Die Mängel des Euros sind mitverantwortlich für die Wirtschaftskrise in der EU. Der Chef der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, nach Gesprächen zu Griechenland Ende Juni. (Bild: Keystone)
Seit Jahren macht die EU fast nur noch negative Schlagzeilen. Sie ist beschäftigt mit Krisenbewältigung an allen Fronten, sei dies mit der Eurokrise, Griechenland, der Ukraine oder der Migration. Die EU scheint keine gemeinsame Vision mehr zu haben für ihre Zukunft, wie dies noch der Fall war bei der Einführung des Euro oder bei der Osterweiterung. Ihre Rolle als Friedensstifterin für Europa droht bei den jüngeren Generationen zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die EU noch mit einem stetig wachsenden Wohlstand in Verbindung gebracht. Seit Ausbruch der Eurokrise ist dies nicht mehr der Fall. Vor allem in den südlichen Mitgliedstaaten macht man Brüssel zunehmend für die jahrelange Rezession mit Rekordarbeitslosigkeit (Stichwort Austeritätspolitik) verantwortlich.
Die Kritik richtet sich dabei oft pauschal gegen die EU, ohne dass zwischen den Problemen der Wirtschafts- und Währungsunion, den Strukturproblemen in den Mitgliedstaaten und dem Binnenmarkt differenziert wird. Euroskeptiker haben in den letzten Jahren in vielen Mitgliedstaaten grossen Aufwind erhalten. Am konkretesten stellt sich die Herausforderung in Grossbritannien, wo die Regierung nächstes Jahr ein Referendum über den Verbleib in der EU abhalten will.
Bei all dieser Kritik geht unter, dass der Binnenmarkt – wenn auch unvollendet – eine Erfolgsgeschichte ist und eigentlich von kaum jemandem grundsätzlich infrage gestellt wird. Zwar wird immer wieder kontrovers über das richtige Mass an Regulierung diskutiert. Davon abgesehen werden aber die Vorteile des Binnenmarkts von den EU-Bürgern und Unternehmen als so selbstverständlich erachtet, dass sie in der Regel gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Weitere Verbesserungen der Währungsunion nötig
Anders verhält es sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion. Ihre Konstruktionsfehler werden zu Recht für die Krise mitverantwortlich gemacht. Mit der gemeinsamen Währung verzichteten die Mitglieder der Eurozone auf einen wichtigen Anpassungsmechanismus. Bei unterschiedlicher Wirtschaftsentwicklung verblieb als Alternative nur die interne Abwertung, also die Anpassung von Löhnen und Preisen, um die preisliche Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.
Die EU entwickelte Rezepte gegen die Krise der Eurozone. So wurde mit der zuerst provisorischen «European Financial Stability Facility» und dem nun permanenten «European Stability Mechanism» ein Rettungsschirm für in Not geratene Mitglieder der Eurozone geschaffen. Weiter führte sie verschiedene neue Instrumente ein, um die Koordination der nationalen Finanzpolitiken zu stärken und die Einhaltung der Maastrichter Kriterien zu verbessern. Schliesslich wurde mit der Bankenunion die Zuständigkeit für Überwachung und Abwicklung von Banken auf die europäische Ebene gehoben – mit dem Ziel, die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Finanzsystem und den Staatshaushalten zu durchbrechen.
Mit diesen Massnahmen hat die EU viel erreicht. Es handelt sich um Fortschritte, die noch vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Die Griechenland-Krise hat aber diesen Sommer gezeigt, dass die bisherigen Verbesserungen der Währungsunion nicht genügen und die langfristige Stabilität der Eurozone weiterhin gefährdet ist. Die im Vertrag von Maastricht enthaltene No-Bail-out-Klausel ist nach der wiederholten Rettung von Griechenland nicht mehr glaubwürdig. Damit wurde die Einheit der Kontrolle über das fiskal- und wirtschaftspolitische Handeln und der Haftung für die Konsequenzen dieses Handelns durchbrochen. Gleichzeitig wurde der Vorwurf der fehlenden demokratischen Legitimation laut.
Migration und Russland als Prüfsteine
Nebst den wirtschaftlichen Problemen sieht sich die EU auch grossen Herausforderungen von aussen gegenüber. Die wichtigsten sind die Ukraine und in den letzten Monaten vor allem die Migrationskrise. Im Fall der Ukraine wird der EU vorgeworfen, sie trage im Zusammenhang mit dem Assoziierungsabkommen selber eine gewisse Mitverantwortung am Entstehen der Krise.
Hingegen reagierte die EU auf die russische Annexion der Krim und die Ereignisse in der Ostukraine mit einer erstaunlich grossen Einigkeit (Stichwort Sanktionen). Gleichzeitig stellt sich die schwierige Frage, wie das Verhältnis zu Russland und zu möglichen Beitrittskandidaten aus dem früheren russischen Einflussbereich langfristig zu gestalten ist.
Die Migrationskrise zeigt das Spannungsverhältnis zwischen der humanitären Tradition Europas und der Forderung seitens der EU-Bevölkerung, die Migrationsflüsse besser zu kontrollieren. Die Solidarität unter den Mitgliedstaaten wird dabei auf eine harte Probe gestellt. Dasselbe gilt für das Europa der offenen Grenzen unter dem Schengen-Abkommen.
Pragmatische Problembewältigung statt Visionen
Als Reaktion auf diese Herausforderungen stehen ein «Neubeginn» und ein «Wandel» im Zentrum der politischen Leitlinien und des Arbeitsprogramms der Kommission Juncker. Allerdings lässt sich darin nicht wirklich eine Vision für eine tiefgreifende Weiterentwicklung des Europäischen Projekts erkennen, sondern vielmehr ein pragmatischer Versuch zur Bewältigung der sich stellenden Probleme.
Im Vordergrund stehen dabei Vorschläge zur Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Mit dem Juncker-Investitionspaket will man in drei Jahren öffentliche und private Investitionen in der Höhe von 300 Milliarden Euro mobilisieren. Mit einem ambitionierten Paket soll der Binnenmarkt auch für die digitale Wirtschaft realisiert werden. Eine Energieunion soll die Versorgungssicherheit verbessern und die nationalen Energiemärkte enger verzahnen. Durch eine engere Zusammenarbeit mit Drittstaaten, Solidarität unter den Mitgliedstaaten und Bekämpfung des Menschenhandels wird angestrebt, unter dem Titel einer europäischen Migrationsagenda die Einwanderung in die EU besser zu steuern.
Die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament nahmen die meisten dieser Vorschläge gut auf. Die Schwierigkeit liegt in der konkreten Umsetzung in Gesetzestexte, wo dann die Partikularinteressen der Mitgliedstaaten als Hindernisse zum Vorschein kommen. Sichtbar wurde dies beispielsweise bei den Vorschlägen der Kommission für eine Verteilung von Asylbewerbern aus Italien und Griechenland in andere Mitgliedstaaten, die schliesslich nur mit einem Mehrheitsentscheid gegen den Widerstand einiger osteuropäischer Mitgliedstaaten verabschiedet werden konnten. Alles in allem sind aber in all diesen Bereichen Fortschritte im Rahmen des bestehenden institutionellen Rahmens zu erreichen.
Die Währungsunion – ein nur teilweise fertiggestelltes Haus
Im Gegensatz zu diesen politischen Herausforderungen verlangen die Konstruktionsfehler der Währungsunion grundlegende und tiefgreifende institutionelle Reformen, um deren Fortbestehen langfristig und nachhaltig zu sichern. Wie die fünf Präsidenten der EU-Institutionen in ihrem Bericht über die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion schreiben, «bietet diese momentan das Bild eines Hauses, an dem jahrzehntelang gebaut wurde, das aber nur teilweise fertiggestellt ist», während «mitten im Sturm Mauern und Dach rasch befestigt werden mussten».[1]
Die Präsidenten schlagen deshalb für eine erste – bis Mitte 2017 dauernde – Phase vor, einige Elemente der bislang umgesetzten Reformen zu verbessern. Dazu gehören die Verfahren zur Koordination und Überwachung der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitiken und die Vollendung der Bankenunion beispielsweise mit einer gemeinsamen Einlagensicherung. Weiter soll ein neuer europäischer Fiskalausschuss eine Bewertung der nationalen Haushalte vornehmen. In einer zweiten Phase könnte bis 2025 eine Fiskalunion mit Budgetkompetenzen und einem europäischen Schatzamt geschaffen werden. Der Bericht bleibt in Bezug auf diese zweite Phase allerdings relativ vage.
Dieser Bericht gehört zu mehreren Vorschlägen, die in den letzten Jahren für die Vollendung der Währungsunion gemacht wurden. Dabei gibt es zwei Hauptstossrichtungen:
- Mit einer Fiskalunion würde fiskal- und wirtschaftspolitische Kompetenz auf die europäische Ebene übertragen. Gleichzeitig würden die Eurozonenmitglieder gemeinsam für die Verbindlichkeiten der Fiskalunion haften. Eine zentrale EU-Behörde (EU Treasury) erhielte Kompetenzen für die Durchsetzung der Steuer- und Ausgabenpolitik sowie von Strukturreformen. Auf europäischer Ebene müsste zudem eine parlamentarische Kontrolle geschaffen werden, um der Fiskalunion ihre demokratische Legitimität zu geben.
- In die genau entgegengesetzte Richtung ginge die Bekräftigung, dass die Fiskal- und Wirtschaftspolitik in nationaler Kompetenz verbleibt. Dabei müsste die durch die verschiedenen Rettungsprogramme der letzten Jahre angeritzte No-Bail-out-Klausel neu bestätigt werden. Um deren Glaubwürdigkeit zu stärken, würde eine neue Insolvenzordnung eingeführt, die dafür sorgte, dass die Fiskalpolitik der Eurostaaten durch die Marktkräfte diszipliniert wird.
Umsetzung schwierig
In einer abstrakten Betrachtung sind beide diese Stossrichtungen in sich kohärent und würden eine Verbesserung im Vergleich zur aktuellen Situation bringen. Hingegen stellen sich bei beiden in der Umsetzung erhebliche politische und technische Probleme.
Mit einer Fiskalunion würden die Mitgliedstaaten im sensiblen Bereich der Fiskal- und Wirtschaftspolitik unweigerlich Souveränität nach Brüssel abgeben. Ob dies in einem politischen Klima geschehen kann, in dem von einem erheblichen Teil der europäischen Bevölkerung eher das Gegenteil verlangt wird, ist fraglich. Gleichzeitig ist nicht sofort ersichtlich, welche Politikbereiche europäisiert werden könnten. Als Beispiel wird oft die Arbeitslosenversicherung genannt. Dies wäre jedoch nur schon wegen der heute sehr unterschiedlichen nationalen Systeme schwierig und würde wohl zu politisch umstrittenen permanenten Transfers unter den Mitgliedstaaten führen.
Die alternative Stossrichtung mit einer Insolvenzordnung lässt sich hingegen nur realisieren, wenn gleichzeitig das Problem der Altlasten bei den nationalen Schulden angegangen wird. Sonst gefährdet die Insolvenzordnung die Stabilität der schwächeren Eurostaaten. Auch hier sind die politischen Probleme offensichtlich.
Bei all diesen Problemen darf man aber nicht vergessen, dass die EU in ihrer Geschichte an Krisen immer wieder gewachsen ist. Die Gouvernanz der Eurozone ist in ihrer aktuellen Form nicht nachhaltig, und weitere Reformen in Richtung Fiskalunion oder in die entgegengesetzte Richtung sind deshalb zwingend notwendig.
Paradoxe Situation für Schweiz
Die Schweiz verdient jeden dritten Franken im Handel mit der EU. Sie hat deshalb ein immenses Interesse an einer prosperierenden und stabilen EU. Die EU muss dafür den Binnenmarkt vervollständigen und insbesondere die Gouvernanzprobleme der Eurozone lösen.
Dies führt zu folgendem Paradox: An und für sich liegt es im Interesse der Schweiz, wenn die EU ihren Binnenmarkt vertieft und die Gouvernanzprobleme der Eurozone löst. Gleichzeitig würden damit jedoch die Herausforderungen bei der Weiterentwicklung des bilateralen Wegs eher noch grösser werden, da bei Rechtsharmonisierungen im Binnenmarkt die Hürden für den Marktzutritt aus Drittstaaten tendenziell steigen.
- Europäische Kommission (2015). Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, vorgelegt von Jean-Claude Juncker (EU-Kommission) in Zusammenarbeit mit Donald Tusk (EU-Rat), Jeroen Dijsselbloem (Euro-Gruppe), Mario Draghi (EZB) und Martin Schulz (EU-Parlament), 22. Juni 2015, S. 4. []
Zitiervorschlag: Renggli, Josef (2015). Währungsunion als Test für die EU. Die Volkswirtschaft, 24. November.