Für den Verbleib in der Schweiz gibt es gute Gründe
Mann montiert Gondelkabine: Bei Produkten, welche auf die Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind, verfügt der Industriestandort Schweiz über einen Vorteil gegenüber Billiglohnländern. (Bild: Keystone)
In den vergangenen Monaten haben zahlreiche Industrieunternehmen angekündigt, ihre Produktion teilweise ins Ausland zu verlagern oder gar ganze Standorte in der Schweiz zu schliessen. Bei den Entscheiden argumentierten sie massgeblich mit den Lohnkosten – auch aufgrund des zeitlichen Zusammenfallens mit der Aufhebung des Mindestkurses von Anfang letzten Jahres.
Lohnkostenunterschiede sind jedoch nicht die alleinige Ursache für die aktuell schlechte Lage der Schweizer Industrie. Der Branchenverband Swissmechanic teilte letztes Jahr mit, eine Kombination aus hohen Lohnkosten, schwachem Euro und schwacher Konjunktur im europäischen Ausland habe die Lage negativ beeinflusst.[1]
Klar ist: Für die Verlagerung von Produktionsvolumen gibt es gute Gründe. Allen voran ist dies die Sicherung von strategisch wichtigen Marktzugängen. So können Produzenten durch eine Verlagerung beispielsweise Einfuhrbeschränkungen umgehen. Oder die Standortverlegung hilft ihnen, einen verlangten Wertschöpfungsanteil im Absatzmarkt (local content) zu erfüllen. Zudem können je nach Produkt die Logistikkosten gesenkt werden.[2]
Lohnkosten in China stark angestiegen
Kostengünstige Produktionsfaktoren gehören zu den gängigen Gründen für die Internationalisierung[3]: Eine Untersuchung von mehr als 60 internationalen Produktionsnetzwerken ergab, dass von den 475 erfassten Standorten 120 primär wegen des Zugangs zu «low cost» als strategischen Grund aufgebaut wurden.[4] Dies zeigt: Standortverlagerungen oder -gründungen aufgrund von Lohnkostenvorteilen haben durchaus eine gewisse Historie.
Der Zugang zu kostengünstigen Ressourcen ist jedoch oftmals nicht von langer Dauer, wie am Beispiel China klar wird. Während ausländische Unternehmen dort noch in den Nullerjahren bei Markteintritten massgeblich mit Lohnkostenvorteilen argumentierten, steht heute die Sicherung des Zugangs zum chinesischen Absatzmarkt im Vordergrund. Ursache dafür sind auch die während der letzten zehn Jahre um rund 270 Prozent gestiegenen durchschnittlichen Lohnkosten – eine dynamische Entwicklung, die von den wenigsten Unternehmen zum Zeitpunkt des Verlagerungsentscheids so berücksichtigt wurde.[5] Entsprechende Dynamiken bei den Faktorkosten müssen bei jedem Verlagerungsentscheid ausreichend antizipiert werden und in die Gesamtbewertung einfliessen.
Teure Aufbauphase
Bei der finanziellen Analyse müssen auch Entscheidungsfaktoren wie das Hochfahren der Produktion am neuen Standort dynamisch betrachtet werden. So wirkt sich die Phase, bis die Produktion angelaufen ist, negativ auf den Zeitpunkt des Break-even aus.[6] Offen bleibt zudem, ob ein neuer Standort mittel- bis langfristig in der Lage sein wird, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen.
Unternehmen ergreifen in der Regel noch Jahre nach einer Standorteröffnung diverse Unterstützungsmassnahmen, um die Leistungsfähigkeit der neuen Produktionsstandorte auf die gewünschten Zielwerte zu heben. Experten für Logistik, Anlauf, Qualität [7], Produktionstechnologien und -prozesse müssen an die ausländischen Standorte entsendet werden – in der Regel zu finanziellen Lasten der Stammwerke.
Solche Anlauf- und Anschubkosten werden bei der Verlagerungsplanung häufig nicht berücksichtigt und später nicht verursachungsgerecht im Produktionsnetzwerk verrechnet. Auf der Kostenseite wirken sich die geringeren Produktivitätsniveaus gewisser Auslandsstandorte im Vergleich zum Schweizer Werk negativ aus. Um eine wahre Kostenbetrachtung zu ermöglichen, greift eine reine Betrachtung der Stundenlöhne daher zu kurz. Insbesondere, wenn das Automatisierungs- und Technologieniveau beibehalten wird.
Auch sollten die zum Teil enormen Kosten für eine Standortschliessung berücksichtigt werden. Zwar bestehen gewisse Unterschiede zwischen den europäischen Ländern; Posten wie Sozialpläne, Abschreibungen usw. fallen aber meist hoch aus.
Freihandelsabkommen als Standortvorteil
Ein finanzieller Pluspunkt für den Standort Schweiz sind die vielen Freihandelsabkommen – unter anderem mit China, Japan und Hongkong. Sie bieten für den Export von Waren eine gewisse Attraktivität.
In die Entscheidungsfindung müssen auch weiche (nicht finanzielle) Faktoren einfliessen. Das sind beispielsweise das Einflusspotenzial von Gewerkschaften, die kulturelle Distanz zum fremdsprachigen Standort, die dortige Flexibilität der Arbeitszeitmodelle sowie die Verfügbarkeit von loyalen und vor allem kompetenten Arbeitskräften. Zudem muss der Standortentscheid in die Gesamtstrategie des Unternehmens passen.
Strategische Überlegungen sind wichtig
Forscher haben dem Phänomen der Rückverlagerung in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. In empirischen Studien[8] werden folgende Gründe für eine Rückverlagerung von einst ausgelagerten Produktionsaktivitäten genannt:
- Probleme mit der Qualität;
- unzureichende Liefergeschwindigkeit aus dem Auslandsstandort heraus;
- gestiegene Lohnkosten;
- Aufwand für Koordination und Monitoring des Auslandsstandorts;
- gestiegener Einsatz von Automatisierungstechnologien;
- Fokus auf die Kernaktivitäten.
Ebenso werden positive Effekte wie die räumliche Nähe von Produktion und Entwicklung als Argumente für Rückverlagerungen ins Heimatland angeführt.[9] Abgesehen von den Qualitätskosten weisen diese Gründe einen stark strategischen Charakter auf. Sie lassen sich daher nur schwer in der finanziellen Bewertung von Standortalternativen berücksichtigen.
Jedes Unternehmen sollte – abhängig von den produkt-, leistungs- und unternehmensspezifischen Rahmenbedingungen – überprüfen, welche Rolle die Produktion im Unternehmen tatsächlich spielt oder spielen kann: Handelt es sich um eine Aktivität ohne strategischen Mehrwert, welche vielerorts ausgeführt werden kann? Oder stellt die Produktion einen integralen und wertvollen Bestandteil des Unternehmens dar, der einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu schaffen vermag?
Diese Diskussion wird seit den späten Sechzigerjahren für die USA geführt – ausgelöst durch einen Beitrag des ehemaligen Harvard-Professors Wickham Skinner zur Bedeutung der Produktion für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen.[10] Ihm folgend, plädieren wir gegen eine Betrachtung, die ausschliesslich kosten- und effizienzgetrieben ist. Vielmehr gilt es die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Geschäftsstrategie und Produktionsstrategie anzuerkennen und das strategische Potenzial der Produktion zu nutzen.
Gegebenenfalls sind – unausweichlich – einzelne Teilaktivitäten auszulagern. Strategisch bedeutsame Aktivitäten dürfen hingegen nicht leichtfertig im selben Handstreich mit ausgelagert werden. Das gilt etwa für komplexe, anspruchsvolle und auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Produkte, welche in kurzer Zeit entwickelt und geliefert werden müssen, oder für Waren mit dem Swissness-Label.
Analyse statt Bauchgefühl
Selbstverständlich gehören eine kontinuierliche Verbesserung sowie Effizienz- und Produktivitätssteigerungen zu den Pflichtaufgaben der Schweizer Produktionsstandorte. Ausgehend von unseren Erfahrungen der letzten 15 Jahre mit Industrieunternehmen, raten wir den Unternehmen, ein Konzept für das strategische Produktionsmanagement auszuarbeiten.
Den Ausgangspunkt stellt dabei die Geschäftsstrategie dar. Daraus müssen die Unternehmen klare Bekenntnisse bezüglich Leistungsumfang, Ressourcen, Organisation von Standort und Gesamtnetzwerk sowie beteiligter Mitarbeiter ableiten. Und: Um den bisher oftmals am Bauchgefühl orientierten Entscheidungen eine belastbare Datenbasis gegenüberzustellen, müssen sie die Produktion mit intelligenten Mess- und Steuerungsansätzen analysieren. Auch die vorhandene Datenbasis können sie effektiver nutzen. Aktuell greifen nur wenige Unternehmen auf die in grossem Umfang gesammelten Maschinen- und Prozessdaten – Stichwort Big Data – zur Hebung von Verbesserungspotenzialen zu.
Ebenso gehören die aus Deutschland stammenden Ansätze zur integrierten Implementierung von Technologien und Konzepten, die im Kontext von Industrie 4.0 diskutiert werden, dazu. In den USA werden ähnliche Inhalte unter dem Stichwort Smart Manufacturing diskutiert, und in China werden – auch aufgrund der angesprochenen Lohnkostenproblematik – im Rahmen der Initiative «Made in China 2025» enorme Anstrengungen in dieselbe Richtung unternommen. Ein deutsch-chinesisches Abkommen soll die Zusammenarbeit von Unternehmen beider Länder in puncto intelligenter Fertigung und digitaler Vernetzung der Produktion fördern. Schweizer Unternehmen sollten möglichst rasch prüfen, welche Potenziale sich auch für sie aus dieser Entwicklung ergeben, und diese zur Verbesserung ihrer Prozesse und zur Schaffung neuer Geschäftsmodelle nutzen.
Insbesondere international agierende Unternehmen müssen klären, wie bestehende Stärken des Schweizer Standorts für ihre Produktionsnetzwerke zu nutzen sind. Reife Produktionsstandorte, wie wir sie in der Schweiz häufig vorfinden, sind oftmals besser in der Lage, mit komplexen Produkten und Produktionsverfahren umzugehen. Sie verfügen über die nötige Flexibilität in der Produktion und können auch anspruchsvolle Produkte in die Serienreife bringen. Damit meistern sie auch die herausfordernde Aufgabe des An- und Hochlaufs von Produkten für andere Standorte.
Erstaunlicherweise bereitet es gegenwärtig einer Vielzahl von Unternehmen Schwierigkeiten, einen Entscheid aus einer Gesamtperspektive abzuleiten. So fokussiert die Diskussion fast ausschliesslich auf die Produktionskosten – obwohl sich der starke Franken auf administrative Aufgaben, F&E-Aktivitäten usw. gleichermassen stark auswirkt.
Einmal weg – immer weg
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sind Verlagerungsentscheidungen insofern problematisch, als es sich jeweils nicht nur um Entscheidungen mit isolierten Auswirkungen auf ein einzelnes Unternehmen handelt. Denn: Gehen in grossem Umfang Arbeitsplätze und damit indirekt auch Fähigkeiten und Know-how verloren, läuft die Schweiz Gefahr, dieses Wissen langfristig zu verlieren.
Mit dem Wegbrechen von Schlüsselunternehmen einer Branche besteht die Gefahr des Auseinanderbrechens der zugehörigen Industriecluster. In jedem Fall gehen damit Industriearbeitsplätze verloren. Dieser Effekt kann am Beispiel der Textilindustrie in der Ostschweiz gut nachvollzogen werden: Zunächst verlassen die Hersteller der Vorprodukte (Garne und Stoffe) wegen des Preisdrucks das Land; die Zulieferindustrie (Textilmaschinen) folgt. Letztlich stirbt ein ganzes Ökosystem aus Unternehmen mitsamt den zugehörigen Fähigkeiten.
Zwar können die Arbeitnehmer mit diesen Fähigkeiten, sofern es sich um generalistische Fähigkeiten handelt, anderen Branchen zur Verfügung stehen; so profitierte die Medizinalbranche in hohem Masse von den Kompetenzen, die in der Schweiz aufgrund der Uhren- und Feinmechanikbranche vorhanden sind.[11] Einmal verlorene spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen sind jedoch kaum mehr zu erlernen. Und Rückverlagerungen sind äusserst schwierig, wie Beispiele aus den USA zeigen.[12]
Bei den aktuellen Verlagerungen handelt es sich nicht um einen branchenspezifischen Vorgang. Vielmehr scheint es, dass Industriearbeitsplätze im Allgemeinen zur Disposition stehen. Diese Irreversibilität hat langfristige Konsequenzen für die Schweiz als Industriestandort und damit für den Wohlstand der Schweiz.
- Swissmechanic (2015). []
- Vgl. Bartlett und Ghoshal (1998). []
- Vgl. Kinkel (2009). []
- Nicht veröffentlichte Untersuchung von Produktionsnetzwerken in Deutschland, Österreich und der Schweiz des Instituts für Technologiemanagement der Universität St. Gallen im Jahr 2011. []
- China Statistical Yearbook-2014 (2015). []
- Kinkel (2009). []
- V. a. bezüglich Etablierung von Pull-Produktion, des Fliessprinzips und der kontinuierlichen Verbesserung von Abläufen. []
- Vgl. Kinkel (2014); Arlbjørn und Mikkelsen (2014); Fratocchi u. a. (2014). []
- Kinkel (2012); Arlbjørn und Mikkelsen (2014). []
- Skinner (1969); Wheelwright und Hayes (1985). []
- Gelb und Glauser (2014). []
- Vgl. Davidson (2015). []
Literaturverzeichnis
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- Bartlett, Christopher A. und Sumantra Ghoshal (1998). Managing Across Borders : the Transnational Solution / Christopher A. Bartlett and Sumantra Ghoshal. Boston, MA Harvard Business School 1998.
- China Statistical Yearbook-2014 (2015). Stats.gov.cn
- Davidson, Paul (2013). Some Apparel Manufacturing ‹Reshoring› to USA. USA Today.
- Fratocchi, Luciano, Carmela Di Mauro, Paolo Barbieri, Guido Nassimbeni und Andrea Zanoni (2014). When Manufacturing Moves Back: Concepts and Questions, in: Journal of Purchasing and Supply Management 20 (1): 54–59.
- Gelb, Stephen und Michèle Glauser (2014), Wie sich Unternehmen in die globalen Wertschöpfungsketten integrieren, in: Die Volkswirtschaft, Nr. 12: 27–30.
- Kinkel, Steffen, Hrsg. (2009). Erfolgsfaktor Standortplanung: in- und ausländische Standorte richtig bewerten, 2, überarb. Aufl., Berlin.
- Kinkel, Steffen (2012). Trends in Production Relocation and Backshoring Activities: Changing Patterns in the Course of the Global Economic Crisis, in: International Journal of Operations and Production Management 32 (6): 696–720.
- Kinkel, Steffen (2014). Future and Impact of Backshoring—Some Conclusions from 15 Years of Research on German Practices, in: Journal of Purchasing and Supply Management 20 (1): 63–65.
- Skinner, Wickham (1969). Manufacturing – Missing Link in Corporate Strategy. Harvard Business Review 47 (3): 136.
- Swissmechanic (2015), Deindustrialisierung im Verborgenen, Medienmitteilung vom 13. November 2015
- Wheelwright, Robert H. und Steven C. Hayes (1985). Competing Through Manufacturing, in: Harvard Business Review 65 (1): 213–23.
Bibliographie
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Zitiervorschlag: Friedli, Thomas; Lützner, Richard; Wenking, Marian (2016). Für den Verbleib in der Schweiz gibt es gute Gründe. Die Volkswirtschaft, 23. März.