Vollständige Strommarktöffnung: Ja, aber richtig!
Künftig sollen auch Endverbraucher mit einem Jahresverbrauch kleiner als 100’000 Kilowattstunden (KWh) pro Jahr – insbesondere die Haushalte – wählen können, ob sie sich im Rahmen des Wahlmodells abgesicherte Grundversorgung (WAS-Modell) weiterhin von ihrem Netzbetreiber oder einem anderen Lieferanten beliefern lassen wollen. Der Bundesrat hat am 8.Oktober 2014 eine Vernehmlassung zur vollständigen Strommarktöffnung eröffnet und interessierten Kreisen bis am 22. Januar 2015 Zeit gegeben, sich dazu zu äussern (siehe Kasten 1).
Grosse Kunden profitieren heute von historisch tiefen Preisen
Endverbraucher mit einem Stromverbrauch von mehr als 100 000 KWh, die heute von der Teilmarktöffnung profitieren, machen zunehmend von ihrem Recht Gebrauch, einen neuen Lieferanten zu suchen. Im Jahr 2014 waren bereits 27% der total rund 50 000 berechtigten Endverbraucher respektive 47% der berechtigten Energiemenge im freien Markt. Der Hauptgrund für die zunehmenden Wechsel ist der Preiszerfall an den europäischen Strombörsen.Die Stromgrosshandelsmärkte wurden durch die massive Förderung von Strom aus erneuerbaren Energien in der EU – vor allem in Deutschland, dem wichtigsten und massgebenden Marktplatz für die Schweiz – erheblich gestört. Zusammen mit anderen Faktoren wie dem tiefen Preis für CO2 hat dies zu einem dramatischen Preiszerfall geführt.
Branche braucht genügend lange Übergangsfrist für die Umstellung
Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) steht für einen verzerrungsfreien Markt ohne Subventionen und andere Markteingriffe ein. Langfristig sorgen unverzerrte Preissignale – bei Berücksichtigung der CO2-Emissionen – für einen effizienten Mitteleinsatz und maximieren somit die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt.
Durch die volle Marktöffnung wird eine erheblich grössere Zahl von Kunden ihren Anbieter wechseln als heute. Nach der vollen Marktöffnung werden über vier millionen Endverbraucher Anspruch auf Netzzugang haben. Dies bedeutet, dass bereits bei einer Wechselrate von 2,5% jährlich 100 000 Kunden ihren Anbieter wechseln würden. Damit dieser wesentlich grössere Markt richtig spielen kann, braucht es vor allem drei Dinge: Zeit für die Umstellung, Verzicht auf Preisregulierung und faire Bedingungen beim Lieferantenwechsel.
Um die notwendigen Lieferantenwechsel-, Datenaustausch- und Verrechnungsprozesse korrekt und fristgerecht abwickeln zu können, werden Standardisierungen und teilweise neue Automatisierungen notwendig. Hierfür sind IT-Lösungen zu entwickeln, zu implementieren sowie die Anwender zu schulen. Dabei wirkt erschwerend, dass eine beschränkte Zahl von spezialisierten IT-Lieferanten die Implementierungen bei zahlreichen Elektrizitätsversorgungsunternehmen (EVU) in kurzer Zeit durchführen muss, weshalb Engpässe vorauszusehen sind. Die Strombranche benötigt eine Übergangsfrist von mindestens 24 Monaten für die Implementierung der Prozesse, wobei diese spätestens bis zum 1. September im Vorjahr der vollen Marktöffnung abgeschlossen sein muss. Diese Frist ist für die Strombranche höchst anspruchsvoll und stellt das absolute Minimum dar. Um mit Vorarbeiten starten zu können, braucht die Strombranche Rechtssicherheit, entweder durch den rechtskräftigen Beschluss der Marktöffnung (ungenütztes Verstreichen der Referendumsfrist oder erfolgreiche Volksabstimmung) oder durch die verbindlich anerkannte Anrechenbarkeit von notwendigen Vorinvestitionen.
Endverbraucher mit einem Verbrauch von weniger als 100 000 KWh pro Jahr dürfen bei der vollständigen Marktöffnung wählen, ob sie sich im Rahmen des WAS-Modells weiterhin von ihrem Netzbetreiber beliefern lassen wollen. Auf eine Preisregulierung des WAS-Modells kann verzichtet werden: Die Netzbetreiber werden durch die Möglichkeit der Abwanderung von Kunden in den freien Markt diszipliniert. Da die Tarife im WAS-Modell gemäss Stromversorgungsgesetz (StromVG) für ein Jahr im Voraus festzulegen sind, hat sich im Gegenzug der Endverbraucher für ein Jahr zu verpflichten. Dadurch entsteht Fristenkongruenz zwischen festen Tarifen und fester Abnahme. Der Endverbraucher ist für ein Jahr gegen unvorhersehbare Preisschwankungen
geschützt; dafür erhält der Grundversorger für ein Jahr einen besser kalkulierbaren Stromabsatz. Eine von der
Fristenkongruenz abweichende Regelung würde eine unverhältnismässige Risikoübernahme durch den Grundversorger im WAS-Modell hervorrufen.
Zunehmend unberechenbare Rahmenbedingungen
Im Rahmen der Energiestrategie 2050 des Bundesrates wurden zum Teil einschneidende Änderungen des Energiegesetzes (EnG, SR 730.0) sowie weiterer Gesetze vorgeschlagen. Diese werden derzeit im
Rahmen der Detailberatung zum 1. Massnahmenpaket im Parlament diskutiert. Beispielsweise
soll auch in der Schweiz Strom aus bestimmten erneuerbaren Energien mit der Kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) noch stärker gefördert werden als bisher. Dies kann zu weiteren Marktverzerrungen führen und sich zusammen mit den bereits vorhandenen Marktverzerrungen negativ auf die Wirtschaftlichkeit der bestehenden Schweizer Stromerzeugung – insbesondere der Wasserkraft – auswirken. Auf der Seite der Endverbraucher wird ebenfalls eingegriffen: Energieeffizienzmassnahmen und später Lenkungsabgaben sollen dafür sorgen, dass der Stromverbrauch sinkt. Geplant ist zudem, das StromVG, die Rechtsgrundlage der vorliegenden vollständigen Marktöffnung, zu überprüfen und allenfalls grundlegend zu überarbeiten. Das revidierte StromVG soll insbesondere die marktwirtschaftliche Grundausrichtung
und die EU-Kompatibilität gewährleisten. Eine Voraussetzung für die EU-Kompatibilität ist wiederum die vollständige Marktöffnung. Über die Integration der Schweiz in den EU-Energiebinnenmarkt verhandelt die Schweiz mit der EU seit 2007 – bislang erfolglos. Ein Abkommen ist jedoch für die Schweiz von hoher Bedeutung, denn sie ist bereits heute im Winterhalbjahr auf Stromimporte angewiesen und wird es bei der
Umsetzung der Energiestrategie 2050 noch mehr sein. Insgesamt können sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine vollständige Strommarktöffnung zukünftig grundlegend ändern. Auch weitere, politisch motivierte Markteingriffe sind möglich. Die in Deutschland gemachten Erfahrungen zeigen jedoch mit aller Deutlichkeit die Grenzen von staatlichen Eingriffen in komplexe Systeme auf. Massive Marktverzerrungen, einhergehend mit sinkender Rentabilität systemstützender konventioneller Stromerzeugung, explodierende Kosten auf Endverbraucherseite und trotzdem zunehmender CO2-Ausstoss sind nur einige der unerwünschten Folgen.
Markt und Planwirtschaft: Gegensätzlicher geht es nicht
Mit dem StromVG soll ein Markt geschaffen werden, auf welchem möglichst unverfälschte Preissignale bei Produzenten und Konsumenten wirtschaftlich effizientes Verhalten bewirken. Auf der anderen Seite werden diese Preissignale mit der Energiestrategie 2050 – bei den Produzenten durch die KEV und bei den Konsumenten durch Energieeffizienzmassnahmen oder später Lenkungsabgaben – wieder massiv verzerrt. Der Versuch, diese beiden im Kern völlig gegensätzlichen Systeme mit unberechenbaren Folgen gleichzeitig zu betreiben, wird permanent weitere Regulierungen und Markteingriffe nach sich ziehen. Mit einem mutigen Entscheid zur Schaffung eines Marktes mit wenigen, dafür verlässlichen Auflagen – insbesondere bezüglich der Umwelt und des CO2-Ausstosses – würden dieselben Ziele wesentlich effizienter erreicht.
Zitiervorschlag: Muster, Stefan (2015). Vollständige Strommarktöffnung: Ja, aber richtig! Die Volkswirtschaft, 26. Januar.
Übergang zur vollen Marktöffnung
Am 1. Januar 2008 wurde das Stromversorgungsgesetz(StromVG, SR 734.7) in Kraft gesetzt, wobei die erste Stufe der Marktöffnung – für Endverbraucher mit mindestens 100 000 kWh Stromverbrauch pro Jahr sowie alle Endverteiler – erst ab 1. Januar 2009 erfolgte. Gemäss Wortlaut des Strom VG sollte die Bundesversammlung
fünf Jahre nach Inkrafttreten des StromVG in einem dem fakultativen Referendum unterstehenden Bundesbeschluss über den Übergang von der Teilmarktöffnung zur vollen Marktöffnung (Art. 34 Abs. 3 StromVG) entscheiden.