Suche

Abo

Von Konsumentenschutz sind heute alle möglichen und unmöglichen Lebensbereiche betroffen – bei Weitem nicht nur die Gesundheit und die Produktesicherheit, wo man dies vielleicht noch erwarten würde. Längst hat sich die Politik öffentlichkeitswirksam des «Wohls der Konsumenten» bemächtigt.
Samuel Rutz, Dr. oec., Vizedirektor, Swiss Economics, Zürich

Standpunkt

Knapp 60 Gesetzesänderungen werden in der Schweiz pro Jahr im Namen der Konsumenten vorgenommen. Bei genauer Betrachtung sind viele dieser Eingriffe nicht im längerfristigen Interesse der Konsumenten, führen sie doch oft zu einer Einschränkung der – heutigen und zukünftigen – Wahlmöglichkeiten: Anbieter können nicht mehr optimal auf die Bedürfnisse der Konsumenten eingehen, Produktions- und Vertriebsprozesse werden verteuert und Markteintrittsschranken errichtet.

Beispiele hierfür sind Forderungen nach Protektionismus im Agrarsektor mit dem fadenscheinigen Argument, die Konsumenten seien vor minderwertigen ausländischen Lebensmitteln zu schützen. Spezifische Schweizer Deklarationspflichten verlangen nach preistreibenden Spezialverpackungen für Importprodukte (z. B. Dreisprachigkeit von Warn- und Sicherheitshinweisen). Protektionistisch sind oftmals auch Zulassungspflichten für Produkte, die in der EU legal verkauft werden dürfen.

Die Informationslücke schrumpft

Bedenkt man den technischen Wandel der letzten Jahrzehnte, sollte die Entwicklung eigentlich in die umgekehrte Richtung gehen. Die Informationslage der Konsumenten hat sich durch die rasante Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien markant verbessert. Vor allem das Internet hat zu einem «Consumer Empowerment» ungeahnten Ausmasses beigetragen. Kaum eine Reise wird noch gebucht, ohne dass vorher die Beurteilungen anderer Feriengäste im Netz gelesen würden. Mit webbasierten Smartphone-Apps können die Strichcodes auf den Produkten im Supermarkt einfach und schnell interpretiert werden. Die in der Konsumentenpolitik traditionelle Annahme des «schlecht informierten Konsumenten», den es vor Ausnutzung und Übervorteilung durch Dritte zu schützen gilt, verkommt zusehends zum Anachronismus. Mit dem wachsenden Anteil der «Digital Natives» in der Bevölkerung gilt dies erst recht.

Das Internet hat aber nicht nur die Informationslücke verringert, sondern stellt auch ein äusserst effizientes Disziplinierungsmittel dar: In der digitalisierten Welt ist «Schummeln» für die Unternehmen zu einer höchst riskanten Strategie geworden. Wer ertappt wird, muss mit dem Totalverlust seiner Reputation rechnen – der Fall «Carna Grischa» (Falschdeklaration von Fleisch) und der Abgasskandal von VW sprechen für sich selbst.

Der unheilvolle Trend des sanften Paternalismus

Die klassische Rechtfertigung für Konsumentenschutz verliert also an Bedeutung. Immer klarer zeichnet sich der Trend ab, die Rechtfertigungslücke mit dem Argument zu füllen, die Konsumenten seien mit der explodierenden Auswahl und der Informationsflut überfordert und müssten deshalb vom Staat (sanft) an der Hand genommen werden. Ein «Kindermädchenstaat», der vorgibt, zu wissen, was gutes Konsumverhalten darstellt und was nicht, lässt sich jedoch nicht mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung vereinbaren.

Anstatt die Konsumenten zu lenken, zu bevormunden und zu erziehen, sollte sich der Staat darauf beschränken, die Wahlfreiheit und die Eigenverantwortung seiner Bürger zu stärken und dafür zu sorgen, dass der Wettbewerb spielen kann – denn letztlich ist ein funktionierender Wettbewerb der beste Konsumentenschützer. Um dieses Ziel zu erreichen, wären Entscheidungsprozesse und Institutionen wichtig, die sicherstellen, dass keine Regulierungen umgesetzt werden, die den Interessen der Konsumenten entgegenstehen oder ihre Souveränität schwächen. Dies würde primär bedingen, dass alle Interventionen, die im Namen der Konsumenten erwogen werden, einer klar strukturierten, auf ökonomischen Kriterien basierenden Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen würden.

Zitiervorschlag: Samuel Rutz (2016). Standpunkt: Das Zerrbild des wehrlosen Konsumenten. Die Volkswirtschaft, 23. März.