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Politik muss bei psychischen Erkrankungen handeln

In der Schweiz sind psychische Erkrankungen bei Arbeitslosen und IV-Bezügern stark verbreitet. Ein OECD-Bericht zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Dazu braucht es das Engagement von Akteuren wie Arbeitgebern, Ärzten und Lehrern.
Bei psychischen Problemen ist ein frühzeitiges Erkennen wichtig. Arbeitgeber, Lehrer und Ärzte spielen dabei eine Schlüsselrolle. (Bild: iStock)

Psychische Erkrankungen betreffen den Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik in den OECD-Ländern in hohem Mass. So leidet in der Schweiz jeder dritte Bezüger von Arbeitslosenentschädigung, Invalidenversicherungsleistungen oder Sozialhilfe daran. Zudem ist die Arbeitslosenquote bei psychisch Kranken mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote.

Die Kosten psychischer Erkrankungen für den Betroffenen, den Arbeitgeber und die Gesellschaft als Ganzes sind enorm und in allen OECD-Ländern seit Jahren ansteigend. Für die Schweiz wird von Kosten psychischer Erkrankungen in Höhe von 3,2% des BIP ausgegangen.[1] Für Arbeitgeber sind sie in Form von Krankheitsabsenzen und verringerter Arbeitsproduktivität spürbar. Folgen für den Arbeitsmarkt sind Arbeitslosigkeit und eine Reduktion des Arbeitskräftepotenzials.

Besonders junge Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben es schwer, im Arbeitsleben Fuss zu fassen oder dort zu verbleiben. Bei Ausbildungsabbruch oder Jobverlust geraten sie häufig in eine Negativspirale, die in eine frühe Invaliditätsberentung münden kann. Trotz dieser hohen Kosten psychischer Beeinträchtigungen für den Einzelnen und die Gesellschaft wird den Zusammenhängen von psychischer Gesundheit und Arbeit sowie den Folgen für den Arbeitsmarkt noch wenig Beachtung geschenkt.

Die OECD widmet sich seit mehreren Jahren diesen Fragestellungen. In dem im Jahr 2012 erschienenen Bericht Sick on the Job? Myths and Realities About Mental Health and Work ging es zunächst darum, Wissenslücken hinsichtlich der Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf die Erwerbsfähigkeit zu schliessen. In neun Länderberichten – darunter die Schweiz[2] – wurde zwei Jahre später die Situation untersucht und wurden Empfehlungen formuliert.

Im Frühjahr 2015 wurde schliesslich der Synthesebericht Fit Mind, Fit Job – From Evidence to Practice in Mental Health and Work veröffentlicht.[3] Dieser weist neben grundsätzlichen Systemschwächen auch auf Verbesserungspotenziale hin. Unter Bezugnahme auf Good-Practice-Beispiele aus den untersuchten Ländern zeigt er Handlungsempfehlungen zuhanden der Politik auf. Im Fokus stehen die leichten bis mittelschweren psychischen Erkrankungen, die insbesondere bei frühzeitiger Erkennung und rascher und angemessener Unterstützung und Behandlung nicht zu einem Ausschluss aus dem Erwerbsleben führen müssen.

Ein voreiliger Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt kann fatal sein


Übergeordnete Fragestellungen sieht die OECD hinsichtlich dessen, wann Interventionen zum Erhalt der psychischen Gesundheit bzw. zur Verhinderung psychischer Krankheit stattfinden müssen, wer dabei in der Verantwortung stehen soll und was genau dafür zu tun sei. Beim Wann geht es in erster Linie um Prävention, frühzeitige Erkennung und rasches Handeln. Dadurch werden Chronifizierung, Ausbildungsausfälle/-hemmnisse im Kindes- und Jugendalter sowie der Ausschluss vom Arbeitsmarkt im Erwerbsalter nach Möglichkeit verhindert. Gerade bei den leichten bis mittelschweren Störungen ist es fatal, erst eine allfällige Heilung abzuwarten und damit möglicherweise „vorerst“ einen Ausschluss in Kauf zu nehmen, bevor eine (Re)integration erfolgt. Je länger eine Person krankheitsbedingt dem Arbeitsmarkt fernbleibt, desto schwieriger gestaltet sich deren Reintegration.

Hinsichtlich des Wer wird dabei den sogenannten Front-Line-Actors eine entscheidende Rolle zugewiesen. Also denjenigen Personen, die in den vier untersuchten Bereichen zuerst und relativ intensiv Kontakt zu möglicherweise betroffenen Personen haben (Lehrer, Arbeitgeber/Vorgesetzte, Hausärzte, RAV-/Sozialhilfe-Betreuer).

In Bezug auf das Was ist die Empfehlung einer übergeordneten politischen Gesamtstrategie („mental health strategy“) prüfenswert. So könnten etwa Massnahmen zum Erhalt der psychischen Gesundheit in einem integrierten Ansatz geplant und umgesetzt werden – statt dass wie bislang isoliert in einzelnen Systemen gehandelt wird. Für die Umsetzung der Strategie wird ein Monitoring empfohlen.

Lehrer, Ärzte und Arbeitgeber gefordert


Die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte und Empfehlungen des OECD-Berichts betreffen das Bildungs-, das Gesundheits-, das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt. Die Experten geben Akteuren in den untersuchten Bereichen, unter Bezugnahme auf Good-Practice-Beispiele aus verschiedenen OECD-Ländern, Handlungsempfehlungen für die Entwicklung integrierter Strategien ab. Dadurch sollen Menschen mit leichten bis mittelgradigen psychischen Störungen rasche Unterstützung und Behandlung erhalten. Es geht dabei weniger um die Aufstockung von Ressourcen im psychiatrischen Bereich als vielmehr um rasches Erkennen und niederschwellige Intervention gut informierter, befähigter und ihrer Verantwortung bewusster (Erst-Kontakt-)Akteure. Ein solcher Ansatz könnte helfen, individuelles Leiden zu vermindern und die enormen volkswirtschaftlichen Kosten einzudämmen. Im Folgenden wird genauer auf die vier untersuchten Bereiche eingegangen.

Bildungssystem: Erkennen von Erkrankungen


Erste Anzeichen psychischer Erkrankungen treten häufig bereits im Jugendalter auf und beeinflussen somit die Ausbildung und den Eintritt ins Erwerbsleben. Die OECD weist auf Mängel hinsichtlich des Bewusstseins bezüglich psychischer Probleme der Schüler seitens der Lehrkräfte, aber auch seitens der betroffenen Schüler hin („lack of mental health literacy“).

Als Strategie schlägt die OECD vor, bei Bildungsbehörden und Lehrkräften Kompetenzen zu entwickeln, sodass diese psychische Probleme erkennen und damit umgehen lernen. Schülern soll bei Bedarf ein früher niederschwelliger Zugang zu einer koordinierten Unterstützung ihrer psychischen Gesundheit garantiert werden. Das soll besonders auch dann zum Tragen kommen, wenn Übergänge – wie etwa der Eintritt in die Arbeitswelt – besonderer Begleitung bedürfen. Ein spezielles Augenmerk sollte der Verhinderung von Schulabbrüchen gelten, da diese häufig im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen stehen und ungünstige weitere Verläufe zur Folge haben.

Gesundheitssystem: Erweiterte Arztzeugnisse einführen


Um die Verschlechterung einer psychischen Beeinträchtigung zu verhindern, ist eine rechtzeitige und angemessene Behandlung von psychischen Problemen notwendig – gerade auch bei leichten bis mittelschweren Störungen. Dabei steht weniger eine teure Behandlung durch Spezialisten im Vordergrund. Vielmehr sollten auch Hausärzte zur Behandlung von moderaten psychischen Erkrankungen befähigt werden und bei Bedarf auf Unterstützung zurückgreifen können.

Die Erwerbssituation einer Person spielt eine wesentliche Rolle, unter anderem auch für den Behandlungs- und Heilungsprozess. Das wird von der Psychiatrie im Moment zu wenig berücksichtigt. Deshalb gilt es laut den OECD-Experten, diese Perspektive künftig bereits in der Ärzteausbildung zu fördern: Das psychiatrisch-psychotherapeutische System muss ein verstärktes Augenmerk auf Beschäftigung und somit auf Ressourcenorientierung im Umgang mit dem Patienten legen.

Dazu gehört auch ein erweitertes Arztzeugnis, welches nicht pauschal eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, sondern die konkreten Arbeitsanforderungen berücksichtigt und aufzeigt, was eine betroffene Person im Moment erledigen kann. Somit kann mit einem allenfalls vorübergehend angepassten Arbeitspensum, und beispielsweise flankiert von Supported Employment[4], der Arbeitsplatz im Idealfall erhalten werden. Entsprechende sogenannte Fit-Notes sind nicht nur aus Grossbritannien[5] bekannt. Auch die schweizerische Vereinigung Swiss Insurance Medicine (SIM)[6] bietet ein entsprechendes Arztzeugnisformular auf ihrer Internetseite an. Standards zur verbindlichen Anwendung solcher Zeugnisse fehlen allerdings im Moment nicht nur in der Schweiz.

Arbeitsmarkt: Leitlinien für Vorgesetzte


Arbeitgebende bekommen die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen ihrer Mitarbeitenden in Form von Absenzen und Produktivitätsverlusten zu spüren. Entsprechend wären sie für eine aktivere präventive und unterstützende Rolle prädestiniert. Im Bedarfsfall könnten sie rasch handeln, indem sie etwa professionelle Helfer herbeiziehen. Damit Vorgesetzte ihre Rolle zum Erhalt der psychischen Gesundheit besser wahrnehmen können, müssen sie entsprechend geschult werden. Leitlinien zum Umgang mit Mitarbeitenden mit psychischen Problemen könnten hilfreich sein. Die Anreize und Pflichten der Arbeitgebenden zur Prävention von Krankheitsabsenzen müssten nach Ansicht der OECD verstärkt werden. Auch die Gesetze zur psychosozialen Risikoprävention müssten diesbezüglich angepasst werden.

Sozialsystem: Anreize setzen


Mindestens ein Drittel der Bezüger von Sozialleistungen über alle Sozialversicherungen hinweg ist in den untersuchten OECD-Ländern im Durchschnitt mit psychischen Problemen konfrontiert.[7] Somit haben neben der Invalidenversicherung auch die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe durch ihre Aktivierungsprogramme und das Setzen von Anreizen starken Einfluss auf die (Wieder)-Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Stellensuchende mit psychischen Problemen – egal in welchem System – müssen daher identifiziert und unterstützt werden. Dazu sind adäquate Instrumente zu entwickeln und bereitzustellen. Finanzielle Anreize für die im jeweiligen System betreuten Personen sowie für die Anbieter von Eingliederungsleistungen sollten so gesetzt werden, dass eine gute Arbeitsmarktintegration ermöglicht wird.

Ausblick


Die betroffenen Bundesämter werden nun die Empfehlungen analysieren und die nötigen Massnahmen einleiten. Das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz fördert dabei die Diskussion und den Einbezug der weiteren Akteure im Netzwerk.

  1. OECD (2014), S. 24. []
  2. Vgl. Länderbericht Schweiz, OECD 2014. []
  3. Der Bericht ist auf der OECD-Internetseite aufgeschaltet. Er erschien im Rahmen eines sogenannten High level policy forum on Mental Health and Work zum Thema “Bridging Employment and Health Policies“. Die Veranstaltung vom 4. März 2015 bot Ministern und Akteuren aus den Sektoren Gesundheit und Beschäftigung die Gelegenheit, koordinierte Gesundheits- und Beschäftigungsstrategien zu diskutieren, die dazu dienen können, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in ausbildungsadäquater Arbeit zu halten oder in diese zu intergieren. Für die Schweiz nahmen an diesem Treffen Christel Bornand (Direktorin Office de l‘ insertion des jeunes de moins de 30 ans en formation professionelle, Neuchâtel), Philippe Perrenoud (Regierungsrat Kanton Bern), Stefan Ritler (Vizedirektor BSV), M. Hugues Sautière (chef adjoint Service public de l’emploi, Fribourg,) und Stefan Spycher (Vizedirektor BAG) teil. []
  4. Supported Employment (Unterstützte Beschäftigung) bietet Unterstützung für behindere und andere schwer vermittelbare Personen, um bezahlte Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten und zu halten. []
  5. Best-Practice-Example 3.7., OECD 2015, S. 94. []
  6. www.swiss-insurance-medicine.ch, Best-Practice-Example 3.10, OECD 2015, S. 97. []
  7. OECD 2015, S. 142. []

Literaturverzeichnis

  • OECD (2015). Fit Mind, Fit Job – From Evidence to Practice in Mental Health and Work.
  • OECD (2014). Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz.
  • OECD (2012) Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work.

Bibliographie

  • OECD (2015). Fit Mind, Fit Job – From Evidence to Practice in Mental Health and Work.
  • OECD (2014). Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz.
  • OECD (2012) Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work.

Zitiervorschlag: Katrin Jentzsch, Maggie Graf, Annette Hitz, (2015). Politik muss bei psychischen Erkrankungen handeln. Die Volkswirtschaft, 07. April.

Netzwerk Psychische Gesundheit

Das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz (NPG) versteht sich als multisektorale gesamtschweizerische Initiative zur Förderung der psychischen Gesundheit und zur Verminderung psychischer Erkrankungen. Dabei spielt der Kontext Arbeit eine wichtige Rolle. Das NGP ist eine Nonprofitorganisation basierend auf einem Zusammenarbeitsvertrag zwischen dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und ‑direktoren (GDK), der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Durch Vernetzung der relevanten Akteure sollen Synergiemöglichkeiten sicht- und nutzbar gemacht sowie die Wirksamkeit und die Effizienz der Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit erhöht werden. Derzeit sind über 130 Institutionen aus nationalen Organisationen, kantonalen Verwaltungen und privatwirtschaftlichen Betrieben Mitglied des Netzwerks.