Nur rund die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmenden geniesst den Schutz eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV). Die meisten Schweizer GAV müssen sich im internationalen Vergleich punkto Leistungen zwar nicht verstecken. Aber leider gibt es viel zu wenige davon. Viele Arbeitgeber weigern sich, GAV abzuschliessen. So beispielsweise die Schweizer Filialen der internationalen Kleider- und Schuhdetailhandelsketten, welche notabene in Ländern mit strengeren Vorschriften GAV abgeschlossen haben. Andere Länder mit einer ähnlich tiefen GAV-Abdeckung haben wenigstens einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt.
Neue Arbeitsverhältnisse
Bis Anfang der 1990er-Jahre wurde der schwache Arbeitnehmerschutz durch eine tiefe Arbeitslosigkeit wenigstens teilweise kompensiert. Seither sind die Arbeitslosigkeit und der Druck auf die Arbeitnehmenden gestiegen. Atypische Arbeitsverhältnisse wie die Temporärarbeit nehmen zu. Die Arbeitgeber in den neuen, stark wachsenden Dienstleistungsbranchen (z. B. Callcenter, Kuriere, Kosmetikinstitute etc.) sind nicht oder nur sehr schlecht organisiert. Hier kann es deshalb auf absehbare Zeit keine GAV geben. Die Grossbetriebe haben viele Arbeitsplätze in andere Branchen ausgelagert (z. B. Reinigung, Gastronomie). Zahlreiche Firmen sind heute in ausländischem Besitz oder werden von ausländischen Führungskräften geführt, die mit der Schweizer Sozialpartnerschaft nicht vertraut sind. Eine Modernisierung des Arbeitnehmerschutzes ist notwendig.
Falsche Lohnentwicklung
Die Lohnentwicklung ist besorgniserregend. Die Gewerkschaften konnten zwar verhindern, dass die tiefen Löhne gegenüber den mittleren weiter in Rückstand gerieten. Doch auch in der Schweiz hat sich eine Lohnschere geöffnet. Insbesondere die Löhne der obersten 10% stiegen stärker als die übrigen Gehälter. Die Reallöhne der Arbeitnehmenden mit Lehre stagnierten hingegen von 2002 bis 2010. Diese Lohnschere ist weniger auf «Marktkräfte» zurückzuführen, sondern vielmehr die Folge von lohnpolitischen Entscheiden in den Unternehmen. Das zeigte auch die OECD im Rahmen der Studie «Divided We Stand». Die Individualisierung der Lohnpolitik (Bonus-Lohnsysteme u. a.) hat vor allem den Kadern genützt. Dazu kamen Auslagerungen von öffentlichen Betrieben, welche den Kadern eine massive Erhöhung ihrer Löhne ermöglichten. Weil weniger als die Hälfte der Beschäftigten durch Mindestlöhne geschützt sind, ist die Schweiz der Gefahr von Lohndruck besonders ausgesetzt. Ungelöst ist auch das Problem der Lohndiskriminierung von Frauen.
Gesamtarbeitsverträge als Königsweg
Der Königsweg für eine Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes sind GAV mit guten Mindestlöhnen. Dadurch sind die Löhne gegen Lohndruck und Missbräuche geschützt. Wenn es gute Mindeststandards mittels GAV gibt, ist die Lohndiskriminierung von Frauen wesentlich geringer, wie beispielsweise ein Vergleich der GAV-Branche Gastgewerbe mit der Detailhandelsbranche zeigt. GAV führen zu einer ausgeglicheneren Lohnverteilung. Wenn Löhne kollektiv verhandelt werden, kommen alle in den Genuss von Lohnerhöhungen. Bei einer individualisierten Lohnpolitik profitieren die Gutverdiener stärker. Das zeigt die ökonomische Forschung.
In der Schweiz legt der Staat den GAV durch strenge gesetzliche Bestimmungen Steine in den Weg, statt sie zu fördern. Kein Land in Europa hat so hohe Hürden für die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von GAV. Beispielsweise ist das «Arbeitgeberquorum» eine Schweizer Besonderheit. Zudem verteilt der Staat Milliardensubventionen (z. B. Landwirtschaft), ohne Auflagen zu den Arbeitsbedingungen zu machen. Das Arbeitgeberquorum muss abgeschafft werden, damit eine beschäftigungsmässige Minderheit von Kleinstfirmen die AVE nicht mehr blockieren kann. Wer staatliche Aufträge und Subventionen erhält, muss einer GAV-Verhandlungspflicht unterstellt sein. Für die Bereiche ohne GAV braucht es einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde.
Zitiervorschlag: Lampart, Daniel (2014). Modernisierung des Arbeitnehmerschutzes notwendig. Die Volkswirtschaft, 01. April.