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Südschweiz – Tourismusregion mit strukturellen Defiziten

Die Region Südschweiz setzt sich aus den Kantonen Graubünden, Tessin und Wallis zusammen. Flächenmässig nimmt sie mehr als ein Drittel der Gesamtschweiz ein und ist damit die grösste der sieben Grossregionen der Schweiz. Die vergleichsweise ländliche Südschweiz gehört jedoch zu den eher bevölkerungsarmen Schweizer Grossregionen. Wegen der landschaftlichen Vielfalt und des milden Klimas ist sie bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Reiseziel. Als Rand- und Bergregion kämpft die Südschweiz mit einigen strukturellen Problemen.

Südschweiz – Tourismusregion mit strukturellen Defiziten

Der Tourismus ist die Schlüsselbranche der Grossregion Südschweiz. Der Anteil des Gastgewerbes liegt in jeder zehnten Gemeinde der Region über 20%, wie zum Beispiel in Lugano. (Bild: Keystone)

Von der gesamten Schweizer Bevölkerung leben rund 11% in der Südschweiz. Diese erwirtschaften ein nominales Bruttoinlandprodukt (BIP) von gut 51 Mrd. Franken, was einem Anteil an der Gesamtschweiz von knapp 9% entspricht. Dass der regionale Anteil am Schweizer BIP tiefer ausfällt als der Bevölkerungsanteil deutet auf ein unterdurchschnittliches BIP pro Kopf hin. Das Südschweizer BIP pro Kopf betrug 2011 rund 81% des Schweizer Mittels. Die unterdurchschnittliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zeigt sich auch im Performance Index, welcher die wirtschaftliche Performance einer Region misst. Bezüglich des Performance Index schneidet die Südschweiz schlechter ab als die Gesamtschweiz (siehe Grafik 1).



Quelle: BAK Basel Economics / Die Volkswirtschaft

 

Im Vergleich mit Westeuropa ist die Performance der Südschweiz jedoch überdurchschnittlich. Ausser gegenüber Tirol fällt der Performance Index der Südschweiz auch im Vergleich mit den internationalen Benchmark-Regionen höher aus.

Vergrössertes Gefälle der Schweiz zur Südschweiz


Betrachtet man die Wirtschaftsleistung im Vergleich zur Schweiz über die letzten zwei Jahrzehnte, so zeigt sich auch hier ein unterdurchschnittliches Abschneiden der Südschweiz (siehe Grafik 2).



Quelle: BAK Basel Economics / Die Volkswirtschaft

Die Bruttoinlandprodukte der Südschweiz und der Schweiz haben sich von 1990 bis Mitte der 1990er-Jahre noch sehr ähnlich entwickelt. Von da an ist das Gefälle zwischen der Schweiz und der Südschweiz jedoch grösser geworden. Ein Grund hierfür ist die Rezession Mitte der 1990er-Jahre, welche die Südschweiz aufgrund der stark konjunkturabhängigen touristischen Nachfrage stärker getroffen hat als die Schweiz. Im Jahr 2012 lag das Schweizer BIP rund 36% über dem Niveau des Jahres 1990, das Südschweizer BIP um rund 22%. Ein fast identisches Bild zeigt sich hinsichtlich des BIP pro Kopf. Dieses hat sich in der Schweiz zwischen 1990 und 2012 um gut 14% erhöht, während das Südschweizer BIP pro Kopf lediglich um knapp 1% gestiegen ist. Betrachtet man die Entwicklung der Hotelübernachtungen seit dem Jahr 2000 als Indikator für die touristische Entwicklung, so zeigt sich, dass diese in der Südschweiz bis 2013 um rund 13% zurückgegangen sind. Während die Nachfrage von 2000 bis 2008 noch angestiegen ist, folgte in den Jahren danach ein heftiger Einbruch als Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und des starken Frankens. Im Gegensatz zur Südschweiz war der Einbruch in der übrigen Schweiz weitaus weniger stark, sodass im gesamten Beobachtungszeitraum 2000 bis 2013 in der Gesamtschweiz ein Plus der Hotelübernachtungen von knapp 4% resultierte. Eine genauere Analyse zeigt, dass das Wachstum der Zahl der Hotelübernachtungen seit dem Jahr 2000 allein auf den Städtetourismus zurückzuführen ist, während in der übrigen Schweiz ein Rückgang zu beobachten ist.

Der Attractiveness Index misst die Attraktivität einer Region für Unternehmen sowie für hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Der entsprechende Indexwert der Südschweiz (108) liegt zwar unter dem Schweizer Wert (114), aber noch deutlich über den Werten der europäischen Vergleichsregionen. Im internationalen Vergleich sind insbesondere die tiefe Steuerbelastung sowie die relativ schwache Regulierung der Märkte ausschlaggebend für das sehr gute Ergebnis. Dies bedeutet, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Südschweiz – eine wesentliche Komponente der Wettbewerbsfähigkeit bei der Standortwahl von Unternehmen und hoch qualifizierten Arbeitskräften – im Vergleich mit den europäischen Peers überdurchschnittlich gut sind. Auch beim Structural Potential Index, welcher das zukünftige wirtschaftliche Entwicklungspotenzial erfasst, liegt die Südschweiz mit 118 Punkten unter dem Wert der Schweiz (122). Aber auch hier muss die Südschweiz den internationalen Vergleich nicht scheuen: Lediglich Tirol zeigt einen höheren Indexwert als die Südschweiz.

Tourismus als Schlüsselbranche


Eine Analyse der Branchenstruktur ist ein hilfreiches Instrument, um die Wirtschaftsleistung der Südschweiz vertieft zu betrachten. Der öffentliche Sektor und der Handel zählen – wie in den meisten Schweizer Regionen – in der Südschweiz zu den wichtigsten Branchen (siehe Grafik 3).

Grafik_Held_3_DE[1]

Der relativ hohe Anteil des Finanzsektors ist dabei vor allem auf den starken Finanzplatz Lugano zurückzuführen. Der vergleichsweise geringe Branchenanteil des Gastgewerbes – als Kernbranche der Tourismuswirtschaft – von 4% (Schweiz: 2%) mag überraschen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch andere Branchen direkt oder indirekt stark vom Tourismus profitieren bzw. abhängen, wie der Detailhandel, der Immobiliensektor, die Bauwirtschaft und die Verkehrsbranchen. Zusammengenommen machen diese tourismusbezogenen Branchen knapp ein Drittel der Südschweizer Wertschöpfung aus. In der Gesamtschweiz beträgt dieser Anteil lediglich 24% Die Bedeutung des Tourismus geht also weit über die rund 4% Wertschöpfungsanteil des Gastgewerbes hinaus.

Zum Schweizer Gastgewerbe zählen zum einen die Beherbergungsindustrie und zum anderen die Gastronomie, welche sowohl den touristischen als auch den nicht touristischen Ausser-Haus-Konsum von Schweizerinnen und Schweizern umfasst. Im Schweizer Mittel macht der Beherbergungssektor knapp 40% des Gastgewerbes aus. In der Südschweiz fällt dieser Anteil rund 20 Prozentpunkte höher aus. Die Beherbergungsindustrie im Kanton Graubünden zeigt gar einen Anteil am Gastgewerbe von rund drei Vierteln.

Im Vergleich zu den Schweizer Branchenanteilen sind in der Südschweiz neben dem Gastgewerbe vor allem die Bauwirtschaft, die Energie- und Wasserversorgung, das Immobilienwesen sowie die chemische Industrie überproportional vertreten. Zudem spielen in der Südschweiz die unternehmensbezogenen Dienstleistungen sowie die Investitionsgüterindustrie eine Rolle. Die chemische Industrie ist vor allem im Kanton Wallis mit den Firmen Lonza und Syngenta stark vertreten. Der Energie- und Wassersektor profitiert von der Südschweizer Topografie, welche sich sehr gut für Speicherkraftwerke eignet.

Geringe geografische Konzentration des Gastgewerbes


Das Gastgewerbe in der Schweiz ist vor allem durch eine Vielzahl Klein- und Kleinstbetriebe im Beherbergungs- und Gastronomiesektor geprägt. Das Gastgewerbe hat insbesondere im Berggebiet eine grosse Bedeutung, da es Wertschöpfung und Beschäftigung in periphere, strukturschwache Regionen bringt und damit einen wichtigen Beitrag zu den regionalpolitischen Zielen der Erhaltung der dezentralen Besiedelung und dem Abbau regionaler Disparitäten leistet. Grafik 4 zeigt, dass sich hohe Anteile des Gastgewerbes in den Südschweizer Gemeinden nicht in einigen wenigen Clustern häufen, sondern dass es fast flächendeckend eine grosse Bedeutung hat.

Grafik_Held_4_DE[1]

Von den 440 Gemeinden in der Südschweiz zeigt lediglich rund ein Drittel einen Wertschöpfungsanteil des Gastgewerbes, welcher kleiner ist als im Schweizer Mittel (Wertschöpfungsanteil Gastgewerbe Schweiz: 2%). Das heisst, dass in zwei Dritteln aller Südschweizer Gemeinden das Gastgewerbe überdurchschnittlich stark vertreten ist. In rund 11% der Gemeinden in der Südschweiz ist der Anteil des Gastgewerbes am regionalen BIP gar grösser als 20%. Darunter fallen die bekannten Tourismushochburgen wie beispielsweise Zermatt, Leukerbad und Saas-Fee im Wallis, Arosa, Davos, St. Moritz und Flims in Graubünden sowie Lugano und Ascona im Tessin. Daneben weisen aber auch sehr viele kleinere, weniger bekannte Gemeinden einen ausserordentlich bedeutenden BIP-Anteil des Gastgewerbes auf.

Unterdurchschnittliche Standortattraktivität


Grafik 5 zeigt verschiedene Dimensionen des Attractiveness Index sowie weitere Faktoren der Standortattraktivität für die Südschweiz und die Gesamtschweiz.

Grafik_Held_5_DE[1]

Der Schweizer Mittelwert ist jeweils 100. Aus Südschweizer Sicht zeigt die Grafik kein sehr erfreuliches Bild. Die Besteuerung von Unternehmen und hoch qualifizierten Personen sowie die Lebensqualität, welche sich aus wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Faktoren zusammensetzt, liegen mit Indexwerten um 95 leicht unter dem Schweizer Mittel. Stark unterdurchschnittlich zeigt sich die Erreichbarkeit, was unter anderem dem Fehlen eines bedeutenden Flughafens geschuldet ist. Auch bezüglich der Anzahl Patente pro Kopf, der nachhaltigen Finanzpolitik und des Anteils Erwerbspersonen mit tertiärem Abschluss liegt die Region im Hintertreffen.

Ins Auge sticht hingegen die hohe Anzahl Neugründungen pro Kopf. Untersuchungen zur Unternehmensdemografie haben gezeigt, dass im Schweizer Gastgewerbe eine hohe Dynamik herrscht: Viele Betriebe verschwinden, und viele neue kommen dazu. Dies trifft allerdings vor allem auf die Gastronomie und weniger auf die Hotellerie zu. Ebenfalls überdurchschnittlich ist die Sekundärquote, also der Anteil Erwerbspersonen mit einer sekundären Ausbildung.

Herausfordernde Zukunft


Die Analyse hat deutlich gemacht, dass die wirtschaftliche Leistung der Südschweiz im schweizerischen Vergleich unterdurchschnittlich ausfällt. Dies liegt zum einen daran, dass sie als Rand- und Bergregion mit strukturellen Problemen zu kämpfen hat. Hinzu kam in den letzten Jahren, dass der Tourismus unter den Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise und dem starken Franken gelitten hat. Dies hat innerhalb der Schweiz gerade die Südschweizer Wirtschaft stark getroffen. Durch die entstandenen Einbussen hat nicht nur das Gastgewerbe gelitten; alle Branchen, die direkt oder indirekt vom Tourismus profitieren, waren betroffen. In den nächsten Jahren dürfte sich eine weitere Herausforderung stellen: Die Zweitwohnungsinitiative, welche den Neubau von Zweitwohnungen rigoros eindämmt, wird sich voraussichtlich deutlich negativ im Südschweizer Baugewerbe bemerkbar machen. Einen weiteren Unsicherheitsfaktor stellt momentan die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative dar. Der Anteil an ausländischen Beschäftigten fällt im Gastgewerbe deutlich höher aus als in der Gesamtwirtschaft, sodass die Umsetzung der Initiative für die Südschweiz als Tourismusregion eine sehr grosse Bedeutung hat. Deshalb gilt es für die Südschweiz künftig, vorhandene Potenziale – auch in anderen Branchen – optimal zu nutzen, um einen dynamischeren Wachstumspfad zu erreichen.

Zitiervorschlag: Natalia Held (2014). Südschweiz – Tourismusregion mit strukturellen Defiziten. Die Volkswirtschaft, 10. Oktober.