Medien und einige Rechtspolitiker bezeichnen die neue Architektur des Finanzmarktrechts auch als «Kleeblatt-Reform».
Das schweizerische Finanzmarktrecht macht einen Kernbereich des Wirtschaftsrechts aus. Zum Finanzmarktrecht gehören beispielsweise das Börsenrecht, das Bankrecht, das Versicherungsrecht oder das Kollektivanlagenrecht. Es handelt sich nicht allein für Juristen um eine «Königsdisziplin». Angesichts der Bedeutung der Finanzbranche für die Volkswirtschaft stellt dieses wirtschaftsrechtliche Teilgebiet einen zentralen Wettbewerbsfaktor für die Schweiz dar. Momentan strebt die Bundesverwaltung eine neue Architektur des Finanzmarktrechts an, die eine grundlegende Umgestaltung des Finanzmarktrechts bedeuten würde.
Ein gewisser Revisionsbedarf ist unbestritten
Das aktuelle Finanzmarktrecht basiert auf einem Säulenmodell. Die verschiedenen Teilbereiche der Finanzindustrie – also insbesondere Effektenhändler, Banken, Versicherungen sowie kollektive Kapitalanlagen – werden in separaten Spezialgesetzen auf Bundesebene geregelt.[1] Deren Ausgestaltung als Rahmengesetze verschiebt die wesentlichen finanzmarktrechtlichen Regelungsinhalte auf Verordnungsebene und damit in die Kompetenzbereiche etwa des Bundesrats oder der Finanzmarktaufsichtsbehörde (Finma).
Einige Finanzmarktgesetze erweisen sich heutzutage – mehr formell als materiell – als überholt sowie selbst für Spezialisten als unübersichtlich. Dies trifft in besonderem Ausmass auf das Bankengesetz aus dem Jahr 1934 zu.[2] Jüngere finanzmarktrechtliche Erlasse erscheinen hingegen zumindest überzeugend strukturiert und formuliert. Nichtsdestotrotz dürfte ein legislativer «Aufräumbedarf» kaum bestreitbar sein. Im Jahr 2009 trat das Finanzmarktaufsichtsgesetz (Finmag) sozusagen als «Dachgesetz» der wesentlichsten Finanzmarktgesetze in Kraft und schuf die Finma als integrierte Aufsichtsbehörde.[3]
Internationale Entwicklungen…
Was die Organisationsstruktur der Finanzmarktaufsichtsbehörden betrifft, ist auf internationaler Ebene kein eindeutiger Trend zu erkennen. Teils wird die Aufsicht in einer Behörde integriert (etwa in der Schweiz); teils besteht eine Vielzahl von Finanzmarktaufsichtsbehörden (z. B. in den USA). Hinsichtlich der Formalien bzw. der Architektur des Finanzmarktrechts gibt es bis anhin ebenfalls keine Vorgaben. Anders bei materiellen Aspekten: Dies trifft zum Beispiel auf die European Market Infrastructure Regulation (Emir) aus dem Jahr 2012 zu, die unter anderem systematische Risiken im europäischen Derivatmarkt eindämmen soll.
In inhaltlicher Hinsicht ist zudem die Richtlinie Markets in Financial Instruments Directive II (Mifid II) beachtlich, selbst für die Schweiz als Nichtmitgliedstaat der EU. Diese bezieht sich beispielsweise auf das privatrechtliche Geschäftsverhältnis von Finanzintermediären auf der einen Seite und ihren Kunden auf der anderen Seite. Obwohl primär Finanzinstitute betroffen sind, die in der EU grenzüberschreitend aktiv sind, kommen schweizerische Rechtssetzungen um eine rechtspolitische (und rechtsvergleichende) Kenntnisnahme kaum herum: Finanzmarktrecht stellt seit Jahrzehnten längst internationales Recht dar.
… und Reaktionsversuche in der Schweiz
Das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) ist bestrebt, diese und ähnliche Entwicklungen auf internationaler Ebene legislativ aufzunehmen. Eine frühzeitige Mitberücksichtigung internationaler Regulierungsbestrebungen soll in erster Linie einen künftigen zwangsweisen Nachvollzug solcher Normen verhindern, was eine vorausschauende Rechtssetzung erkennen lässt. Das EFD scheint indes nicht allein materielle, sondern auch formelle Neuerungen regulieren zu wollen.
Eine neue Architektur des schweizerischen Finanzmarktrechts, die nunmehr vom EFD vorgeschlagen wird, wird allerdings durch keine internationalen Regulierungen vorgegeben. Im Bereich der Ordnungen der nationalen Finanzmarktrechte besteht eine Modellvielfalt. Das bisherige und in der Praxis durchaus funktionierende Säulenmodell in der Schweiz soll in Zukunft durch ein Horizontalkonzept ersetzt werden.[4] In Spezialgesetzen sollen also nicht mehr Finanzsektoren (z. B. Banken oder Versicherungen), sondern Querschnittsthemen (etwa Bewilligungsvoraussetzungen) reguliert werden.[5]
Horizontalkonzept und Kleeblatt-Reform
Medien und einige Rechtspolitiker sprechen metaphorisch von einer «Kleeblatt-Reform» im Finanzmarktrecht. Dabei erscheint unklar, ob mit dieser Terminologie primär die geplante Anzahl der Bundesgesetze gemeint ist oder allenfalls die Notwendigkeit politischen Glücks für das Gelingen dieses legislativen Grossprojekts. Jedenfalls sollen in Zukunft vier Bundesgesetze die finanzmarktrechtliche Landschaft der Schweiz bestimmen:[6]
- Das Finmag ist bereits seit einigen Jahren anwendbar und hat sich ohne Zweifel bewährt. Im Vordergrund stehen die Organisation sowie die Kompetenzen der Finanzmarktaufsicht in der Schweiz.[7] Weiter umschrieben werden beispielsweise Regulierungsgrundsätze (Art. 7) sowie generelle Aufsichtsinstrumente bzw. das Finanzmarktenforcement (Art. 24 ff.). Im Grossen und Ganzen dürfte die Reform das Finmag nicht verändern.
- Bereits seit einiger Zeit wird – teils heftig – über ein Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) debattiert, das unter anderem die privatrechtlichen Beziehungen zwischen Finanzintermediär und Kunden betrifft.[8] Im Fidleg sollen Themen rund um Produkte wie etwa deren Segmentierung, Folgepublizität und Vertrieb (z. B. Verhaltensregeln) umschrieben werden. Zur Diskussion steht ausserdem eine umfassendere Regulierung und Beaufsichtigung der bis anhin bloss am Rande beaufsichtigten externen oder unabhängigen Vermögensverwalter.
- Mit einem Finanzmarktinfrastrukturgesetz (Finfrag) sollen Regeln für Marktteilnehmer aufgestellt werden, um die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes sicherzustellen.[9] Mängel bestehen etwa bei der Transparenz von ausserbörslich gehandelten Derivaten. Der Vorentwurf für ein Finfrag umfasst knapp 150 Artikel (Stichworte zum vorgeschlagenen Regulierungsinhalt: systemisch bedeutsame Finanzmarktinfrastrukturen, Handelsplätze, zentrale Gegenparteien sowie Zahlungssysteme).
- Ein Finanzinstitutsgesetz (Finig) dürfte in erster Linie mögliche Bewilligungsformen für Finanzintermediäre sowie Bewilligungsanforderungen regeln.[10] In dessen Anwendungsbereich soll zudem die Entlassung aus der Aufsicht fallen. Liquidation sowie Sanierung von Finanzintermediären gehören ebenfalls zum Regelungsinhalt. Ein Finig würde erhebliche Eingriffe in andere Finanzmarktgesetze mit sich bringen. Bisher wurde indes (noch) kein Vorentwurf publiziert.
Legislative Grossprojekte haben in der Schweiz eine lange Tradition des politischen Scheiterns. Dies trifft meist dann zu, wenn gegenüber einem Status quo keine massgeblichen Verbesserungen belegt sind, aber nicht zu unterschätzende Verschlechterungen drohen. Während auf Verbandsebene bereits zahlreiche rechtspolitische Stellungnahmen vorliegen, haben sich die meisten Bundespolitiker mit der Kleeblatt-Reform wohl noch kaum beschäftigt.[11]
Von der grünen Wiese …
Dass unter inhaltlichen Aspekten internationale Entwicklungen im schweizerischen Rechtssetzungsprozess berücksichtigt werden, dürfte kaum zu politischen Streitigkeiten führen. Mit der neuen Architektur des Finanzmarktrechts wird allerdings ein zusätzlicher Schritt gemacht, der international so nicht gefordert wird. Als Begründung führt das EFD bis anhin die angebliche Verbesserung eines Level Playing Field an, ohne dies näher auszuführen.
Die Kleeblatt-Reform zum schweizerischen Finanzmarktrecht muss das Herz eines dogmatischen und theorieorientierten Professors erfreuen, wenn er dieses Teilrechtsgebiet sozusagen auf einer «grünen Wiese» starten kann (oder könnte). Das Horizontalkonzept überzeugt ohne Weiteres, werden doch für sämtliche Finanzintermediäre übergreifende Ansatzpunkte – wie etwa Schutzbedürftigkeit der Kunden oder Komplexität der Produkte – als Regulierungsorientierungspunkte gewählt. Eine solche neue Architektur des Finanzmarktrechts stellt eine Art allgemeinen Teil des schweizerischen Finanzmarktrechts dar.
… zur Wirtschaftsrealität
Zunehmende Regulierungen bedeuten automatisch zunehmende Kosten, was sich im Bereich der Finanzbranche seit einigen Jahren besonders deutlich offenbart. Dies spricht indes nicht zwangsläufig gegen die Kleeblatt-Reform, selbst wenn durchaus Verständnis für entsprechende (ökonomische) Vorbehalte bestehen. Es liegt an der Politik, einen sachlich begründeten Entscheid zu fällen, der von der Finanzindustrie zu tragen sein wird. Die materiellen Vorschläge des EFD verlassen die in der Schweiz bekannten Gefilde nicht.[12]
Mit Erstaunen muss allerdings die «Architekturthematik» zur Kenntnis genommen werden, die international so nicht vorgegeben wird und deren Vorzüge nicht wirklich erkennbar sind. Es ist zuzugeben, dass einige Finanzmarktgesetze strukturell und formell Unschönheiten aufweisen. Doch Finma, Gerichte sowie Finanzbranche haben sich seit langer Zeit daran gewöhnt, und es besteht Rechtssicherheit. Der Hauptnachteil einer neuen Architektur des Finanzmarktrechts besteht meines Erachtens darin, dass sie – ohne Not – eine eingelebte Praxis infrage stellt und damit eine Unzahl von Rechtsunsicherheiten schafft.
Was auf der grünen Wiese sinnvoll erscheint, wird den Praxistest kaum bestehen, zumindest nicht in den ersten Jahren. Wenn beispielsweise Bestimmungen aus einem Gesetz – etwa zu den Bewilligungsvoraussetzungen – in ein neues transferiert werden, wird sich eher früher als später die Frage stellen, ob diese Regelung weiterhin gelten soll oder nicht mehr oder in geänderter Form. Die Fantasien der Juristen sollten nicht unterschätzt werden. Die neue Architektur des Finanzmarktrechts dürfte primär eine neue Einnahmequelle von Rechtsanwälten, Beratern und Gutachtern werden, ohne dass insbesondere der Kundenschutz verbessert wird.
Es wäre schade, wenn das legislative Grossprojekt allein daran scheitert, dass die Bundesverwaltung das «Fuder überladen» hat. Dass die Bundespolitiker diese komplexe Materie ohne Weiteres durchwinken werden, ist weder zu erwarten noch zu erhoffen. Jede Rechtssetzung muss den Status quo verbessern. Eine neue Architektur des Finanzmarktrechts würde kurz- und mittelfristig erhebliche Rechtsunsicherheiten für alle Betroffenen mit sich bringen. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest ein gestaffeltes Vorgehen gewählt wird.
- Externe Vermögensverwalter (EVV) bzw. Unabhängige Vermögensverwalter (UVV) werden hingegen nicht umfassend in einem Spezialgesetz reguliert. []
- Ersichtlich wird dies etwa bei der Vielzahl von Einschaltartikeln (z. B. Art. 3a ff. BankG). []
- Während das Finmag also die anderen Finanzmarktgesetze «überdacht», kann das Geldwäschereigesetz (GwG) als «Kellergesetz» – und damit als Basis für sämtliche Finanzintermediäre – bezeichnet werden. []
- Es handelt sich nicht um ein Detail, sondern um einen eigentlichen Paradigmenwechsel. []
- Vorläufer dieses Konzepts ist das Finmag, das ausgewählte und übergreifende Themen (etwa zum Enforcement) vereinheitlicht hat. Nichtsdestotrotz sind spezifische Regelungen in den einzelnen Finanzmarktgesetzen nach wie vor zulässig: Art. 2 Abs. 1 Finmag. []
- Die Gesetzgebungsarbeiten werden enorm sein; nebst drei neuen Bundesgesetzen werden vermutlich das BankG sowie das BEHG aufgehoben und die meisten anderen Finanzmarktgesetze in weiten Teilen angepasst; noch viel umfangreicher werden die Regulierungen auf Verordnungsstufe ausfallen. []
- Auf Ebene der Finanzmarktstabilität (Stichwort "Too big to fail") wir das Finmag durch das Nationalbankgesetz ergänzt. []
- Der Vorentwurf zum Fidleg wurde am 27. Juni 2014 in die Vernehmlassung geschickt; im Anschluss werden Entwurf und Botschaft des Bundesrats folgen. []
- Bereits durch die Vernehmlassung (bis Ende März 2014) gegangen ist der Vorentwurf zum Finfrag; Entwurf sowie Botschaft des Bundesrats können im Sommer 2014 erwartet werden. []
- Der Vorentwurf zum Finig wurde am 27. Juni 2014 in die Vernehmlassung geschickt, also parallel zum Fidleg; im Anschluss werden Entwurf und Botschaft des Bundesrats folgen. []
- Gründe dafür dürften sein, dass die Thematik äusserst komplex ist und dass – gerade angesichts der unbestreitbaren Trockenheit der Materie – kaum mediale Meriten damit zu erlangen sind. []
- Beispielsweise bleibt die Selbstregulierung nach wie vor ein zentraler Bestandteil der Regulierungsordnung; hierzu etwa Art. 26 VE-Finfrag (sc. Selbstregulierung für Handelsplätze). []
Zitiervorschlag: Kunz, Peter V. (2014). Braucht es eine neue Architektur des Finanzmarktrechts für die Schweiz? Die Volkswirtschaft, 01. Juli.
Das Finanzmarktrecht in der Schweiz basiert im Wesentlichen auf folgenden Bundesgesetzen: Finanzmarktaufsichtsgesetz (Finmag): SR 956.1, Geldwäschereigesetz (GwG): SR 955.0, Börsengesetz (BEHG): SR 954.1, Bankengesetz (BankG): SR 952.0, Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG): SR 961.01, Versicherungsvertragsgesetz (VVG): SR 221.229.1 sowie Kollektivanlagengesetz (KAG): SR 951.31. Das «Fleisch am Knochen» findet sich in zahlreichen Verordnungen zu diesen Rahmengesetzen sowie schliesslich in Selbstregulierungen von privaten Branchenorganisationen (z. B. der Schweizerischen Bankiervereinigung).
Die Kleeblatt-Reform soll das schweizerische Finanzmarktrecht auf vier Standbeine stellen: Einige bisherige Finanzmarktgesetze dürften wohl entweder aufgehoben oder in weitem Umfang überarbeitet werden. Vorgeschlagen wird ein eigentlicher Paradigmenwechsel vom bisherigen Säulenmodell zu einem Horizontalkonzept.
- das Finanzmarktaufsichtsgesetz (Finmag: bisher);
- das Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg: neu);
- das Finanzinfrastrukturgesetz (Finfrag: neu);
- das Finanzinstitutsgesetz (Finig: neu).