Vom Luxusleben in die Ergänzungsleistungen? Wer Vermögen aus der zweiten Säule bezieht, tut dies meistens bei der Pensionierung. Paar in Sils Maria. (Bild: Keystone)
«Rentner verspekuliert sein BVG-Kapital und erhält dann Ergänzungsleistungen.» «Ehepaar leistet sich mit Kapitalbezug eine Weltreise und bezieht dann Ergänzungsleistungen.» Solche und ähnliche Medienberichte sorgten in letzter Zeit für Unmut in der Bevölkerung. Deshalb liess das Bundesamt für Sozialversicherungen die Rolle des Kapitalbezugs bei den Ergänzungsleistungen (EL) genauer untersuchen. Welche Auswirkungen haben Kapitalbezüge aus der zweiten Säule auf die EL? Und wie viele Personen sind insgesamt auf EL angewiesen, weil sie ihr Kapital der beruflichen Vorsorge aufgebraucht haben? Basierend auf solchen Erkenntnissen können Massnahmen getroffen werden, um das EL-System in diesem Bereich zu verbessern und die Akzeptanz im Volk zu erhöhen.
Einnahmen beeinflussen die Leistungshöhe
Bei der Berechnung, wie hoch eine Ergänzungsleistung ist, werden aus der zweiten Säule sowohl Renten als auch Kapitalbezüge mitberücksichtigt. Erhält eine Person ihre Leistung aus der beruflichen Vorsorge in Form einer regelmässigen Rente, wird diese den anrechenbaren Einnahmen zugerechnet. Anders sieht es aus, wenn jemand sein Guthaben als einmalige Auszahlung bezogen hat. In diesem Fall wird zwar ein Freibetrag[1] abgezogen und in der Regel jährlich ein Zehntel des noch vorhandenen Kapitals den Einnahmen angerechnet. Dieses Vermögen kann aber schnell durch grössere Anschaffungen, Anlageverluste oder Gesundheitskosten abnehmen. Wenn das Kapital aufgebraucht ist, kann anders als bei einer Rente kein Einkommen mehr angerechnet werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf EL angewiesen ist, steigt.
Bisher war völlig unklar, wie viele Bezüger von Ergänzungsleistungen Kapital aus der beruflichen Vorsorge bezogen haben, aus welchen Gründen sie dies taten und wie hoch dieses Kapital war. Mit einer einmaligen Kurzerhebung bei den meist kantonalen EL-Stellen konnte das Bundesamt für Sozialversicherungen nun zum ersten Mal eine Übersicht gewinnen (siehe Kasten). Untersucht wurden alle Neuanmeldungen für Ergänzungsleistungen zur Altersversicherung (AHV). Im Jahr 2014 behandelten die EL-Stellen in der gesamten Schweiz 29’400 solcher Anmeldungen. 10’100 dieser Gesuche, das entspricht 35 Prozent, wurden abgelehnt. Für die übrigen 19’300 Fälle ergab sich ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen.
Junge Pensionierte beziehen häufiger Kapital
Von den 19’300 Personen mit Anspruch auf EL haben 2014 rund 33 Prozent in irgendeiner Form Kapital aus der zweiten Säule bezogen (siehe Tabelle). Dieser Anteil variiert stark mit dem Alter der antragstellenden Personen. Bei den jungen Pensionierten hat vor dem EL-Anspruch mehr als die Hälfte mindestens einmal Kapital bezogen. Bei den über 80-Jährigen sind es gerade noch 12 Prozent.
Diese Unterschiede erklären sich hauptsächlich dadurch, dass ältere Personen früher weniger häufig in der beruflichen Vorsorge versichert waren und ein Kapitalbezug damals nur beschränkt möglich war. Die junge Rentnergruppe hingegen ist nicht nur häufiger in der beruflichen Vorsorge versichert, sondern profitiert auch von den seither neu geschaffenen Möglichkeiten eines Kapitalbezugs. Der Medianwert aller Kapitalbezüge betrug 90’000 Franken. Das bedeutet, dass sich von den Personen, die Kapital bezogen, die eine Hälfte mehr und die andere Hälfte weniger als diesen Betrag auszahlen liess.
Wie viele Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV haben Kapital aus der zweiten Säule bezogen?
Alter des Bezügers* | Kapitalbezug aus der zweiten Säule | |
---|---|---|
Nein | Ja | |
Total | 67,3 | 32,7 |
bis 64 | 48,0 | 52,0 |
65–69 | 44,8 | 55,2 |
70–74 | 53,1 | 46,9 |
75–79 | 62,9 | 37,1 |
80+ | 87,7 | 12,3 |
* Alter des Bezügers beim Eintritt in die EL. (Neue Bezüger von EL zur AHV 2014, N = 19’300)
Quelle: BSV, EL-Statistik, Erhebung Kapitalbezug / Die Volkswirtschaft
Kapitalbezug bei Pensionierung am häufigsten
Doch aus welchen Gründen haben die Versicherten Kapital aus der zweiten Säule bezogen?[2] 52 Prozent derjenigen, die Kapital aus der zweiten Säule entnahmen, liessen sich anlässlich ihrer Pensionierung eine Kapitalabfindung ausrichten (siehe Abbildung). 13 Prozent erhielten Barauszahlungen wegen der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit und 17 Prozent wegen der Auflösung eines Freizügigkeitskontos. Von Bezügen zur Finanzierung von Wohneigentum machten nur 3 Prozent Gebrauch. Auch Barauszahlungen beim endgültigen Verlassen der Schweiz spielten mit 2 Prozent eine untergeordnete Rolle.
Wofür haben die Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV Kapital aus der zweiten Säule bezogen?
(Neue Bezüger von EL zur AHV mit Kapitalbezug aus der zweiten Säule 2014, N = 6‘300)
Quelle: BSV, EL-Statistik, Erhebung Kapitalbezug / Die Volkswirtschaft
Zwei Gruppen von Kapitalbezügen sind zahlenmässig besonders bedeutend: Kapitalabfindung bei der Pensionierung und Barauszahlung bei selbstständiger Erwerbstätigkeit. Bei ihnen sind in der aktuellen Vernehmlassungsvorlage zur EL-Reform[3] neue Regelungen vorgesehen.
Rund 3400 Neubezüger haben sich 2014 bei der Pensionierung Kapitalabfindungen ausbezahlen lassen. Im Median betragen diese 95’500 Franken. Viele wurden nur wenige Jahre vor der EL-Anmeldung getätigt. Die Höhe des Kapitals hängt eng mit der Zeitspanne zwischen dem Kapitalbezug und dem Eintritt in die EL zusammen. Die jüngeren Pensionierten, welche bereits innerhalb der ersten zwei Jahre in Rente auf EL angewiesen waren, bezogen zum Zeitpunkt der Pensionierung 40’000 Franken. Mehr als dreimal so viel bezogen die älteren Pensionierten, die erst sechs bis elf Jahre nach Eintritt in den Ruhestand auf EL angewiesen waren. Das ist weiter nicht erstaunlich. Ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen entsteht ja auch deshalb, weil sich das Kapital stark vermindert hat. Bei den jüngeren Pensionierten mit kleineren Kapitalbezügen ist das schnell der Fall. Bei den älteren Pensionierten geht es etwas länger, bis das zum Zeitpunkt der Pensionierung bezogene Kapital so weit aufgebraucht ist, dass Ergänzungsleistungen gewährt werden. Zudem werden in fortgeschrittenem Alter auch bei gutem Einkommen und hoher Kapitalabfindung Ergänzungsleistungen notwendig, wenn ein Heimaufenthalt finanziert werden muss.
Die Barauszahlungen wegen der Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit sind mit einem Medianwert von 50’000 Franken wesentlich tiefer als die Kapitalabfindungen bei der Pensionierung. Es handelt sich um 900 neue EL-Fälle im Jahr 2014. Selbstständigerwerbende sind innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Pensionierung häufiger auf EL angewiesen als Arbeitnehmende.
Sparpotenzial bei Selbstständigkeit und Pensionierung
Eine Begrenzung der Kapitalbezüge reduziert die EL-Ausgaben. Bezogenes Kapital ist zum Zeitpunkt der EL-Anmeldung zum grossen Teil aufgebraucht. Eine entsprechende Rente wäre hingegen bei der Berechnung der Höhe der Ergänzungsleistung als Einnahme anrechenbar und würde den Anspruch reduzieren oder unter Umständen sogar überflüssig machen. Bei einem kompletten Wegfall der Kapitalabfindungen bei der Pensionierung müssten Bund und Kantone für die EL im Jahr 2014 10 Millionen Franken weniger ausgeben. Würde der Bezug bei Selbstständigkeit wegfallen, könnten 2 Millionen Franken eingespart werden. Das sind insgesamt rund 4,5 Prozent der Kosten, welche die Neubezüger pro Jahr verursachen. Natürlich ist das eine Momentbetrachtung und zeigt nur die Situation bei den neuen Fällen. Angenommen das beobachtete Verhalten bliebe in Zukunft gleich, würden die Kapitalbezüge das EL-System langfristig stärker belasten. Denn die jungen Pensionierten, welche öfter Kapital beziehen, sind auch länger auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Welche Unterschiede zeigen sich im Vergleich mit den übrigen Pensionierten? Gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) bezogen 67 Prozent der jungen Pensionierten[4] beim Übertritt in den Ruhestand BVG-Leistungen in Form von Renten, Kapital oder einer Mischform der beiden. Bei den neuen EL-Fällen waren es in der entsprechenden Altersgruppe 58 Prozent.[5] Verständlicherweise fällt dieser Anteil etwas tiefer aus, da es sich um EL-Bezüger handelt. Er ist aber dennoch recht hoch. Kapitalbezug kommt bei den EL-Bezügern häufiger, Rentenbezug dafür seltener als bei den übrigen Pensionierten vor. Der wesentliche Unterschied aber liegt in der Höhe der Leistungen. Das bezogene Kapital und die Renten sind bei den EL-Berechtigten deutlich niedriger, was ja mitunter auch der Grund für den Bezug von Ergänzungsleistungen ist.
- Der Freibetrag macht bei einer alleinstehenden Person 37‘500, bei einem Ehepaar 60‘000 Franken aus. []
- Bei mehreren Bezugsarten wird jene mit dem grössten Betrag berücksichtigt. []
- Teilrevision des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung. []
- D. h. Personen, die bis zu fünf Jahre in Pension sind. []
- Nur Angaben zu den neuen EL-Bezügern sind vorhanden, nicht aber zum ganzen EL-Bestand im entsprechenden Alter. Trotzdem kann dieser Vergleich die wesentlichen Unterschiede aufzeigen. []
Zitiervorschlag: Portmann, Urs (2016). Zu viele Bezüge aus der zweiten Säule? Die Volkswirtschaft, 23. März.
Die vorliegenden Ergebnisse basieren auf der Sondererhebung «Kapitalbezug bei den Ergänzungsleistungen» des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Das BSV hat die Daten bei den EL-Stellen von neun Kantonen und einer Grossstadt erhoben. Diese bearbeiten rund 40 Prozent aller Anmeldungen schweizweit und stellen somit eine repräsentative Stichprobe dar. Die Stellen haben im Jahr 2014 für drei Monate alle Neuanmeldungen für Ergänzungsleistungen zur AHV nach einem speziellen Raster erfasst. Die Stellen bearbeiteten die Anmeldungen wie üblich und erliessen eine Erstverfügung. Darin wurde festgestellt, ob ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen besteht und wie hoch dieser allenfalls ist. Die erhobenen Daten wurden dem Bundesamt für Sozialversicherungen übermittelt, welches die Daten prüfte und analysierte. Die Stichprobe wurde dann auf die Anzahl neuer EL-Fälle eines ganzen Jahres für die gesamte Schweiz hochgerechnet.