Suche

Abo

Schweiz muss digitale Wirtschaft ankurbeln

Die EU treibt den digitalen Binnenmarkt voran. Das E-Government ist dabei ein wichtiger Pfeiler. Die Schweiz muss daraus lernen – schneidet sie doch, gerade was den digitalen Austausch zwischen staatlichen Institutionen, Unternehmen und Einwohnern anbelangt, im europäischen Vergleich nur mässig ab.
Das Potenzial von E-Government in der Schweiz ist gross. Kameras erfassen, ob ein Lastwagen die Schwerverkehrsabgabe (LSVA) bezahlt hat. (Bild: Keystone)

Die EU-Kommission sieht die Realisierung eines digitalen Binnenmarktes (Digital Single Market) als eine der zehn Prioritäten ihrer Agenda. Ein zentrales Instrument ist das sogenannte E-Government – der digitale Austausch zwischen staatlichen Institutionen, Unternehmen und Einwohnern. Im Frühling dieses Jahres präsentierte der EU­-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, seine ehrgeizige Strategie: Der digitale Binnenmarkt soll mit über 400 Milliarden Euro jährlich zur Wirtschaftsleistung im EU-Raum dazu beitragen, neue Arbeitsplätze und eine wissensbasierte Gesellschaft zu schaffen.[1]

Vor allem kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in der EU nutzen das Potenzial nicht: Nur sieben Prozent von ihnen sind grenzüberschreitend tätig.[2] Im digitalen Binnenmarkt sollen sie mehr Klarheit im Regelwerk erhalten, gleichzeitig sollen die Kosten im internationalen Handel sinken. Davon dürften insbesondere KMU und Start-ups profitieren. Für die gesamte Wirtschaft ergibt sich dank rechtlicher und technischer Vereinfachungen Potenzial für Expansion und Effizienzsteigerung bei der Leistungserbringung nicht zuletzt im Umgang mit Behörden.[3]

Die Strategie für den digitalen Binnenmarkt zielt auf die Nutzung der Möglichkeiten, die sich aus der Verfügbarkeit digitaler Dienste ergeben. Es geht dabei auch um die Stärkung der Verbraucher, die von Klarheit, Sicherheit und einer fairen Preispolitik profitieren. Die Idee ist es, die 28 Märkte der EU-Staaten für reale und digitale Güter und Leistungen im Netz zu einem einzigen zu verschmelzen.

Dazu soll durch Abbau von Hindernissen im grenzüberschreitenden Onlinehandel der Zugang zu Waren und Dienstleistungen verbessert werden. Zudem soll durch die Bereitstellung von leistungsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Infrastrukturen und Inhaltsdiensten ein gutes Umfeld für digitale Netze und Dienste geschaffen werden. Weiter ist geplant, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit zwischen Systemen (sogenannte Interoperabilität) beispielsweise im Gesundheitswesen, in der Energie und im Verkehr voranzutreiben, was das Wirtschaftswachstum beschleunigt. [4]

In diesem Kontext liefert das E­-Government die Infrastruktur und schafft das nötige Vertrauen im Wandlungsprozess. Für die Schweiz sind insbesondere der Umgang mit personenbezogenen Daten, die Förderung einer offenen Dateninfrastruktur sowie die Interoperabilität unterschiedlicher nationaler sowie bereichsübergreifender Systeme von Bedeutung.

E-Government für einen digitalen Binnenmarkt


Seit zehn Jahren bewertet die EU die Fortschritte von E­-Government in Europa. Dabei werden etwa die Fortschritte bei Unternehmensgründungen, Arbeitsverlust und Arbeitssuche sowie Ausbildung in 33 europäischen Ländern inklusive der Schweiz untersucht.[5] In der EU-Studie werden die Kriterien Benutzerzentriertheit, Transparenz, grenzüberschreitende Mobilität und «Schlüsselfähigkeiten» bewertet. Solche Schlüsselfähigkeiten im E-Government sind:

  • authentische Daten: Basisregister zur Bereitstellung von Daten zu Personen oder Unternehmen;
  • «single sign on»: einmaliges Anmelden auf einer Verwaltungswebseite zur Verwendung weiterer Webseiten;
  • elektronische Identifikation eines Benutzers;
  • elektronische Dokumente: Versand und Empfang authentischer Dokumente;
  • E-Safe: Austausch elektronischer Daten und Dokumente;
  • «once­-only principle»: Alle Informationen an den Staat werden nur einmal eingefordert.


Während die Schweiz bei der Benutzerzentriertheit und der grenzüberschreitenden Mobilität leicht hinter dem europäischen Mittelfeld liegt, zeigen sich in der Bewertung von Transparenz und Schlüsselfähigkeiten grosse Rückstände.[6] Insbesondere bei der Transparenz der Leistungserbringung und den persönlichen Daten fällt sie klar ab: Am besten positionieren sich in diesen Kategorien Länder wie Malta oder Estland, die dem Endanwender eine gute Übersicht über Prozessfortschritte und die gehaltenen Bürgerdaten geben.

Föderale Strukturen als Herausforderung und Chance


Die EU geht die Schaffung des digitalen Binnenmarkts umfassend an. Mit dem strategischen Schwerpunkt und der Finanzierung des Aufbaus der digitalen Serviceinfrastruktur im Programm «Connecting Europe Facility» sind bis 2020 entscheidende Fortschritte zu erwarten. Langfristig sollen alle Behörden domänen­- und grenzüberschreitend auf gemeinsam genutzte digitale Services abstellen.

Aus Schweizer Sicht ist es wichtig, die Entwicklung zu beobachten und Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. Die Kernfrage ist: Wo brauchen wir für die Realisierung der digitalen Wirtschaft eine internationale Koordination und wo können wir alleine vorwärtsmachen?

Zentral ist: Die erwähnten Schlüsselfähigkeiten müssen international kompatibel sein. Die föderalen Strukturen stellen dabei besondere Anforderungen. Gleichzeitig bieten sie, weil auch innerhalb der Schweiz Interoperabilität realisiert werden muss, eine grosse Chance: Alle Interessengruppen gewinnen an Effektivität und Effizienz, wenn die Behördendienste auf allen Verwaltungsebenen durchlässiger und einheitlicher werden. Das erhöht zudem die Transparenz gegenüber Bürgern und Unternehmen. Zudem ist es einfacher, föderale Dienste in einen internationalen Kontext zu integrieren als zentralistische.

Diese notwendigen Veränderungen werden in der Strategie Informationsgesellschaft[7] adressiert. Diese wird aktuell für die nächste Legislaturperiode 2016–2019 überarbeitet. Sie berücksichtigt sämtliche Lebens-­ und Wirtschaftsbereiche und stellt sicher, dass die Chancen der Digitalisierung zur nachhaltigen Weiterentwicklung der gemeinsamen Wohlfahrt und Lebensqualität genutzt werden.

Erfolg beginnt mit der Umsetzung


Die Digitalisierung ist ein unaufhaltsamer Megatrend. Die EU­-Kommission sieht in der Realisierung des digitalen Binnenmarkts einen zentralen Baustein für die Ausschöpfung des Wirtschaftspotenzials. Die erwähnte Studie zum E-Government zeigt die Richtung an: In jeder Entwicklungsphase müssen die Fähigkeiten der Stakeholder, die diese digitale Transformation vorantreiben sollen, berücksichtigt werden. Die Zusammenarbeit der Behörden untereinander, mit den Unternehmen und mit den Bürgern muss auf einer gemeinsam genutzten digitalen Infrastruktur basieren. Dabei müssen die Lösungen im kulturellen Kontext der jeweiligen Länder funktionieren.

Aus Schweizer Sicht gilt: Warten auf globale beziehungsweise europäische Lösungen für eine elektronische Identität oder ein digitales Patientendossier bringt keinen Erfolg. Das Lernen beginnt mit der Umsetzung, nicht mit dem Zusehen. Der internationale Vergleich muss uns inspirieren, vorwärtszumachen, um stetig besser zu werden. Mit einer klaren Sicht darauf, was international koordiniert werden muss und was die Schweiz selbstständig vorantreiben kann, können die Prioritäten richtig gesetzt werden.

  1. Mehr Informationen zum digitalen Binnenmarkt unter www.ec.europa.eu. []
  2. EU-Kommission (2015), Digital Single Market Factsheet[]
  3. EU-Kommission, Questions and answers – Digital Single Market Strategy, 6. Mai 2015. []
  4. EU-Kommission, Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa, 6. Mai 2015. Siehe auch Beitrag von Barbara Montereale (Mission der Schweiz bei der EU) in dieser Ausgabe. []
  5. Studie Future-proofing eGovernment for a Digital Single Market, 23. Juni 2015. []
  6. Factsheet zur Schweiz[]
  7. Eidg. Departement für Umwelt Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek), Strategie des Bundesrates für eine Informationsgesellschaft in der Schweiz, März 2012[]

Zitiervorschlag: Christian Weber, Alessia C. Neuroni, Andreas Spichiger, (2015). Schweiz muss digitale Wirtschaft ankurbeln. Die Volkswirtschaft, 26. Oktober.