Nicht-Ökonomen vergessen häufig die gesellschaftlichen Kosten von Kindern; ... (Bild: Keystone)
Ökonomen denken immer an Kosten und Nutzen. Das erscheint manchen Kritikern zu eng. Doch Kosten und Nutzen sind nur andere Worte für Vor- und Nachteile, also ein sehr breites Konzept. Nicht-Ökonomen denken oft entweder nur an Nutzen oder nur an Kosten. So meinen viele, eine höhere Geburtenrate würde die Sicherung der Altersvorsorge erleichtern. Dabei vergessen sie die hohen gesellschaftlichen Kosten von Kindern. Denn Durchschnittskinder kosten den Staat über das Leben gerechnet mehr, als sie an ihn bezahlen. Deshalb gefährdet Fertilitätspolitik die Altersvorsorge – ausser sie fördert gezielt hochproduktive Kinder.
Ökonomen berücksichtigen alle Nutzen und Kosten, insbesondere auch nicht monetäre. Nicht-Ökonomen hingegen fokussieren oft viel zu stark auf monetäre Grössen. So zielt die Gesundheitspolitik vor allem auf das Wachstum der Geldkosten und vernachlässigt, dass die Kosten infolge verlorener Zeit durch Krankheit und Behandlung sowie von Nebenwirkungen und Risiken riesig sind, aber dank medizinischem Fortschritt sinken.
Ökonomen betonen auch immer die Opportunitätskosten, weil die verwendeten Ressourcen nicht mehr anders eingesetzt werden können. In der Politik hingegen werden diese sträflich vernachlässigt. So wird anlässlich der Armeereform nur diskutiert, ob das Militärbudget 4 oder 5 Milliarden oder gar noch mehr betragen soll. Dabei werden die Opportunitätskosten der rund 6 Millionen Diensttage sowie der Militärgelände vernachlässigt. Opportunitätskosten mit eingerechnet, ist die Schweizer Armee rund doppelt so teuer wie behauptet und, pro Einwohner, eine der teuersten Armeen der Welt. Wer dies berücksichtigt, wünscht eine andere Armeereform.
Schliesslich fokussieren Ökonomen nicht nur auf Gesamtkosten und -nutzen, sondern vor allem auf Grenzkosten und -nutzen. So rechnen regelmässig Studien vor, Kinderkrippen, der öffentliche Verkehr oder Kulturinstitutionen brächten mehr Nutzen als Kosten. Doch das ist zweitrangig. Die Frage ist ja kaum, ob diese Leistungen ganz abgeschafft werden sollen, sondern ob wir mehr oder weniger davon brauchen. Also, ob die Grenznutzen grösser oder kleiner als die Grenzkosten sind. Dazu sagen die Studien zumeist nichts.
Realistisches Menschenbild
Regelmässig wird Ökonomen vorgeworfen, ihr Menschenbild sei unrealistisch. Tatsächlich treffen sie oft enge Verhaltensannahmen, da diese die Formulierung mathematischer Modelle erleichtern. Das einfache ökonomische Denken hingegen beruht auf einem ganz allgemeinen und sehr realistischen Menschenbild. Salopp formuliert sind Menschen weder allwissende Engel noch dumme Schafe. Sie sind nie vollständig informiert; sie verfolgen nicht ausschliesslich das Gemeinwohl, sondern auch eigene Ziele; sie haben lieber Vor- als Nachteile und wägen diese halbwegs vernünftig ab; und sie folgen nicht jeder Vorschrift, sondern suchen aktiv nach für sie günstigeren Lösungen. Kurz: Menschen reagieren systematisch auf Anreize und handeln entsprechend dem Nachfragegesetz. Wenn etwas teurer wird, tun sie es seltener.
Das hat weitreichende Folgen. Wenn Politiker tatsächlich das Volkswohl maximieren und alles wissen würden, müsste alles von der Zentralregierung oder noch besser durch eine Weltregierung entschieden werden. Weil aber eben auch Politiker normale Menschen sind, sind dezentrale und wettbewerbliche Strukturen oft überlegen. Denn sie generieren Informationen und geben den Politikern Anreize, auf die Bürger einzugehen.
In der Politik werden Anreize oft vernachlässigt. So wurde lange über die Beiträge der Geberkantone zum Finanzausgleich gestritten, während Anreizprobleme ignoriert wurden. Die Grenzabschöpfungsquote des Steuersubstrats beträgt in den Geberkantonen etwa 20 Prozent, in den Nehmerkantonen hingegen 80 Prozent. Damit haben die Geber stärkere Anreize als die Nehmer, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Das dürfte die Unterschiede längerfristig vergrössern und ist Sprengstoff für die Schweiz.
Marktversagen ist allgegenwärtig
Gute Ökonomen sind nicht Prediger der Markteffizienz, sondern Spezialisten für Marktversagen und dessen Heilung. Sie verstehen die drei Ursachen von Marktversagen: Externalitäten und öffentliche Güter, natürliche Monopole sowie asymmetrische Information. Als Rezept gegen Marktversagen empfehlen sie marktwirtschaftliche Lösungen, also Lenkungssteuern und handelbare Lizenzen – anstelle von planerischen und polizeilichen Geboten und Verboten, Mengenfixierungen oder Subventionen.
Illustrativ ist die Verkehrspolitik: Die externen Kosten, welche der Individualverkehr durch Umweltschäden, Unfälle und Staus verursacht, sollten aus ökonomischer Sicht durch ein effektives Roadpricing im Sinne des Verursacherprinzips internalisiert werden. Gleichzeitig sollte der öffentliche Verkehr nicht mehr subventioniert werden, sobald der Individualverkehr seine wahren Kosten trägt. Dadurch würde ein Marktversagen behoben und sehr viel Geld für Steuersenkungen frei.
Auch bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative fokussiert die öffentliche Diskussion viel zu eng auf Mengensteuerung durch Kontingente. Falls Zuwanderung wirklich negative Externalitäten hat, empfiehlt der ökonomische Ansatz, die Zuwanderung über Preise zu steuern, also für die hier verbrachte Zeit Lenkungssteuern zu erheben.
Ökonomen – Spezialisten auch für Staatsversagen
Ökonomen sind trotz häufigem Marktversagen eher marktfreundlich, weil sie vergleichend denken. Sie vergleichen die Marktlösung mit anderen Entscheidungssystemen und sind deshalb auch zu Spezialisten für Staatsversagen und dessen Heilung geworden. Denn Staat und Politik leiden an ähnlichen Problemen wie Märkte: So wie eigennütziges Verhalten unter bestimmten Bedingungen zu Marktversagen führt, kann es Staatsversagen bewirken.
In dezentralen politischen Systemen sind Probleme mit Externalitäten allgegenwärtig, weil Leistungen der einen Gebietskörperschaft oft auch den Einwohnern anderer Regionen nützen. Zugleich spielen Externalitäten aber in Zentralstaaten meist eine noch grössere Rolle. Dort werden Ausgaben zentral finanziert – und die Einwohner aller Gebietskörperschaften leben dann auf Kosten der Allgemeinheit.
Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Länder wie Griechenland, die stark zentralisiert sind, besonders grosse Probleme haben, die Bürger zum Steuerzahlen zu veranlassen. Da praktisch nichts der in einer Gebietskörperschaft bezahlten Steuergelder dortbleibt, sehen die Bürger nur wenig Sinn darin, selbst Steuern zu zahlen und sich darum zu kümmern, ob ihre Mitbürger die Steuern zahlen. Auch deshalb wäre für Griechenland und viele andere EU-Länder eine weitgehende Dezentralisierung fruchtbar.
Moderne Ökonomik erhellt auch, wie unterschiedliche politische Systeme funktionieren. So leidet die repräsentative Demokratie daran, dass gute Ideen nicht patentiert und dadurch frei von anderen Politikern übernommen werden können, also öffentliche Güter sind. Das mindert die Anreize für Politiker, viel Energie in die Entwicklung guter und realistischer Ideen zu investieren. Ein anderes Problem ist, dass Wahlversprechen nicht bindend sind. Die Bürger wissen zumeist nicht, weshalb die Wahlversprechen nicht eingehalten werden konnten. Diese asymmetrische Information senkt die Anreize für Politiker zusätzlich, sich an Versprechen zu halten.
Direkte Demokratie überwindet solches Politikversagen wenigstens teilweise: Wenn eine Idee als Volksinitiative formuliert wurde, kann sie von anderen kaum mehr einfach übernommen werden. Die Initiative ist deshalb so etwas wie ein Patent für politische Ideen und wirkt innovationsfördernd. Zudem sind direktdemokratische Vorlagen glaubwürdiger als Wahlversprechen, weil sie als Verfassungs- und Gesetzestexte formuliert sind.
Gleichgewichte bergen Überraschungen
Auf individueller Ebene ist die Abwägung von Kosten und Nutzen zentral – auf aggregierter Ebene sind es das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage und die sich daraus ergebenden Gleichgewichte, deren besondere Eigenschaften von Nicht-Ökonomen oft vernachlässigt werden.
Ein Beispiel ist Steuerüberwälzung. Die Steuerlast trifft oft nicht die formellen Zahler, sondern sie wird über die Märkte an andere weitergegeben. Ein Extrembeispiel für dieses allgemeine Phänomen sind international mobile Spitzensportler. In Ländern mit hohen Steuern arbeiten sie nur, wenn sie einen entsprechend höheren Bruttolohn erhalten. So wird die Steuerlast voll auf ihre Arbeitgeber überwälzt.
Generell bleibt die Steuerlast bei den relativ immobilen Faktoren hängen. In einem föderalistischen Staat sind der Faktor Arbeit und das Kapital zwischen den Gebietskörperschaften mobil. Deshalb wird die Steuerlast weitgehend auf den Faktor Boden überwälzt, d. h., die Steuern «kapitalisieren» im Bodenwert. In Gebietskörperschaften mit hohen Steuern sind die Bodenpreise entsprechend tiefer; die Steuerlast tragen also nicht die Arbeiter, sondern die Bodenbesitzer. Umgekehrt profitieren etwa im Kanton Zug nicht alle Einwohner von tiefen Steuern, sondern hauptsächlich die Bodenbesitzer.
Aber nicht nur Steuern kapitalisieren im Bodenpreis, sondern alles, was Vor- und Nachteile bringt – so auch die Schulden von Gebietskörperschaften. Gemeinde- und wohl auch Kantonsschulden sind deshalb weniger eine Belastung für zukünftige Generationen als für die heutigen Bodenbesitzer. Wenn sich hingegen ein grosses Land verschuldet oder gar eine Ländergemeinschaft wie die EU, dann kann der Faktor Arbeit nicht ausweichen. Deshalb tragen dann die zukünftigen Generationen einen Teil der Schuldenlast.
«Wirtschaftsführer» aus dem Gleichgewicht
Marktgleichgewichte werden oft schnell erreicht, weil sie von den Marktteilnehmern erwartet werden und sich Angebot und Nachfrage für knappe Faktoren entsprechend anpassen. So reagieren die Bodenpreise auf Attraktivitätsveränderungen eines Standorts nicht erst nach und nach, wenn dann die Bürger wirklich wandern, sondern sofort, weil die Marktteilnehmer die Veränderung der Bodennachfrage antizipieren.
Die aktuelle Diskussion um die Frankenstärke illustriert, wie zuweilen auch «Wirtschaftsführer» die Rolle von Erwartungen und Gleichgewichtsmechanismen vernachlässigen. Sie argumentieren, der starke Franken sei für die Wirtschaft höchst bedrohlich. Wenn sich die Wirtschaft aber wirklich stark abzuschwächen drohte, würde dies am Devisenmarkt wohl schnell erkannt: Der Frankenkurs würde sinken und das Problem sich ohne schwere Krise verflüchtigen.
Ökonomen als Anwälte
Das bisher Gesagte heisst natürlich nicht, dass Ökonomen immer recht haben. Ganz im Gegenteil: Manche Ökonomen erzählen manchen Unsinn. Das liegt aber nicht an den Schwächen der modernen Ökonomik, sondern gerade an ihren Stärken. Diese haben sie so einflussreich gemacht, dass heute Regierungen, Parteien und Interessengruppen ihre Politikvorschläge oft mit ökonomischen Gutachten zu rechtfertigen versuchen. Die als Gutachter eingesetzten Auftragsökonomen handeln zumeist wie Anwälte. Sie versuchen, die Interessen ihrer Auftraggeber mit wirksamen Argumenten zu vertreten. Aber für unsinnige Projekte sind oft auch die besten Argumente Unsinn.
Schliesslich stimmt es auch, dass gute Ökonomik viel vermeintlich Triviales sagt. Denn gute Ökonomik ist oft einfach gesunder Menschenverstand. Wie wichtig dieser aber ist, zeigt sich darin, wie oft er Entscheidungsträgern abhandenkommt und Naivität überwiegt. Das gilt leider auch für Ökonomen selbst.
So gibt es heute manche sonst hervorragende Ökonomen, die für die Abschaffung des Bargelds eintreten, nur um die ansonsten höchst problematischen Negativzinsen besser durchsetzen zu können. Dabei vernachlässigen sie, dass dadurch die Macht der Regierungen massiv zunehmen würde und Machtmissbrauch drohte. Tatsächlich aber sind sie damit in guter Gesellschaft. Selbst Paul Samuelson hat angenommen, die Regierung maximiere die Wohlfahrt. Er schrieb sein ansonsten grossartiges Lehrbuch in den Vierzigerjahren zwar in den USA – aber im Angesicht von Hitler, Stalin und Mao. Zum Glück ist das moderne ökonomische Denken realistischer.
Zitiervorschlag: Eichenberger, Reiner; Stadelmann, David (2015). Die Gesellschaft braucht die moderne Ökonomik. Die Volkswirtschaft, 23. Juli.