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IV-Umbau zielt auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen

Die geplante Revision der Invalidenversicherung will die Chancen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen. Der Bundesrat hat die Vorlage im Dezember in die Vernehmlassung geschickt. Diese endet am 18. März 2016.
Junger Mann in einer therapeutischen Schlosserwerkstatt. Der Übergang ins Berufsleben ist für Jugendliche wichtig. (Bild: Keystone)

Die ersten Ergebnisse der Evaluationen der vierten und der fünften IV-Revision sowie der Revision 6a zeigen: Die Invalidenversicherung wurde in eine Eingliederungsversicherung umgestaltet (siehe Kasten). Obwohl bei den Wiedereingliederungen aus Rente gemäss der Revision 6a die gesetzten Ziele noch nicht erreicht werden konnten, ist der Rentenbestand rascher gesunken als erwartet. Seit 2005 hat der Rentenbestand kontinuierlich abgenommen, obwohl die versicherte Bevölkerung von 4,8 Millionen Personen (Stand Ende 2005) auf 5,2 Millionen (Ende 2013) angestiegen ist.

Aus den Statistiken geht jedoch hervor, dass die Abnahme des Rentenbestands bei jungen Erwachsenen und Personen mit psychischen Beeinträchtigungen deutlich geringer ist. Bei Letzteren fiel der Rückgang der Neurenten im Verhältnis zur versicherten Bevölkerung bis im Jahr 2006 deutlich geringer aus (siehe Abbildung 1). Seit 2007 verläuft die Abnahme der Anzahl Neurenten aufgrund psychischer Leiden in etwa parallel zur Abnahme bei den übrigen Neurenten.

Abb. 1: Neurenten nach Invaliditätsursache




Anmerkung: neues Verfahren ab 2006.

Quelle: IV-Statistik / Die Volkswirtschaft

Das Verhältnis zwischen der Zahl der Rentenbezüger und der versicherten Bevölkerung (Rentenbestandsquote) erreichte im Dezember 2005 mit 5,3 Prozent seinen Höchststand (siehe Abbildung 2). Seither ging diese Quote zurück und betrug im Dezember 2013 noch 4,5 Prozent. In absoluten Zahlen war in diesem Zeitraum eine Abnahme von 252’000 auf 230’000 Renten zu verzeichnen. Dieser Rückgang ist hauptsächlich eine Folge der sinkenden Neurentenquote, die sich in den letzten zehn Jahren halbiert hat. Die Rentenbestandsquote bei psychischen Erkrankungen ist jedoch trotz abnehmender Neurentenquote konstant geblieben.

Abb. 2: Rentenbestand nach Invaliditätsursache




Anmerkung: neues Verfahren ab 2006.

Quelle: IV-Statistik / Die Volkswirtschaft

Der Rückgang der IV-Neurenten in der Schweiz schliesst die 18- bis 24-jährigen Versicherten nicht ein (siehe Abbildung 3): Von 2009 bis 2013 wurde jährlich im Durchschnitt rund 2000 Personen unter 25 Jahren erstmalig eine IV-Rente zugesprochen. Seit 2011 liegt die Neurentenquote bei dieser Altersgruppe sogar über jener der 25- bis 65-Jährigen.

Abb. 3: Neurenten nach Alterskategorie




Anmerkung: neues Verfahren ab 2006.

Quelle: IV-Statistik / Die Volkswirtschaft

Bessere Unterstützung für Arbeitgeber


Eine Untersuchung bei den Rentenbezügern unter 25 Jahren hat ergeben, dass über 90 Prozent dieser Personen vorgängig andere IV-Leistungen zugesprochen wurden. Zwei Drittel dieser Rentenbeziehenden litten an einer psychischen Erkrankung und ein Drittel an einem Geburtsgebrechen.

In ihrem im Januar 2014 veröffentlichten Länderbericht zur psychischen Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz[1] hat die OECD anerkannt, dass die IV gut funktioniert. In diesem Bericht wurden jedoch auch Mängel bei den Arbeitgebern festgestellt: Diese sind für den Umgang mit psychisch erkrankten Arbeitnehmenden kaum gerüstet, und ihre Rolle bei der Wiedereingliederung ist unzureichend. Das IV-System schenkt den Erwerbsanreizen noch zu wenig Aufmerksamkeit. Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und die Sozialdienste können Personen mit psychischen Problemen nur bedingt Unterstützung bieten. Trotz der Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) bestehen nach wie vor Koordinationsprobleme zwischen den verschiedenen Akteuren. Würde das kostenintensive schweizerische Gesundheitssystem seine bestehenden Ressourcen effizienter einsetzen, könnte es in Bezug auf den Arbeitsmarkt noch bessere Leistungen erbringen. Schliesslich werden mit den beträchtlichen Mitteln, die für das Bildungssystem aufgewendet werden, weder Schulabbrüche noch frühe Übergänge zur IV verhindert. Die OECD empfiehlt deshalb:

  • Ausbau der Massnahmen am Arbeitsplatz;
  • Annäherung der Invalidenversicherung an die Arbeitswelt, indem die Rolle der Arbeitgeber und der Nutzen von auf den Arbeitsplatz ausgerichteten Frühinterventionen betont werden;
  • Ausbau der Kompetenzen innerhalb der RAV und Sozialdienste, mit denen sich Probleme am Arbeitsplatz bewältigen lassen, die mit der psychischen Gesundheit zusammenhängen;
  • Gleichstellung des Gesundheitssystems mit den anderen Partnern mithilfe der IIZ und Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Institutionen mit teilweise entgegengesetzten Interessen;
  • Ausrichtung des psychiatrischen Versorgungssystems, das über ausreichende Ressourcen verfügt, auf den Arbeitsplatz;
  • vermehrte Ausrichtung der Bildungspolitik auf den Übertritt ins Berufsleben.

Das System optimieren


Dank den vorgenommenen Gesetzesrevisionen kann der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» im Rahmen der IV umgesetzt werden. Trotzdem muss das System weiter optimiert werden. Die letzten IV-Revisionen zeigten bei den 18- bis 24-Jährigen und bei Personen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht den erwarteten Erfolg. Die Zusammenarbeit mit den Akteuren des Gesundheitswesens und der schulischen und beruflichen Bildung sowie mit den Arbeitgebern und den anderen Sozialversicherungen muss ausgebaut werden. Im Rahmen dieser Reform hat der Bundesrat drei Zielgruppen definiert und für jede dieser Gruppen spezifische Verbesserungen vorgesehen:

  1. Kinder (bis 13 Jahre)
  2. Kinder, Jugendliche und junge psychisch erkrankte Versicherte (13 bis 25 Jahre)
  3. Psychisch erkrankte Versicherte

Die Ausgaben bei Kindern in den Griff bekommen


Bei Kindern mit einem anerkannten Geburtsgebrechen deckt die IV die Kosten von medizinischen Behandlungen. Die Gesamtkosten dieser medizinischen Massnahmen sind von 458 Millionen Franken im Jahr 2001 auf 784 Millionen Franken im Jahr 2013 angestiegen. Dies entspricht einer Gesamtzunahme von 71 Prozent innerhalb von zwölf Jahren.

Daher sind verschiedene Massnahmen vorgesehen: Festlegung der Kriterien für die Übernahme der medizinischen Massnahmen, Aktualisierung der Geburtsgebrechenliste, Anpassung der gewährten IV-Leistungen gemäss den geltenden Kriterien bei der Krankenversicherung, Ausbau und Verbesserung der Steuerung und Fallführung der medizinischen Massnahmen.

Übergang in die Arbeitswelt für Jugendliche verbessern


Bei Kindern im Primarschulalter können weitere Probleme wie Lern- oder Verhaltensstörungen auftreten. Der Übergang I (Übertritt von der Volksschule zur erstmaligen beruflichen Ausbildung / beruflichen Grundbildung) ist für die Erfolgschancen auf dem Arbeitsmarkt von grosser Bedeutung. Dieser Übergang ist besonders heikel für Jugendliche, die noch nicht in der Lage sind, eine erste Ausbildung zu beginnen, und für Jugendliche, die weder eine Lehrstelle noch eine Zwischenlösung gefunden haben. Die betroffenen Jugendlichen müssen angemessen begleitet werden, um die Entstehung, Verschlechterung oder Chronifizierung psychischer Probleme zu verhindern.

Die IV verfügt derzeit über keine gezielten Massnahmen, um die betreffenden Jugendlichen beim Übergang ins Erwerbsleben zu unterstützen. Neu sollen die Instrumente, die sich bei Erwachsenen bewährt haben (Früherfassung, sozialberufliche Integrationsmassnahmen), auf Jugendliche ausgeweitet werden. Die IV sieht auch eine Mitfinanzierung kantonaler Brückenangebote zur Vorbereitung auf die erste Berufsausbildung sowie des kantonalen Case-Managements Berufsbildung vor. Sie richtet die IV-finanzierten Erstausbildungen und die in diesem Rahmen ausgerichteten Taggelder stärker auf einen erfolgreichen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt aus. Zudem erhalten die Jugendlichen von der IV mehr Beratung und Begleitung. Im Weiteren werden die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV über einen längeren Zeitraum erbracht.

Psychische Krankheiten bei Erwachsenen frühzeitig erkennen


Untersuchungen bei Erwachsenen zeigen, dass erste Auffälligkeiten bereits mehrere Jahre vor einer Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen festgestellt werden können. Für den Erhalt des Arbeitsplatzes des Versicherten oder seine Neuplatzierung im Rahmen der Arbeitsvermittlung ist es daher von zentraler Bedeutung, relevante Anzeichen zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen und adäquat zu intervenieren.

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen benötigen spezifische Unterstützung, damit sie im Arbeitsleben verbleiben oder Eingliederungsmassnahmen erfolgreich abschliessen können. Daher sollen Personen mit psychisch bedingtem Invaliditätsrisiko über die Eingliederung hinaus von der IV begleitet und beraten werden. Die sozialberuflichen Integrationsmassnahmen müssen über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Die Einführung eines Personalverleihs erleichtert Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben und erhöht ihre Vermittlungschancen.

Koordination zwischen den beteiligten Akteuren


Abgesehen von den spezifischen Massnahmen für die vorstehend aufgeführten drei Zielgruppen sind im Hinblick auf die Koordination der beteiligten Akteure folgende Verbesserungen angezeigt: Verstärkung der Unterstützung für Arbeitgeber und Abschluss einer Zusammenarbeitsvereinbarung mit Arbeitgebern, Ausbau der Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten, Verlängerung des Schutzes der Versicherten im Fall von Arbeitslosigkeit nach einer Rentenrevision, Gewährleistung ausreichender Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts nach der Meldung an die IV und Einführung eines stufenlosen Rentensystems.

  1. OECD (2014). Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz; siehe auch Soziale Sicherheit CHSS 2/2014. []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Patrick Cudré-Mauroux (2016). IV-Umbau zielt auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Die Volkswirtschaft, 24. Februar.

Von der Rente zur Wiedereingliederung

Die Invalidenversicherung (IV) wurde seit ihrem Inkrafttreten 1960 und der Jahrtausendwende dreimal revidiert. Die vierte Revision trat am 1. Januar 2004 in Kraft. Mit dieser Revision wurden die regionalen ärztlichen Dienste (RAD) und die Dreiviertelsrente eingeführt. Ausserdem baute sie die Leistungen für die berufliche Weiterbildung aus und verstärkte den Anspruch auf aktive Arbeitsvermittlung. Im Weiteren wurde die Hilflosenentschädigung für Personen erhöht, die zu Hause leben. Schliesslich wurde mit der vierten Revision die Grundlage für die Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) geschaffen.

Die fünfte Revision trat am 1. Januar 2008 in Kraft. Um ihre Leitidee Eingliederung vor Rente in die Praxis umzusetzen, wurden verschiedene Massnahmen eingeführt. Dazu gehören die Früherfassung und die Frühintervention, Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung und die Ausweitung der beruflichen Eingliederungsmassnahmen. Ausserdem wurden verschiedene Anreize für Arbeitgeber geschaffen.

Das erste Massnahmenpaket der sechsten Revision (6a) trat am 1. Januar 2012 in Kraft. Es umfasste die folgenden vier Elemente: eingliederungsorientierte Rentenrevision, Neuregelung des Finanzierungsmechanismus, Preissenkungen im Hilfsmittelbereich und Einführung des Assistenzbeitrags.

Das zweite Massnahmenpaket der sechsten Revision (6b) wurde von den eidgenössischen Räten in drei Vorlagen unterteilt. Die Vorlage 2 (Kostenvergütung für stationäre Massnahmen) trat am 1. Januar 2013 in Kraft. Im Juni 2013 wurde die Vorlage 1 vom Parlament abgeschrieben, während die Vorlage 3 sistiert wurde.