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Koordiniertes Vorgehen bei Interessengegensätzen

Die Interessen von Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit sind nicht immer deckungsgleich – wie sich etwa im Rohstoffhandel zeigt. Deshalb will der Bundesrat der Politikkohärenz konsequent Beachtung schenken.

Koordiniertes Vorgehen bei Interessengegensätzen

Mutter mit Kind holt in der Nähe einer Kupfermine in Sambia Wasser. Der Rohstoffabbau führt mancherorts zu Interessenkonflikten. (Bild: Keystone)

Entwicklungsziele werden einfacher erreicht, wenn verschiedene Politikbereiche unter Berücksichtigung gewisser Grundsätze aufeinander abgestimmt sind.[1] Damit ist die Politik gefordert: Sie muss dafür sorgen, dass unterschiedliche sektorielle Politiken die Ziele und Massnahmen der Entwicklungszusammenarbeit nicht unterlaufen. Dieses gemeinsame Vorgehen der Akteure ist als «Politikkohärenz für Entwicklung» (Policy Coherence for Development) bekannt.

In der Schweiz geht die Debatte zu den Auswirkungen der Politik auf Entwicklungsländer bis in die Siebzigerjahre zurück. Ein Markstein in dieser Diskussion ist das bundesrätliche Leitbild Nord-Süd von 1994. Diese Gesamtschau der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Schweiz zu den Entwicklungsländern war geprägt durch das Ende der bipolaren Weltordnung und die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992. Darin postulierte der Bundesrat eine «kohärente Südpolitik», in welcher er mögliche Widersprüche zwischen verschiedenen Zielen nationaler Politik zur Diskussion und Lösung bringen wollte.[2] Nach der Jahrtausendwende intensivierte sich die Diskussion auch in anderen Ländern und in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Als Schlagwort ist «Politikkohärenz für Entwicklung» in politischen Diskussionen jeweils schnell zur Hand: Ein prominentes Beispiel ist die Debatte um den Rohstoffabbau in Entwicklungsländern.[3] Fundierte Konzeptdiskussionen sind hingegen – auch im Ausland – bisher vor allem ein Thema für Insider geblieben. Ist Politikkohärenz für Entwicklung deshalb ein Papiertiger? Im Gegenteil. Denn das Konzept macht sich ein Kernelement von Politik zum Thema: den Umgang mit Interessengegensätzen.

Dementsprechend wird das Konzept hinsichtlich seiner Ansätze, seiner Legitimation und des bisher Erreichten sowie seiner Bedeutung für die Gestaltung künftiger Politik kontrovers diskutiert. Wie das Regierungssystem mit Interessengegensätzen umgeht, wird allerdings meist im Rahmen von Entscheiden zu konkreten Sachthemen geklärt. Beispiele hierfür sind Waffenexporte in Konfliktgebiete, Gewinnverlagerungen beim Rohstoffabbau oder Patentschutz und Preisbildung bei Medikamenten für Entwicklungsländer.[4]

Diese Themen – teilweise seit über 30 Jahren Teil der Politikkohärenz-Agenda – haben mit zunehmender Intensivierung der internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zusätzlich an Aktualität gewonnen. Hinzu kamen globale Risiken, hervorgerufen durch Klima, Konflikte und Migration. Mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat die UNO einen universellen, für alle gültigen Orientierungsrahmen geschaffen, um globale Probleme gemeinsam anzugehen.[5] Indem die internationale Gemeinschaft insbesondere die Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zielen anerkennt, hat auch die Kohärenzdiskussion weiter an Bedeutung gewonnen: Ein koordiniertes Handeln von Regierungen wird heute als mitentscheidend für einen effizienten Einsatz knapper (Finanz-)Ressourcen und für die Erreichung der gesetzten Ziele angesehen.

Umgang mit Zielkonflikten ist Teil der Regierungsroutine


Zielkonflikte im Regierungshandeln sind keine Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems. In den meisten Verfassungen lassen sich Spannungsfelder zwischen verschiedenen Verfassungszielen ausmachen.[6] Der Umgang mit diesen Herausforderungen ist selbstverständlicher Teil des Regierungs- und Verwaltungsalltags. So stellen seit Jahrzehnten etablierte verwaltungsinterne Abläufe sicher, dass der Bundesrat in seiner Beschlussfassung routinemässig und bewusst Güterabwägungen vornehmen kann.[7] Dabei können im Bundesrat mögliche Zielkonflikte frühzeitig identifiziert und gemindert, Synergiepotenziale zwischen Politikfeldern erkannt und ausgeschöpft sowie negative Auswirkungen schweizerischer Politiken thematisiert werden.

Damit folgt der Bundesrat dem, was die OECD als «Gute Praxis» postuliert (siehe Abbildung).[8] Es ist Aufgabe der für die internationale Zusammenarbeit zuständigen Bundesstellen, dem Bundesrat die nötigen Informationen zu liefern, damit er in Kenntnis der Politikdilemmata informierte Entscheidungen treffen kann. Allein die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) kommentiert jährlich mindestens 70 Bundesratsgeschäfte. Am anderen Ende der Wirkungskette der Entwicklungspolitik – bei der konkreten Umsetzung von Zusammenarbeitsprogrammen in Partnerländern – sind geografische oder thematische Gesamtstrategien darauf ausgerichtet, dass die konkreten Aktivitäten verschiedener Bundesstellen aufeinander abgestimmt werden.

Die wichtigsten OECD-Ziele der Politikkohärenz


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Quelle: OECD 2015 / Die Volkswirtschaft

Zusammenarbeit in der Verwaltung verstärken


In den letzten 15 Jahren fand Politikkohärenz als Politikansatz in verschiedenen europäischen Ländern Eingang in Planung, Umsetzung und Rechenschaftsablage. Vereinzelt erreichte Politikkohärenz gar Verfassungsrang – etwa in der EU. In der Schweiz kam die Diskussion trotz guter Voraussetzungen Ende der Neunzigerjahre hingegen zum Stillstand. Dank der Agenda 2030 findet der Ansatz nun in die Schweizer Politik zurück.

Welche Akzente der Bundesrat in seiner Kohärenzpolitik gegenüber Entwicklungs-, Transitions- und Schwellenländern setzt, hat er in seiner Botschaft über die Internationale Zusammenarbeit 2017–2020 umrissen. Besondere Aufmerksamkeit lässt er künftig Themenbereichen zukommen, wo die Schweiz und der Wirtschaftsstandort Schweiz eine besonders bedeutsame Rolle spielen und eine besondere Verantwortung haben. Dazu zählen Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft und Ernährung, Chemie und pharmazeutische Produkte sowie der Rohstoffhandel.

Schwerpunkte bei ihren Bemühungen für mehr Politikkohärenz werden die zuständigen Bundesämter – gemeinsam mit weiteren Akteuren – deshalb insbesondere in den Politikfeldern Internationale Finanzflüsse und Steuerfragen, Umwelt, Handel, Investitionen und Unternehmensverantwortung, Migration sowie Gesundheitsfragen setzen. Der Bund sucht dabei, wo es möglich und zielführend ist, den Austausch und die Kooperation mit anderen Geberländern, internationalen Organisationen sowie regierungsunabhängigen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft.

Bundesrat als zentraler Akteur


Die reale Bedeutung und der damit verbundene Handlungsbedarf für eine konsequente Umsetzung der Kohärenzperspektive haben zugenommen. Mit der Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit 2017–2020 signalisiert der Bundesrat, dass er bereit ist, diesem Ansatz bei der Umsetzung der Agenda 2030 hohe Priorität einzuräumen.

Das Schweizer Regierungs- und Verwaltungssystem zeichnet sich durch institutionelle Eigenheiten aus, welche Politikkohärenz tendenziell positiv beeinflussen. Namentlich die weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten der Fachämter für Internationale Zusammenarbeit an der Vorbereitung von Regierungsentscheiden liefern dafür eine wichtige Basis. Gleiches gilt für den traditionell gepflegten Einbezug nicht staatlicher Akteure in Politikformulierung und Umsetzung bei der internationalen Zusammenarbeit. Denn: Offene Diskussionsräume sind unabdingbar für informierte und tragfähige Entscheide der Behörden.

Günstige institutionelle Voraussetzungen und eine langjährige Kohärenzdebatte haben jedoch nicht zwingend kohärentere Politiklösungen zur Folge. So ist eine informierte Diskussion mangels zuverlässiger Daten und Instrumente faktisch kaum möglich.[9] Der Bundesrat will diesen Fragen deshalb künftig mehr Raum geben und dazu regelmässig Bericht erstatten. Damit entspricht er einer Forderung der OECD. Diesbezügliche Grundlagen gilt es aber erst noch zu schaffen.[10]

Günstige institutionelle Voraussetzungen, solide methodische Ansätze und eine gute Datenlage sind zwar eine wichtige Grundlage für mehr Politikkohärenz. Dies lassen bisherige Erfahrungen vermuten. Entscheidend sind letztlich aber die Akteure – so namentlich die Zusammensetzung des Bundesrats. Dazu kommt, dass der Bundesrat nur einer unter mehreren gewichtigen Akteuren ist, neben Parlament und letztlich Souverän. In diesem Sinne bleibt Politikkohärenz für Entwicklung auch in Zukunft eine Herausforderung.

  1. Der Autor dankt Prof. Gilles Carbonnier (Graduate Institute, Genf), Dr. Elisabeth Bürgi Bonanomi (Universität Bern) und Roland Widmer (Seco) für Kommentare und Anregungen. []
  2. Deza (1994). Bericht des Bundesrates über die Nord-Süd-Beziehungen der Schweiz in den 90er Jahren (Leitbild Nord-Süd) vom 7. März 1994, Bern. []
  3. Kontrovers diskutiert wurden beispielsweise Fragen zu Verankerung von Sorgfaltspflichten im Schweizer Rechtsrahmen für in der Schweiz ansässige multinationale Unternehmen der Rohstoffbranche zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. Siehe dazu die gegensätzlichen Würdigungen der OECD im Länderexamen 2013 zur Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, S. 29 einerseits und der regierungskritischen NGO Erklärung von Bern in der Analyse «Endlich mehr Transparenz?!» vom 28. März 2013 andererseits. []
  4. Für eine Gesamtschau aktueller Themen siehe beispielsweise Policy Coherence for Development (PCD) 2015 EU Report. Mit der Perspektive auf die Politikformulierung wird allerdings die Frage ausgeblendet, ob die beschlossenen Politiken in Partnerländern auch tatsächlich die intendierten Wirkungen zeigen. []
  5. Für die Nachhaltigen Entwicklungsziele siehe UNO-Resolution A/RES/70/1 vom 25. Sept. 2015; siehe auch Outcome Document der Addis Ababa Action Agenda vom 17. Juli 2015. []
  6. Artikel 54 Absatz 2 der Schweizer Bundesverfassung zu den Auswärtigen Angelegenheiten bringt dies exemplarisch zum Ausdruck. Während der Bund verpflichtet ist, sich einerseits für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihre Wohlfahrt einzusetzen, soll er andererseits Beiträge zur Lösung globaler Probleme leisten, was in kürzeren Zeiträumen mit deutlichen Einschränkungen der innerstaatlichen Handlungsfreiheit in gewissen Politikbereichen verbunden sein kann. Je langfristiger die Betrachtungsweise, desto mehr nähern sich indessen global bedingte Handlungserfordernisse und unmittelbare Wohlfahrtinteressen der Schweiz an. []
  7. Die Bundesverwaltung kennt ein zweistufiges Konsultationsverfahren zur Vorbereitung von Bundesratsentscheiden: Ämterkonsultationsverfahren (technische Ebene) und Mitberichtsverfahren (politische Konsultation zwischen Mitgliedern des Bundesrats). Für eine detaillierte Darstellung der Mechanismen zur Förderung von Politikkohärenz für Entwicklung in der Schweiz siehe: European Centre for Development Policy Management (2013). Putting Policy Coherence for Development into Perspective. Switzerland’s Promotion of PCD in Commodities, Migration and Tax Policy. []
  8. OECD (2015). Better Policies for Development 2015, S. 41. []
  9. Monitoringsysteme regierungsunabhängiger Organisationen wie etwa der Commitment to Development Index des Center for Global Development oder der Sustainable Governance Indicator der Bertelsmann-Stiftung kommen zu unterschiedlichen Resultaten. Teilweise weisen sie zudem beträchtliche methodische Schwächen auf. []
  10. In der Peer Review 2013 hat der OECD-Entwicklungsausschuss die Schweiz eingeladen, ihre Politiken mit Auswirkungen auf Entwicklungsländer systematisch zu monitorieren und analysieren. Vgl. in diesem Zusammenhang European Centre for Development Policy Management (2015). Monitoring and Reporting on Policy Coherence for Sustainable Development (PCD): the Example of Switzerland. Case Studies on Food Security, Illicit Financial Flows and Migration & Development. []

Zitiervorschlag: Werner Thut (2016). Koordiniertes Vorgehen bei Interessengegensätzen. Die Volkswirtschaft, 24. Februar.