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EU wird zum digitalen Binnenmarkt – mit Folgen für die Schweiz

Die EU will die Digitalisierung vorantreiben. So sollen die gesetzlichen Hürden zwischen den Mitgliedsländern abgebaut werden. Die Schweiz muss deshalb dafür sorgen, dass Unternehmen und Konsumenten Zutritt zu diesem Markt bekommen.
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Der digitale Binnenmarkt könnte mit über 400 Milliarden pro Jahr zur Wirtschaftsleistung in der EU beitragen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit ihrem britischen Amtskollegen David Cameron an der IT-Messe Cebit in Hannover. (Bild: Keystone)

Eine der zehn Prioritäten der Europäischen Kommission unter dem Vorsitz von Jean-Claude Juncker ist die Schaffung eines digitalen Binnenmarkts.[1] Die EU möchte bestehende regulierungsbedingte Handelshemmnisse beseitigen und die 28 nationalen Märkte zu einem einzigen Binnenmarkt zusammenführen. Damit sollen sowohl die Einwohner als auch die Unternehmen unabhängig von ihrem Wohnort (bzw. Standort) über einen einheitlichen und fairen Onlinezugang zu Waren und Dienstleistungen verfügen.

Der digitale Binnenmarkt könnte mit 415 Milliarden Euro pro Jahr zur Wirtschaftsleistung im EU-Raum beitragen – und damit neue Arbeitsplätze schaffen, das Wachstum ankurbeln sowie den Wettbewerb, Investitionen und Innovationen fördern. Dieser Markt wird zudem ein grösseres Angebot und bessere Dienstleistungen zu günstigeren Preisen ermöglichen. Durch den digitalen Binnenmarkt wird die Gründung neuer Start-up-Unternehmen gefördert, und die bereits bestehenden Unternehmen können sich in einem Markt mit über 500 Millionen Konsumenten weiterentwickeln.

Die neue «Strategie für einen digitalen Binnenmarkt in Europa» wurde im Frühling der Öffentlichkeit präsentiert. Diese umfangreiche Reform der Rahmenbedingungen für den digitalen Bereich innerhalb der EU umfasst 16 zentrale Massnahmen, die auf drei Säulen beruhen. Diese Initiativen müssen bis Ende nächstes Jahr umgesetzt werden (vgl. Tabelle).

Fahrplan digitaler EU-Binnenmarkt












2015 2016
1. Besserer Zugang für Konsumenten und Unternehmen zu digitalen Waren und Dienstleistungen in ganz Europa
Gesetzesvorschläge für einfache und wirksame grenzüberschreitende Vertragsbestimmungen für Verbraucher und Unternehmen Breit angelegte Überprüfung zur Vorbereitung von Gesetzesvorschlägen gegen ungerechtfertigtes Geoblocking Überprüfung der Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz Massnahmen auf dem Gebiet der Paketzustellung
Untersuchung des Wettbewerbs im Sektor des elektronischen Handels im Hinblick auf den Onlinehandel mit Waren und die Onlineerbringung von Dienstleistungen Gesetzesvorlagen für eine Reform des Urheberrechtssystems Überprüfung der Satelliten- und Kabelrichtlinie Gesetzesvorlagen für eine Verringerung des Verwaltungsaufwands der Unternehmen, der sich aus unterschiedlichen Mehrwertsteuer-Regelungen ergibt
2. Schaffung der richtigen Bedingungen für florierende digitale Netze und Dienste
Umfassende Analyse der Rolle der Plattformen auf dem Markt einschliesslich illegaler Inhalte im Internet Gesetzesvorlagen zur Reform der geltenden Telekommunikationsvorschriften Überprüfung der E-Datenschutz-Richtlinie
Überprüfung der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste Schaffung einer vertraglichen öffentlich-privaten Partnerschaft für Cybersicherheit
3. Bestmögliche Ausschöpfung des Wachstumspotenzials der digitalen Wirtschaft
Aufstellung eines Plans mit den Prioritäten für die ICT-Normung und die Erweiterung des Europäischen Interoperabilitätsrahmens für öffentliche Dienste Initiativen in Bezug auf das Eigentum an Daten, den freien Datenfluss (z. B. zwischen Cloud-Anbietern) und eine europäische Cloud Neuer E-Government-Aktionsplan mit einer Initiative zum Grundsatz der einmaligen Abfrage und einer Initiative zur Verknüpfung von Unternehmensregistern


Quelle: EU-Kommission / Die Volkswirtschaft

Zugang zu digitalen Diensten erleichtern


Die erste Säule ist auf einen besseren Zugang zu digitalen Waren und Dienstleistungen ausgerichtet. Dazu werden bestehende Barrieren für grenzüberschreitende Onlineaktivitäten beseitigt, wie beispielsweise unterschiedliche Vorschriften zwischen den Mitgliedsstaaten oder das mangelnde Vertrauen in Onlinetransaktionen der Konsumenten und der Anbieter.

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die EU acht Massnahmen vorgesehen. Sie möchte beispielsweise den grenzüberschreitenden elektronischen Handel insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erleichtern. Dazu werden die Rechte der Konsumenten und die EU-Vorschriften über vertragliche Aspekte harmonisiert und die Dienstleistungen der grenzüberschreitend tätigen Paketzustelldienste verbessert. Gemäss der Europäischen Kommission tätigen nur 15 Prozent der Konsumenten Onlineeinkäufe in anderen EU-Ländern. Dabei verzichten 62 Prozent der Unternehmen, die ihre Produkte über das Internet verkaufen möchten, wegen zu hoher Lieferkosten auf diesen Vertriebskanal. Im Weiteren ist geplant, den Verwaltungsaufwand der Unternehmen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Mehrwertsteuer-Regelungen abzubauen und ein einziges elektronisches Registrierungs- und Zahlungsverfahren sowie eine einheitliche Mehrwertsteuer-Schwelle einzuführen.

Die EU will auch den Onlinezugang zu Inhalten und Diensten erleichtern, indem die Auswahl für die Konsumenten vergrössert und die Preise von digitalen Inhalten gesenkt werden. Gleichzeitig soll die kulturelle Vielfalt gefördert werden. Zu diesem Zweck ist vorgesehen, die Unterschiede zwischen den nationalen Urheberrechtssystemen zu verringern und das Urheberrecht in Bezug auf die folgenden Aspekte zu modernisieren: Portabilität von Inhalten (Zugriff im Ausland auf Inhalte, die in einem anderen Mitgliedsstaat legal erworben wurden), Rechtssicherheit für grenzüberschreitende Nutzungen und Ausnahme für Forscher bei der Verarbeitung von Daten. Eine Gesetzesvorlage wird noch vor Ende Jahr erwartet.

Schliesslich wird ungerechtfertigtes «Geoblocking» unterbunden – eine diskriminierende Praxis, mit der Konsumenten daran gehindert werden, Onlinedienste zu nutzen, die in anderen EU-Ländern zur Verfügung stehen. Oder die Nutzer werden auf eine entsprechende Website in ihrem eigenen Land mit anderen Preisen umgeleitet. Gesetzesvorschläge sollen Anfang nächstes Jahr folgen.

Weg für rasche und sichere digitale Netze und Dienste ebnen


Mit der zweiten Säule sollen die richtigen Bedingungen und gleiche Voraussetzungen für florierende digitale Netze und innovative Dienste geschaffen werden. Die Umsetzung dieser Priorität erfordert rasche, sichere und zuverlässige Breitbandnetze. Zu diesem Zweck wird die EU im Jahr 2016 die Telekommunikationsvorschriften revidieren und in Bezug auf die Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sowie zur Netz- und Datensicherheit (Cybersicherheit) einen einheitlicheren Ansatz zwischen den Mitgliedsländern verfolgen.

Die EU wird auch die Rolle von Onlineplattformen (Suchmaschinen, soziale Medien, Plattformen für den elektronischen Handel usw.) analysieren. Diese nehmen im Leben der Nutzer eine immer grössere Bedeutung ein. Gleichzeitig rufen sie aber auch Bedenken bezüglich der mangelnden Transparenz der Suchergebnisse, der Nutzung der von den Plattformen gesammelten Daten, der Bevorzugung ihrer eigenen Dienste und des Bestehens illegaler Inhalte hervor.

Schliesslich wird im nächsten Jahr der Rechtsrahmen für audiovisuelle Medien überprüft, um der Entwicklung neuer Technologien, den neuen Möglichkeiten für den Zugriff auf die Inhalte (etwa mit Smartphones) und den Video-on-Demand-Diensten wie Netflix Rechnung zu tragen.

Digitale Wirtschaft soll wachsen


Im Rahmen der dritten Säule geht es darum, das Wachstumspotenzial der digitalen Wirtschaft bestmöglich auszuschöpfen. Die EU-Kommission hat festgestellt, dass drei Viertel der Wertschöpfung der digitalen Wirtschaft nicht aus den ICT produzierenden Branchen (Informations- und Kommunikationstechnologien), sondern aus den traditionellen Wirtschaftszweigen stammen. Doch die digitalen Technologien werden von lediglich 1,7 Prozent dieser traditionellen Unternehmen vollumfänglich genutzt. Wenn alle Wirtschaftszweige die mit der digitalen Wirtschaft verbundenen Möglichkeiten uneingeschränkt nutzen, können damit das Wirtschaftswachstum und die soziale Eingliederung gefördert werden.

Die EU will eine wettbewerbsfähige und innovative auf Daten beruhende Wirtschaft schaffen. Dazu sollen der freie Datenfluss, die Nutzung von Cloud-Diensten, Big Data und das Internet der Dinge («internet of things») gefördert werden.

Zu den Prioritäten gehören auch die Einführung einheitlicher Bestimmungen und die Verbesserung der Zusammenarbeit (sogenannte Interoperabilität) in Bereichen, die für den digitalen Binnenmarkt von zentraler Bedeutung sind. Dies sind beispielsweise die E-Gesundheit (Telemedizin, mobile Lösungen für das Gesundheitswesen), die Verkehrsplanung (Routenplanung, Online-Frachtenbörse) und die Energie (intelligente Verbrauchsmessung).

Um eine digitale Gesellschaft zu fördern, an der jeder teilhaben kann, wird die EU die digitalen Kompetenzen als wesentliches Element ihrer künftigen Bildungsinitiativen definieren. Ausserdem wird sie 2016 einen neuen E-Government-Aktionsplan vorlegen.

Zutritt für Schweizer Unternehmen zentral


Die Schweiz hat erkannt, wie bedeutend die ICT und die digitale Revolution für ihre Wirtschaft sind. Es bestehen mehrere nationale Strategien zu verschiedenen Bereichen – von der Informationsgesellschaft über E-Government, Cybersicherheit, Urheberrecht und Cloud-Computing bis hin zu E-Gesundheit. Doch mehrere Massnahmen der EU-Strategie könnten sich auf die Schweiz und ihren Zugang zum EU-Markt auswirken. Wenn es der EU gelingt, einen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, könnte es für die Schweizer Unternehmen aller Wirtschaftsbranchen schwierig werden, Zugang zum EU-Markt zu erhalten.

Ausserdem wären sie aufgrund der starken Konkurrenz auf europäischer Ebene unter Umständen weniger wettbewerbsfähig. Parallel dazu ist es denkbar, dass für die europäischen Anbieter keine Veranlassung bestehen würde, ihre Waren und Dienstleistungen (digitaler oder traditioneller Art) in unserem Land zu vertreiben, da die Schweiz das einzige Land in Europa mit anderen Vorschriften wäre (beispielsweise Vorschriften zu den Verträgen für Onlineeinkäufe). Dies könnte nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die Schweizer Unternehmen mit Nachteilen verbunden sein. Schweizer Konsumenten wären gegebenenfalls die einzigen, die keinen Zugang zu digitalen Inhalten und Dienstleistungen in Europa haben oder im Ausland nicht auf einen Inhalt zugreifen können, den sie in der Schweiz legal erworben haben.

Um diese negativen Konsequenzen zu vermeiden und um zu verhindern, dass die Schweiz in einem Bereich isoliert wird, der für das Wirtschaftswachstum von ausschlaggebender Bedeutung ist und sich sehr rasch entwickelt, muss unser Land die potenziellen Auswirkungen der EU-Massnahmen auf die Schweizer Wirtschaft sorgfältig analysieren und nach Lösungen suchen. So könnte für die Schweiz beispielsweise ein Interesse daran bestehen, ihre Rechtsvorschriften in bestimmten Bereichen an die EU-Gesetzgebung anzupassen oder diese Fragen in (neuen oder bestehenden) bilateralen Abkommen mit der EU zu regeln.

  1. Stichwort Digital Single Market unter www.ec.europa.eu. []

Zitiervorschlag: Montereale, Barbara (2015). EU wird zum digitalen Binnenmarkt – mit Folgen für die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 26. Oktober.