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Die Konferenz zur Situation von älteren Arbeitnehmenden von Bund, Kantonen und Sozialpartnern, welche im April in Bern stattfand, geht auf ein Postulat des St. Galler SP-Ständerats Paul Rechsteiner zurück. Die Resultate der Konferenz gehen für den Präsidenten des Gewerkschaftsbundes zu wenig weit, wie der 62-Jährige gegenüber der «Volkswirtschaft» sagt.

«Die Situation hat sich in den letzten 15 Jahren zunehmend verschlechtert»

Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes; Ständerat (SP/SG).

Standpunkt

Kennen Sie persönlich ältere Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt Mühe bekunden?

Im Alltag bin ich in den letzten Jahren leider immer häufiger mit Arbeitnehmenden ab 50 konfrontiert, welche die Altersdiskriminierung am eigenen Leib erleben. Gute Qualifikationen und unverschuldeter Verlust des Arbeitsplatzes ändern daran nichts. Langzeitarbeitslosigkeit und sozialer Abstieg sitzen vielen im Nacken. Neuerdings scheint es viele Gutqualifizierte aus der Informatikbranche zu treffen.

Wie schätzen Sie / der Schweizerische Gewerkschaftsbund die aktuelle Situation für die älteren Personen auf dem Arbeitsmarkt ein?

Die Situation hat sich über alles gesehen in den letzten 15 Jahren zunehmend verschlechtert. Dass viele ältere Arbeitnehmer davon persönlich nicht betroffen sind, ändert nichts daran, dass auch sie die Veränderungen spüren. An manchen Orten herrscht ein ungesundes Angstklima. Das steht in einem starken Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen aus Bern, wonach wir in der Schweiz gewissermassen in der besten aller Welten leben würden. Die Quittung für diese Realitätsverleugnung lässt politisch nicht auf sich warten, wie das Abstimmungsverhalten dieser Altersgruppe am 9. Februar 2014 zeigte.

Wo liegen Ihres Erachtens die Hauptprobleme?

Der Respekt vor Alter und Erfahrung ist geschwunden. Noch vor wenigen Jahren gab es in der Schweiz ein ungeschriebenes Entlassungstabu. Es besagte: Langjährige verdiente Angestellte dürfen nicht entlassen werden, es sei denn, dies sei unumgänglich, zum Beispiel wegen Konkurs des Arbeitgebers. Diese informellen, aber wichtigen Regeln sind gefallen. Der Produktionsleiter eines mittelgrossen Industriebetriebs hat mir unlängst erzählt, der neue Finanzchef habe quasi frisch ab der Universität St. Gallen vorgeschlagen, in den nächsten Jahren Schritt um Schritt allen über 50 zu kündigen – angefangen bei jenen, die Krankheitstage aufgewiesen hätten. Wenn jemand in diesem Alter entlassen wird, hat er grosse Mühe, wieder etwas zu finden.

Welche Lösungen sehen Sie?

Es beginnt damit, dass das Problem ernst genommen statt schöngeredet wird. Das war fast schon das Hauptresultat der ersten Konferenz zu den älteren Arbeitnehmenden. Es muss ein Mentalitätswandel stattfinden, politisch und in den Unternehmen. Die konkreten Vorschläge, auf die sich die Teilnehmer der Konferenz geeinigt haben, bleiben leider hinter den Notwendigkeiten weit zurück. Falls sie tatsächlich umgesetzt werden, dürfen sie allerdings in der Wirkung auch nicht unterschätzt werden. Das beginnt bei der Beseitigung der Diskriminierung in den Stelleninseraten und geht von der Schaffung von Anlaufstellen bis hin zum Rentenanspruch nach dem Verlust des Arbeitsplatzes. Heute geht mit dem Ausscheiden aus der Pensionskasse auch der Rentenanspruch verloren – für die Betroffenen oft eine Tragödie.

Was ist der konkrete Beitrag des Gewerkschaftsbundes, damit die Situation sich ändert?

Die Gewerkschaften kümmern sich schon lange um das Problem. In einzelnen Gesamtarbeitsverträgen konnten auch Verbesserungen erreicht werden. Auch ist es immer wieder gelungen, in Einzelfällen trotz fehlendem Rechtsanspruch eine Wiedereinstellung durchzusetzen. Gemessen an den Problemen sind das aber Tropfen auf den heissen Stein. Es muss sich vieles bewegen, politisch und in manchen Unternehmen. Positive Vorbilder, also Unternehmen, die sich anständig verhalten und die Vielfalt und altersmässige Durchmischung ihrer Belegschaft schätzen, gäbe es genug.

Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.

Zitiervorschlag: Paul Rechsteiner (2015). Standpunkt: «Die Situation hat sich in den letzten 15 Jahren zunehmend verschlechtert». Die Volkswirtschaft, 24. Juni.