltung ihrer ­Markenversprechen über die gesamte ­Wertschöpfungskette sicherstellen. Ob Produktqualität, Liefertreue oder soziale/ökologische Verantwortung – der Kunde interessiert sich nicht für die Struktur der Wertschöpfungskette, sondern nimmt den Markenhersteller in die Verantwortung für die Erfüllung seiner Versprechen. Für diesen ist die Situation gefährlich, denn sie stellt das Vertrauen in die Marke und damit den Markenwert infrage.

Ein Umdenken findet statt


Auch die zunehmende Ressourcenknappheit fordert strategische Massnahmen, um die Warenverfügbarkeit zukünftig sicherzustellen. China beherrscht beispielsweise den Markt für schwere Seltenerdmetalle, die für die Herstellung von Elektronikkomponenten zwingend erforderlich sind. Die Kakaobutterproduzenten kämpfen darum, dass die Belieferung ihrer Produktionsanlagen mit Kakaobohnen gewährleistet ist. Die kritischen Engpässe treten dabei vermehrt in den frühen Stufen der Wertschöpfung auf.

Die neue Vielstufigkeit und Multinationalität in den Wertschöpfungsketten fordert von den Unternehmen neue Praktiken, um die Kontrolle über die Herstellung ihrer Produkte zu bewahren. Unternehmen sind gefordert, kritische Beobachtung und aktive Einflussnahme auf Vorlieferanten auszuweiten. Das ehemalige Vertrauen, das die Direktlieferanten in der Regel von sich aus sicherstellten, ist beschädigt.Die aktive Einflussnahme auf Vorlieferanten war in Wissenschaft und Praxis bisher unbekannt. Die Unternehmen haben in der Regel bereits Probleme damit, die Verantwortung und das Mandat für das Vorlieferantenmanagement zu definieren. Aufgrund der fehlenden vertraglichen Bindung greifen viele Methoden des Einkaufs nicht. Die operativen Funktionen haben mit den Folgen der Lieferschwierigkeiten im eigenen Betrieb zu kämpfen.

Führende Unternehmen definieren die Einkäuferpositionen nun neu. Sie stellen das Wissen um die Wertschöpfungsketten über das traditionell wichtige Verhandlungs­geschick. Auditoren, Zertifizierungsorgani­sationen und freiwillige Nachhaltigkeitsinitiativen aus Industrie und Handel, welche sich auf die Wertschöpfungsketten fokussieren, boomen. Punktuell werden Unternehmen in vorgelagerten Wertschöpfungsstufen selbst aktiv.[3]

Vertreter aus Forschung und Lehre haben begonnen, Ansätze für diese neuen Herausforderungen in der Wirtschaft zu entwickeln. Aktuell existieren erst rudimentäre Konzepte für professionelles Vorlieferantenmanagement.[4] Auch die multinationale Dimension ist noch unzureichend verstanden. Doch es formieren sich dezidierte Gruppierungen aus führenden Akademikern und Praktikern, um praxisnahe Empfehlungen zu erarbeiten und fundierte Konzepte zu etablieren. Der Wettlauf um die Kontrolle über die vielstufigen, multinationalen Wertschöpfungsketten wird professioneller.

  1. Thomas Choi und Tom Linton (2011): Don’t Let Your ­Supply Chain Control Your Business, in: Harvard Business Review, Dezember 2011, S. 112–117. []
  2. Aleda V. Roth, Andy A. Tsay, Madeleine E. Pullman und John V. Gray (2008): Unraveling the Food Supply Chain. Strategic Insights from China and the 2007 Recalls, in: Journal of Supply Chain Management, Vol. 44, Nr. 1, S. 22–39. []
  3. Jörg H. Grimm, Joerg S. Hofstetter und Joseph Sarkis (2014): Critical Factors for Sub-Supplier Management. A Sustainable Food Supply Chains Perspective, in: International Journal of Production Economics, im Druck. []
  4. Carlos Mena, Andrew Humphries und Thomas Y. Choi (2013): Toward a Theory of Multi-Tier Supply Chain Management, in: Journal of Supply Chain Management, Vol. 49, Nr. 2, S. 58–77. []

Zitiervorschlag: Julia Hartmann, Joerg S. Hofstetter, (2014). Multinationale vielstufige Wertschöpfungsketten: Management in Zeiten beschränkter Transparenz und Kontrolle. Die Volkswirtschaft, 01. April.

Porträt der International Group on Sustainability in Value Chains

Die International Group on Sustainability in Value Chains begann ihre Arbeit vor drei Jahren, damals als virtuelle Gruppe der 40 führenden Forscher aus den Bereichen Wertschöpfungsketten-Management, inter­nationale Wirtschaft und Nachhaltigkeit. Der mittlerweile im Kanton Zürich etablierte ­Verein koordiniert den Austausch unter den teilnehmenden Forschern, unterstützt internationale Forschungsprojekte und organisiert spezifische Konferenzen. Im Zentrum der Arbeit steht der neutrale Austausch mit Industrie- und Handelsunternehmen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie weiteren Anspruchsgruppen. Ziel ist die rasche Erarbeitung von einfach anwendbaren, jedoch wissenschaftlich fundierten Ansätzen und Methoden zum Management von Vorlieferanten. Die Gruppe legt ein besonderes ­Augenmerk auf die Sicherstellung sozialer und ökologischer Standards in vielstufigen, multinationalen Lieferketten. Beide Co-Autoren sind Mitbegründer und Mitglieder des ­Vereinspräsidiums.