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Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz – eine neue Herausforderung für viele Betriebe

Wesentliche Veränderungen ­haben in den letzten Jahrzehnten in der Arbeitswelt stattgefunden und zu verstärkt auftretenden ­Risiken in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz geführt. Diese Veränderungen ­haben neue psychosoziale Risiken evoziert. Arbeitsbedingte ­psychosoziale Risiken gelten als eine der grössten derzeitigen ­Herausforderungen im ­Zusammenhang mit Gesundheit und ­Sicherheit und sind mit ­Problemen am Arbeitsplatz wie zum Beispiel arbeitsbedingtem Stress, Belästigungen und ­Mobbing verbunden
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Der tief greifende Wandel unserer Wirtschaft von der klassischen Industrieproduktion hin zu einer immer stärkeren Ausrichtung auf den Dienstleistungssektor führt unausweichlich zu deutlichen Veränderungen im Bereich Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Lange standen vor allem technisch bedingte Risiken im Fokus der Öffentlichkeit. Auch heute noch sorgen sie für Auf­sehen, insbesondere wenn es um grössere ­Unfälle geht wie z.B. Explosionen in Produktions- oder Lagerhallen, Kontakt mit hochgiftigen Substanzen, Verletzungen bei der Benutzung von Maschinen oder Geräten sowie Stürze bei Arbeiten in der Höhe. In diesem Bereich wurden grosse und finanziell bedeutende Anstrengungen unternommen, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen und die Organisationsstrukturen anzupassen.

Grafik 1 zeigt, dass wir physische Risiken heute besser unter Kontrolle haben und dass diese zudem eine immer kleiner werdende Gruppe von Arbeitnehmenden betreffen. Diesen Erfolg verdanken wir dem unermüdlichen Einsatz mehrerer Generationen von Spezialistinnen und Spezialisten, nebst anderen vor allem den Mitarbeitenden der Arbeitsinspektorate. Diese positive Entwicklung darf allerdings nicht dazu verleiten, sich nun auf den Lorbeeren auszuruhen. Denn eine andere Risikokategorie rückt zunehmend in den Fokus, nämlich die der psychosozialen Risiken. Diese Risiken hängen mit Faktoren zusammen, die im ­Gegensatz zu Faktoren mit physischer ­Komponente als «weich» bezeichnet werden. Die Gründe für die zunehmende Bedeutung dieser Risiken sind vielfältig und das Thema an sich komplex. Klar zutage tritt jedoch der Zusammenhang mit dem starken Wandel der Arbeitswelt in den vergangenen ­Jahrzehnten: Die Globalisierung der Märkte und die spektakuläre Entwicklung der ­Kommunikationstechnologien haben die ­Rahmenbedingungen in zahlreichen Branchen nachhaltig verändert, insbesondere im Dienstleistungssektor. Flexibilität und Verfügbarkeit sind die neuen Schlagwörter. Sie eröffnen unserer Wirtschaft zwar neue Perspektiven, bringen gleichzeitig aber zusätzliche Risiken für die Gesundheit der Arbeitnehmenden mit sich. Denn auch mit der leistungsfähigsten Technologie bleiben wir als Menschen an körperliche und psychische Grenzen gebunden.

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Psychosoziale Risikofaktoren am Arbeitsplatz


Als psychosoziale Risikofaktoren am Arbeitsplatz gelten Faktoren im beruflichen Umfeld, welche die Leistung, die Zufriedenheit und die Motivation am Arbeitsplatz verringern und die psychische, aber auch die physische Gesundheit des Einzelnen beeinträchtigen können. Sie ergeben sich aus einer negativen Ausprägung von Aspekten der Arbeit, die sich auf die Arbeitsaufgaben, die
Arbeitsorganisation und die sozialen Verhältnisse beziehen. Beispiele können Leistungsdruck, ein geringer Entscheidungsspielraum, Mangel an Zeit, fehlende Abwechslung, Überbelastung oder Unter­forderung, Arbeitsplatzunsicherheit, mangelhafte Kommunikation oder fehlende ­Unterstützung durch Arbeitskollegen und -kolleginnen sowie Vorgesetzte sein. Psychosoziale Risiken stehen in Verbindung mit Problemen wie Stress, Burn-out, Frustration, Gewalt, Alkoholismus, Mobbing und Belästigung am Arbeitsplatz.

Lang andauernde Fehlbelastungen können zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Psychische Erkrankungen aufgrund psychosozialer Risikofaktoren sind dabei nur eine mögliche Folge. Ebenso können Fehl­belastungen Ursachen für körperliche Erkrankung wie Muskel-Skelett-Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Störungen sein. Verbreitete Folgen sind ausserdem Motivationsverlust, Arbeitsunzufriedenheit oder Leistungsabfall und damit auch eine Verminderung der Qualität und Menge der geleisteten Arbeit. Plötzliche Ausfälle durch Erkrankung und eine reduzierte Leistungsfähigkeit in der Zeit davor verursachen nicht nur den Betroffenen Leid, sondern auch dem Betrieb Kosten und Umtriebe. So belaufen sich z.B. die volkswirtschaftlich relevanten Kosten des Stresses auf jährlich mehrere Milliarden Franken.[1]

Selbstverständlich ist eine kurzzeitig hohe Belastung in der Regel kaum schädlich – und wirkt sich auch nicht bei allen Menschen gleichermassen aus. Viele Faktoren wie etwa Bedingungen ausserhalb der Erwerbsarbeit, Bewältigungsmöglichkeiten und individuelle Voraussetzungen der Mitarbeitenden beeinflussen, ob und falls ja inwieweit arbeitsbedingte psychische Belastungen konkret die Gesundheit gefährden. Sehr wichtig für die Bewältigung psychischer Belastungen sind Erholungsmöglichkeiten sowie die Unterstützung durch andere Personen.

Anspruchsvoller Umgang mit ­psychosozialen Risiken


Der Umgang mit psychosozialen Risiken erweist sich – im Vergleich zur Sicherheit am Arbeitsplatz sowie zu anderen Themen des Gesundheitsschutzes wie Licht, Klima oder Ergonomie – als anspruchsvoll und stellt für den Arbeitnehmerschutz eine wesentliche Herausforderung dar. So lassen sich psychische Belastungen nicht mit den gewohnten Methoden beschreiben. Zudem ist bei psychischen Belastungen ein allfälliger Zusammenhang mit der Gesundheit schwer nachweisbar, da weitere Faktoren Einfluss auf die Gesundheit haben können. Weiter wirken sich, wie vorangehend bereits erwähnt, psychische Einwirkungen bei den betroffenen Menschen – ähnlich wie bei körperlichen Belastungen – je nach deren persönlicher Situation unterschiedlich aus.

Die Europäische Betriebserhebung zu neuen und aufkommenden Risiken,[2] an der die Schweiz sich im Jahr 2010 beteiligte, untersuchte die Sichtweisen betriebsleitender Personen zur Arbeitssicherheit, zu Gesundheitsrisiken und zum praktischen Umgang damit im Betrieb. Sie belegt den schwierigen Umgang mit dem Thema der psychosozialen Risiken in Unternehmen. So ist knapp die Hälfte der Betriebe (49%) der Meinung, dass der Umgang mit psychosozialen Risiken im Vergleich zu anderen Themen des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz schwieriger ist. Die Betriebe sind sich zwar bewusst, dass psychosoziale Risiken wie «Zeitdruck», «Umgang mit schwierigen ­Kunden, Patienten, Schülern etc.» sowie «schlechte Kommunikation zwischen Management und Beschäftigten» ein weit verbreitetes Problem sind. Sie wissen aber nicht, welche Präventionsmassnahmen möglich und wirksam sind. Gründe hierzu sind «fehlende Ressourcen wie Zeit, Personal oder Geld», «fehlende Ausbildung und/oder fehlendes Fachwissen» (je 50%) sowie «Brisanz der Fragestellung» (44%).

Psychosoziale Risiken in der Schweiz


Da nicht alle psychosozialen Risiken äusserlich sichtbar sind, müssen sie mit Umfragen oder Beobachtungsinterviews ermittelt werden. Hierbei werden Beschäftigte bei ihrer Arbeit beobachtet und zusätzlich noch befragt. Trends zu psychosozialen Risiken in der Schweiz liegen uns durch den European Working Conditions Survey[3] vor. Die Schweiz hatte sich im Jahr 2005 zum ersten Mal an der Studie beteiligt; 2010 wurde die Erhebung zum zweiten Mal durchgeführt. Nachfolgende Erkenntnisse beziehen sich auf die Erhebung von 2010 (siehe Grafik 2).

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Grundsätzlich sind die Erwerbstätigen sehr zufrieden oder zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen – Lohn mit eingeschlossen (91%). Trotzdem sind «hohes Arbeitstempo» (84%), «Termindruck» (80%) und «Arbeitsunterbrechungen» (47%) die häufigsten organisatorischen Belastungen in der Schweiz. Zwischen 2005 und 2010 ist eine deutliche Zunahme dieser Belastungsfaktoren feststellbar. Schweizer Erwerbstätige berichten, öfter Drohungen, erniedrigendes Verhalten und Mobbing zu erfahren als die Beschäftigten im europäischen Durchschnitt.

Analoge Erkenntnisse finden sich auch in der Stressstudie 2010[4] wieder. Etwa ein Drittel der Schweizer Erwerbsbevölkerung (34%) fühlt sich «häufig» oder «sehr häufig» gestresst. Noch im Jahr 2000 betrug dieser Anteil nur 27%. Der Anteil «nie» oder «manchmal» gestresster Personen hingegen hat in den letzten zehn Jahren abgenommen.

Vollzugsschwerpunkt in der ­Arbeitsinspektion


Insgesamt müssen wir unsere Strategie nach und nach anpassen, um psychosoziale Risiken besser zu verstehen und die Präven­tion in diesem Bereich zu verstärken. Mit diesem Ziel lanciert das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ab diesem Jahr einen neuen Vollzugsschwerpunkt: In Übereinstimmung mit den kantonalen Arbeitsinspektoraten, die schweizweit mit dem Vollzug des Arbeitsgesetzes betraut sind, wird das Augenmerk bei den geplanten Kontrollaktivitäten auf psychosoziale Risiken gerichtet. Mit Unterstützung der kantonalen Arbeitsinspektorate sollen die Betriebsverantwortlichen angeregt werden, ihre Fürsorgepflicht wahrzunehmen und auch Massnahmen zum Schutz der Gesundheit zu treffen und umzusetzen. Die Aufgabe und Rolle der Arbeitsinspektion ist in erster Linie, zu prüfen, ob der Arbeitgeber die gesetzliche Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmenden erfüllt, das heisst, ob Massnahmen zur Prävention psychosozialer Gefährdungen umgesetzt worden sind. Konkret werden die systematischen Vorkehrungen eruiert, die der Betrieb zum Schutz vor psychischen Fehlbelastungen und vor Persönlichkeitsverletzungen umgesetzt hat. Es ist aber nicht Aufgabe der Arbeits­inspektion, betriebsinterne, arbeitsbedingte psychische Fehlbelastungen zu erfassen oder einzelne Problemfälle zu lösen. Dies liegt in der Verantwortung des Betriebs. Das Seco unterstützt die Arbeitsinspektoren und -inspektorinnen bei der systemorientierten Umsetzung des Vollzugsschwerpunkts, indem es Grundlagen wie z.B. Broschüren und Leitfäden sowie ein breites Aus- und Weiterbildungsprogramm zur Verfügung stellt.

Mit dem geplanten Vollzugsschwerpunkt «Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz» lehnt sich die Schweiz an die in Europa umgesetzten Aktivitäten zum Thema an. So führte der Ausschuss hoher Arbeitsaufsichtsbeamter der EU (Senior Labour Inspectors Committee) in den Jahren 2011 und 2012 ­eine breite Inspektionskampagne zu psychosozialen Fragen durch. Weiter läuft im ­Namen der Europäischen Agentur für ­Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für die Jahre 2014 und 2015 eine Kampagne zu Stress und anderen psycho­sozialen Risiken. Das Projekt befindet sich momentan in der Vorbereitungsphase; ab diesem Sommer beginnt die mindestens vier Jahre dauernde operationelle Phase. Während dieser Dauer wird die Aktion durch das Seco begleitet und evaluiert. Die gewonnenen Erkenntnisse gelten als Grundlage für die Definition neuer Handlungsfelder und Instrumente, um die sich ständig entwickelnde Problematik psychosozialer Risiken am Arbeitsplatz erfolgreich handhaben zu können.

  1. Ramaciotti, D. und Perriard, J. (2000): Die Kosten des Stresses in der Schweiz, Download: http://www.seco.admin.ch, Dokumentation, Publikationen, Studien und Berichte. []
  2. European Agency for Safety and Health at Work (2010): European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks 2009 (Esener), Download: http://osha.europa.eu []
  3. Graf, M., Krieger, R., Pekruhl, U., Lehmann, M. (2012): 5. Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen 2010 – Ausgewählte Ergebnisse aus Schweizer ­Perspektive, Download: http://www.seco.admin.ch, Dokumentation, Publikationen, Studien und Berichte. []
  4. Grebner, S.et al. (2011): Stressstudie 2010: Stress bei Schweizer Erwerbstätigen – Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit, Download: http://www.seco.admin.ch, Dokumentation, Publikationen, Studien und Berichte. []

Zitiervorschlag: Lauterburg Spori, Stephanie; Richoz, Pascal (2014). Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz – eine neue Herausforderung für viele Betriebe. Die Volkswirtschaft, 01. April.