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Der kritische Konsument

Gesundes Essen allein genügt dem Konsumenten nicht mehr: Der Koch muss ihm erzählen, von welchem Hof das Fleisch stammt und ob die Tiere ein anständiges Leben geführt haben. Schweizer Anbieter können dabei vom Trend zum Lokalen profitieren.

Der kritische Konsument

Ein Löffel Glace gefällig? Die italienische Trendkette Eataly verspricht «Genuss ohne Reue». Filiale in New York. (Bild: Alamy)

Werbung soll verführen. Sie weckt Sehnsüchte von Konsumenten und zeigt Wege auf, wie diese vermeintlich befriedigt werden können. Gute Werbung adressiert den aktuellen konsumbezogenen Zeitgeist einer Gesellschaft. Die kritischen Konsumenten von heute lassen sich jedoch kaum mehr mittels geschönter Hochglanzbilder übertölpeln. Unternehmen wie & Other Stories reagieren darauf, indem sie ihre Kundinnen ernst nehmen und versuchen, ihnen «ehrliche» Geschichten zu verkaufen (siehe Kasten).

Das liegt im Trend. Branchenübergreifend lässt sich ein Wandel zu mehr Authentizität im Auftritt von Marken und Unternehmen feststellen. Zählte in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch allenthalben demonstrativer Konsum (Güter mit Signalwirkung, Bling-Bling, Grösser-schneller-weiter, Mehr-von-allem), grenzen sich heute aufgeklärte Konsumenten in westlich geprägten, reifen Märkten eher durch bewussten Konsum und Understatement ab.[1]

Der heutige Konsument zeigt zudem gewisse Konsummüdigkeit, die unter anderem von einem abnehmenden Grenznutzen des Materiellen geprägt ist.[2] Das Glücksgefühl nimmt nicht mehr proportional mit jedem Kauf zu, Güter anzuhäufen, kann im Gegenteil sogar belasten. Daneben wächst die Einsicht, dass jede Konsumation unseren ohnehin schon viel zu grossen ökologischen Fussabdruck erhöht. Diese Mischung aus zunehmender Informiertheit und kritischem Bewusstsein bei gleichzeitiger Saturiertheit führt zu neuen Konsumpraktiken, die vor allem Branchen wie Luxusgüter, Tourismus, Mobilität und Lebensmittel zu spüren bekommen.

Hersteller setzen auf Transparenz


«Lieber Biogemüse, dafür weniger Fleisch» oder «Wenig, dafür hochwertiges Fleisch». Diese Aussagen stammen aus Interviews mit Schweizer Konsumenten, welche die Autorin letztes Jahr im Rahmen einer Studie des Gottfried-Duttweiler-Instituts (GDI) durchgeführt hat, und spiegeln die sich verändernden Werthaltungen beim Essen wider.[3] Die Menschen sehnen sich nach «gutem» Essen, das über die gesamte Wertschöpfungskette Nachvollziehbarkeit und Natürlichkeit bieten muss.[4]

Die Nahrungsmittelbranche nimmt sich dieses Wertewandels langsam an. Noch sind die Anstrengungen und eingesetzten Mittel nicht hinreichend, um das verloren gegangene Vertrauen wiederaufzubauen. Notwendig ist eine lückenlose Transparenz in Bezug auf die möglichst regionale und nachhaltige Herkunft und Herstellung, die möglichst schonungsvolle Verarbeitung und die möglichst natürliche und ausgewogene Zusammenstellung der Produkte.

Die etablierten Player tun dies, weil sie von zwei Seiten unter Druck geraten: Einerseits gibt es Quereinsteiger, die dank innovativen Nischenangeboten näher bei den Konsumenten sind. So belebt etwa der Gemüseproduzent Schnägg in Zürich das Take-away-Angebot – «vom Hof direkt in den Laden» ist die Devise.

Andererseits emanzipieren sich die Konsumenten, indem sie sich mit Bauern oder anderen Konsumenten in Kooperativen zusammenschliessen.[5] Dank der digitalen Vernetzung ist das Teilen von Lebensmitteln in der sonst so anonym gewordenen Nachbarschaft wieder einfacher möglich – zahlreiche Beispiele wie Foodsharing.de oder Eatwith.com zeugen vom Erfolg dieser Konzepte.[6]

Köche als Geschichtenerzähler


Auch die Gastronomie greift diese Trends auf. So geht es etwa in Restaurants nicht mehr allein um gutes, sprich frisches, saisonales, natürliches, nachhaltiges, gesundes und geschmackvolles Essen, sondern auch um die Geschichte der Speisen. Das Fleisch stammt vom Produzenten X aus Ort Y, der seine Tiere von der Geburt bis zum Tod anständig und würdevoll behandelt. Und selbstverständlich kennt der Koch den Produzenten persönlich, eine partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehung verbindet die beiden. Überhaupt stehen Produzenten und Verarbeiter der Speisen viel stärker im Fokus. Eine neue Generation von Chefköchen demonstriert, dass diese Philosophie nicht nur die nordische Küche, sondern auch die Spitzengastronomie weltweit neu geprägt hat – auch in der Schweiz, wie es die «Gault Millau»-Jungköche Nenad Mlinarevic und Sven Wassmer vormachen.[7]

Gutes Essen ist jedoch kein reines Luxusphänomen: Dies zeigen Angebote im sogenannten Fast-Casual-Bereich von Gastroketten wie Vapiano oder Wagamama, die qualitativ hochwertiges Essen zu fairen Preisen in gemütlicher, unkomplizierter Atmosphäre anbieten. Zunehmend orientieren sich auch die klassische Fast-Food- und Systemgastronomie-Branche an diesen neuen Standards.

Geniessen ohne Reue im Detailhandel


Auch die Händler reagieren auf die veränderten Bedürfnisse, indem sie mehr umfassende Nachhaltigkeit, Ursprungsnähe und neue Formen des Sich-Einbringens bieten. Den Konsumenten fallen die Entscheidungen in einem Umfeld mit fast endloser Auswahl aber zunehmend schwer: Ist die Biotomate aus Italien nun nachhaltiger als die regionale, konventionell angebaute?

Solche Ansprüche setzen den Handel unter Druck, bestimmte Werte zu adressieren und sein Angebot entsprechend auszurichten. Aufgrund ihres Wissensvorsprungs in Bezug auf die Wertschöpfungsketten und die Auswirkungen ihrer Produkte auf die Umwelt und die Gesundheit sind Detailhändler durchaus in der Lage, den Konsumenten die guten Kaufentscheidungen zu vereinfachen. Etwa durch ein auserlesenes («kuratiertes») Sortiment, die Ladengestaltung, Promotionen oder Beratung. Der italienische Supermarktbetreiber Eataly, der Vielfalt, Qualität und «Genuss ohne Reue» verspricht, steht exemplarisch für diese neue Generation von Läden.

Ein Angebot, das den neuen Bedürfnissen nach Nachhaltigkeit und Ursprungsnähe entspricht, hat seinen Preis. Händler erfahren schmerzliche Einbussen, wenn Konsumenten im grenznahen Ausland einkaufen. Insbesondere wenn es sich dabei um ein international erhältliches Markenshampoo handelt, wird es für Schweizer Anbieter schwierig, die massiven Preisunterschiede zu rechtfertigen. Umgekehrt können sie vom Trend zum Lokalen profitieren: Sie müssen ihren Konsumenten nur mitteilen, wieso Schweizer Kosmetika, Lebensmittel und andere Güter ihren Preis tatsächlich «wert sind». Das gelingt nicht mit «Preisschlachten», sondern mit einer besseren Kommunikation des Preis-Leistungs-Verhältnisses.

Der Mensch als Datensammler


Die soeben skizzierten Foodtrends werden heute schon ansatzweise adressiert – doch ist dies erst der Anfang noch viel umfassenderer Entwicklungen weltweit. Mit der vierten industriellen Revolution – mit den Fortschritten in Datenverarbeitung, Vernetzung, Technik und Medizin – wird eine gänzlich neue Stufe personalisierter Konsumation von Gütern und Dienstleistungen erreicht werden. Die zunehmende Digitalisierung verbindet nicht nur unbelebte Objekte miteinander und lässt diese miteinander kommunizieren, sondern verwandelt auch den Menschen selbst in ein datensammelndes Wesen (Stichwort: Quantified Self[8]). Über Smartphone-Apps und Wearables erhalten sie jederzeit Rückmeldung über ihren physischen und psychischen Zustand, inklusive Optimierungsmöglichkeiten.

Gleichzeitig reagiert und antizipiert die vernetzte Umwelt aufgrund allgegenwärtiger Algorithmen auf Bedürfnisse, die wir noch nicht einmal artikuliert haben: Der Kühlschrank, der sich aufgrund unserer gespeicherten Essgewohnheiten und dem aktuellen Vorratsstand selber wieder auffüllt; der Küchenroboter, der auf App-Befehl schon einmal beginnt zu kochen, während wir noch unterwegs sind, und das Armband, das uns auffordert, den Heimweg zu Fuss zu beschreiten, damit die tägliche selbst gesteckte Soll-Bilanz erfüllt wird.

Big Data und Algorithmen erlauben gänzlich neue Formen der persönlichen Vorselektion von Entscheidungsoptionen – doch bleibt offen, welche Auswirkungen diese auf unsere gesellschaftlichen Werte und Leitprinzipien haben werden:[9] Wollen wir künftig auf gewisse Freiheitsgrade verzichten, um mit der Vielzahl an (Konsum-)Optionen umgehen zu können? Wie entwickelt sich unsere Empathie, wenn wir zunehmend mit Robotern und Cyborgs[10] interagieren? Diese und viele andere Fragen können heute noch nicht abschliessend beantwortet werden, aber wir können unterschiedliche Zukunftsbilder entwerfen, damit deren potenzielle Implikationen erlebbar werden und so unterschiedliche Wege in die Zukunft des Konsums mitgestalten.

  1. Frick und Hauser (2008). []
  2. Kühne und Bosshart (2014). []
  3. Hauser et al (2015). []
  4. Hauser (2012). []
  5. Dunkelhölzli, Tor14, Soliterre, Farmy, etc.; siehe auch Regionalevertragslandwirtschaft.ch[]
  6. Frick, Hauser und Gürtler (2013). []
  7. Magazin Z (2015). []
  8. Dank neuer technologischer Möglichkeiten können wir immer einfacher Daten über uns selbst und unsere Umwelt sammeln und damit unser Verhalten quantifizierbar machen. So messen Schrittzähler beispielsweise unsere täglichen Bewegungen und geben uns Rückmeldung, ob wir unsere selbst gesteckten Tagesziele schon erreicht haben. []
  9. Eine von der GIM initiierte Studie geht genau diesen Fragestellungen nach – die Ergebnisse sollen bis Ende 2016 vorliegen. Über den Stand des Projekts informiert Gim-future2030.com[]
  10. Cyborgs sind Menschen, die ihren Körper mit künstlichen/maschinellen Bauteilen ergänzen – z. B. Prothesen, Implantate, künstliche Körperteile –, um ihre körperlichen, aber auch ihre geistigen Fähigkeiten zu erweitern. []

Literaturverzeichnis

  • Frick, K. und Hauser, M. (2008). Statusfaction – Was wir morgen für unser Ansehen tun. GDI-Studie Nr. 28.
  • Frick, K., Hauser, M. und Gürtler, D. (2013). Sharity – Die Zukunft des Teilens. GDI-Studie Nr. 39.
  • Hauser, M. (2012). Consumer Value Monitor Food – Wie Konsumenten in Zukunft essen wollen. GDI-Studie Nr. 38.
  • Hauser, M. et al. (2015). European Food Trends Report – Bits over Bites: Wie die Digitalisierung den Food-Konsum neu definiert. GDI-Studie Nr. 43.
  • Kühne, M. und Bosshart, D. (2014). Der nächste Luxus – Was uns in Zukunft lieb und teuer wird. GDI-Studie Nr. 41.
  • NZZ / Magazin Z (2015). Ausgabe Dezember, Feldforschung, von Christina Hubbeling, S. 42-46.

Bibliographie

  • Frick, K. und Hauser, M. (2008). Statusfaction – Was wir morgen für unser Ansehen tun. GDI-Studie Nr. 28.
  • Frick, K., Hauser, M. und Gürtler, D. (2013). Sharity – Die Zukunft des Teilens. GDI-Studie Nr. 39.
  • Hauser, M. (2012). Consumer Value Monitor Food – Wie Konsumenten in Zukunft essen wollen. GDI-Studie Nr. 38.
  • Hauser, M. et al. (2015). European Food Trends Report – Bits over Bites: Wie die Digitalisierung den Food-Konsum neu definiert. GDI-Studie Nr. 43.
  • Kühne, M. und Bosshart, D. (2014). Der nächste Luxus – Was uns in Zukunft lieb und teuer wird. GDI-Studie Nr. 41.
  • NZZ / Magazin Z (2015). Ausgabe Dezember, Feldforschung, von Christina Hubbeling, S. 42-46.

Zitiervorschlag: Mirjam Hauser (2016). Der kritische Konsument. Die Volkswirtschaft, 23. März.

Trendlabel & Other Stories wirbt mit «ehrlichen» Geschichten

Das Fotomodel lehnt sich an die Rückenlehne ihres Stuhls, lediglich bekleidet mit Unterwäsche. So weit, so perfekt. Doch dann fällt auf: Der Büstenhalter ist nicht prall gefüllt, über dem Bauchnabel zeigt sich eine kleine Bauchfalte und – unter den Armen lugen auch noch Achselhaare hervor. Die neue Werbekampagne des Kleiderherstellers & Other Stories, einer Schwesterfirma von H&M, verzichtet bei der Präsentation ihrer aktuellen Unterwäsche-kollektion auf Photoshop-Retuschen. Die «normalen» Frauen zeigen ihre Körper, so wie sie sind: mit Narben, Fältchen, Tattoos. Damit hinterfragt das Label ein gängiges, häufig stark sexualisiertes Schönheitsideal und rückt stattdessen Natürlichkeit, Vielfalt und Individualität in den Fokus.