Zunehmende Alterung trifft Kantone am stärksten
Im Gesundheitswesen steigen die Kosten stark: Spitalküche im bündnerischen Münstertal. (Bild: Keystone)
Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt. Zudem erreichen in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsgeneration – die Babyboomer – das Pensionsalter. Und: Seit den Siebzigerjahren ist die Geburtenrate stark gesunken.
Deshalb wird der Anteil der Pensionierten an der Gesamtbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten stark ansteigen. Gemäss den Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik werden im Jahr 2045 nur noch zwei erwerbsfähige Personen auf eine Person im Pensionsalter kommen. Heute liegt das Verhältnis noch bei drei zu eins.
Diese demografische Entwicklung belastet die öffentlichen Haushalte. Als Folge steigt die Staatsquote. Mit anderen Worten: Der Anteil der Ausgaben von Bund, Kantonen, Gemeinden und den Sozialversicherungen AHV und IV am Bruttoinlandprodukt (BIP) nimmt zu.[1] Stark von der demografischen Entwicklung abhängig sind nebst den genannten Sozialversicherungen das Gesundheitswesen, die Langzeitpflege (ab 65 Jahren) sowie die Bildung. Für alle Staatsausgaben, die nicht unmittelbar von der Bevölkerungsentwicklung betroffen sind, mit Ausnahme der Zinsausgaben und der Staatseinnahmen, wird angenommen, dass sie sich im Gleichklang mit dem Wirtschaftswachstum entwickeln.
Da naturgemäss die Projektionen zukünftiger Entwicklungen mit Unsicherheiten behaftet sind, werden verschiedene Szenarien berechnet. Eine Schlüsselrolle spielt bei den demografieabhängigen Ausgaben das Wirtschaftswachstum – relevant für Letzteres sind insbesondere die Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Einwanderung.
Für das Basisszenario wird angenommen, dass sich die Arbeitsproduktivität bis 2045 gleich entwickelt wie in der Vergangenheit. Zwischen 1992 und 2014 betrug der jährliche Produktivitätsfortschritt in der Schweiz im Durchschnitt 1,2 Prozent. Darüber hinaus werden Szenarien mit einer skeptischen und einer optimistischen Annahme über den Produktivitätsfortschritt berücksichtigt. Ausserdem wird ein Szenario erstellt, in dem von einer höheren Einwanderung als im Basisszenario ausgegangen wird. Im Basisszenario sinkt der jährliche Einwanderungssaldo kontinuierlich von 80’000 im Jahr 2015 auf 60’000 im Jahr 2030 und pendelt sich ab 2040 bei 30’000 Personen ein. Im sogenannten Migrationsszenario wird angenommen, dass der Einwanderungssaldo ebenfalls abnimmt, jedoch bis 2030 im jährlichen Durchschnitt um 20’000 und ab 2040 um 10’000 Personen höher liegt als im Basisszenario.
Die Staatsquote steigt auf 36 Prozent
Im Basisszenario steigt die Staatsquote im Vergleich zum Jahr 2013 um 4 Prozentpunkte auf knapp 36 Prozent im Jahr 2045. Die projizierte Zunahme ist vor allem auf die demografieabhängigen Ausgaben (siehe Abbildung) zurückzuführen. Diese Ausgaben steigen zwischen 2013 und 2045 von rund 17 auf 21 Prozent des BIP. Mehr als ein Drittel der Zusatzbelastung entsteht dabei durch Mehrausgaben bei den beiden Sozialversicherungen AHV und IV. Der Gesundheits- und Pflegebereich zusammengenommen macht fast die Hälfte des Anstiegs der Ausgabenzunahme aus. Der verbleibende Anstieg entfällt auf den Bildungsbereich.
Zunahme der demografieabhängigen Staatsausgaben am BIP von 2013 bis 2045
Quelle: EFV / Die Volkswirtschaft
Die demografieabhängigen Ausgaben werden für die drei Staatsebenen Bund, Kantone, Gemeinden und die beiden Sozialversicherungen AHV und IV projiziert (siehe Tabelle).[2] Vergleicht man auf der einen Seite die demografieabhängigen Ausgaben beim Bund und bei den Sozialversicherungen sowie auf der anderen Seite bei den Kantonen und den Gemeinden, steigt deren Anteil am BIP fast gleich (+1,7 bzw. +1,8 BIP-Prozent).
Demografieabhängige Ausgaben auf den drei Staatsebenen sowie für AHV/IV
2013
|
2045
|
||||
Quote (in % des BIP) | Quote (in % des BIP) | Sensitivitätsanalysen | |||
«Produktivität» | «Hohe Migration» | ||||
–0,3 (Tiefere Annahme) | +0,3 (Höhere Annahme) | ||||
Bund | 3,9 | 4,9 | +0,1 | –0,1 | –0,1 |
Sozialversicherungen (AHV/IV) | 5,4 | 6,1 | +0,2 | –0,2 | –0,4 |
Kantone | 5,9 | 7,3 | –0,1 | +0,1 | –0,2 |
Gemeinden | 2,2 | 2,6 | –0,0 | +0,0 | –0,0 |
Total | 17,3 | 20,8 | +0,2 | –0,2 | –0,7 |
Quelle: EFV / Die Volkswirtschaft
Allerdings nehmen allein die kantonalen Ausgaben um 1,4 Prozent des BIP zu. Die Entwicklung der Ausgaben ist primär durch die Dynamik im Pflege- und Gesundheitsbereich bestimmt. Dabei macht sich die Verdoppelung des Anteils der über 80-Jährigen an der Bevölkerung, von 5 auf 10 Prozent, bemerkbar. Diese Entwicklung führt insbesondere in der Langzeitpflege zu einem zusätzlichen Kostendruck. Für die Gemeindehaushalte entstehen deutlich weniger Mehrausgaben (+0,4 Prozent des BIP bis 2045). Hier ist die Zunahme von der Langzeitpflege dominiert.
Auf der nationalen Ebene steigen die Ausgaben bei der AHV und der IV um insgesamt 0,7 Prozent des BIP respektive um 1,0 Prozent des BIP beim Bund. Dabei sind die Mehrbelastungen der Sozialversicherungen ausschliesslich auf die Entwicklung bei der AHV zurückzuführen. Dämpfend auf das Ausgabenwachstum der Sozialversicherungen wirken die leistungsseitigen Massnahmen der Reformvorlage Altersvorsorge 2020 wie die Erhöhung des Rentenalters für Frauen sowie die Entwicklung der IV-Ausgaben. Letztere sinken gemessen am BIP bis 2045 um 0,4 Prozent. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Anzahl IV-Rentner nicht schneller als die Erwerbsbevölkerung wächst und zudem die IV-Renten an den Mischindex von AHV/IV gekoppelt sind.
Auf der Bundesebene fällt insbesondere die Finanzierung der AHV ins Gewicht. Diese Finanzierung wird durch die im Rahmen der Altersvorsorge 2020 vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer abgedeckt.
Produktivität und Einwanderung als Schlüsselfaktoren
Das Wirtschaftswachstum kann in den Projektionen durch den Produktivitätsfortschritt und die Veränderung des Arbeitsangebots beeinflusst werden: Letzteres hängt von der Einwanderung erwerbsfähiger Personen ab.
Wie die Tabelle zeigt, führt ein höheres Wirtschaftswachstum unabhängig davon, ob es durch einen schnelleren Produktivitätsfortschritt oder eine Zunahme der Einwanderung ausgelöst wird, zur finanziellen Entlastung von Bund und AHV/IV. Dies ist auf den sogenannten Mischindex bei den beiden Sozialversicherungen zurückzuführen, welcher sich aus dem Mittelwert der gestiegenen Preise und dem Lohnanstieg ergibt. Dadurch fällt der Anstieg bei den Renten im Vergleich zu den Einnahmen von AHV/IV und Bund tiefer aus. Im Falle einer höheren Migration nimmt zudem das Verhältnis der Personen im Rentenalter zu denen im Erwerbsalter ab.
Die günstigere Altersstruktur im Fall einer höheren Migration wirkt sich dämpfend auf die Gesundheits- und Pflegeausgaben aus, was zu einer leichten Entlastung von Kantons- und Gemeindefinanzen führt. Bei einem höheren Produktivitätsfortschritt hingegen werden die Kantons- und Gemeindefinanzen etwas stärker als im Basisszenario belastet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass annahmegemäss ein höherer Produktivitätsfortschritt mit einem höheren Lohnwachstum einhergeht. Dies erhöht wiederum die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen überproportional.
Sind die Migration und der Produktivitätsfortschritt niedriger als im Basisszenario angenommen, bringt dies insgesamt zusätzliche Belastungen für die öffentlichen Haushalte mit sich.
Ohne Gegenmassnahmen steigt die Verschuldung an
Infolge des Anstiegs bei den demografieabhängigen Ausgaben müssen Steuern oder Beiträge an die Sozialversicherungen erhöht oder Einsparungen realisiert werden. Ohne diese Massnahmen steigt die Staatsverschuldung zwischen 2013 und 2045 von 35 auf rund 59 Prozent des BIP an. Die in den Langfristperspektiven berechnete Fiskallücke gibt an, in welchem Umfang ab 2020 jährlich Einsparungen, Beitrags- oder Steuererhöhungen notwendig sind, damit die Schuldenquote bis 2045 auf dem Niveau des Basisjahres 2013 stabilisiert werden kann. Die Fiskallücke beträgt gesamthaft 0,9 Prozent des BIP.
Die demografische Entwicklung gefährdet insbesondere die Nachhaltigkeit von Kantons- und Gemeindefinanzen. Kantone und Gemeinden weisen eine Fiskallücke von 1,1 bzw. 0,5 Prozent des BIP auf, da diese Staatsebenen für die sich vergleichsweise dynamisch entwickelnden Bereiche Gesundheit und Langzeitpflege zuständig sind.
Die Finanzlage der AHV/IV kann gemäss diesem Konzept nach der vom Bundesrat im Rahmen der Altersvorsorge 2020 vorgesehenen Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1,5 Prozentpunkte und den vorgesehenen leistungsseitigen Massnahmen sowie der positiven Entwicklung bei der IV als nachhaltig bezeichnet werden. Allerdings werden die Umlageresultate der AHV ab 2030 wieder negativ, was auf einen erneuten Handlungsbedarf hinweist.
Die nicht zuletzt durch das Stabilisierungsprogramm gute Ausgangslage des Bundeshaushalts, die nachlassende Dynamik der Bildungsausgaben und der verminderte Ausgabendruck angesichts der Reform Altersvorsorge 2020 tragen dazu bei, dass die Nachhaltigkeit der Bundesfinanzen bis 2045 gewahrt werden kann. Ohne die vorgesehene Zusatzfinanzierung der AHV durch die Mehrwertsteuererhöhung würde sich die Situation der öffentlichen Haushalte jedoch deutlich verschlechtern. Die Fiskallücke des Staates läge bei 1,6 Prozent des BIP.
Verfügbare Einkommen steigen dennoch
Wird die Stabilisierung der Schuldenquote auf dem derzeitigen Niveau allein über eine Erhöhung der Staatseinnahmen finanziert, steigen die verfügbaren Einkommen pro Einwohner inflationsbereinigt dank des angenommenen Produktivitätsfortschritts von jährlich 1,2 Prozent im Durchschnitt weiter an. Der projizierte jährliche Anstieg zwischen 2013 und 2045 fällt mit 0,6 Prozent sogar etwas höher aus als im Zeitraum von 1990 bis 2013 (+0,4 Prozent), was allerdings auf die lange Stagnationsphase in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre zurückzuführen ist.
Sofern die Reform Altersvorsorge 2020 wie vom Bundesrat vorgesehen umgesetzt wird, besteht auf der Bundesebene weniger Handlungsbedarf als bei den Kantonen und Gemeinden. Allerdings müssen ab 2030 weitere Reformen für die AHV beschlossen werden, um die Nachhaltigkeit der AHV gewährleisten zu können. Der dringende Handlungsbedarf bei Kantonen und Gemeinden ist auf den anhaltend hohen Ausgabendruck im Gesundheits- und Pflegebereich zurückzuführen, welcher weitere Reformen unumgänglich machen wird.
Zitiervorschlag: Brändle, Thomas; Colombier, Carsten; Philipona, Arabela (2016). Zunehmende Alterung trifft Kantone am stärksten. Die Volkswirtschaft, 27. April.
In den Langfristperspektiven des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD)a wird ein Nachhaltigkeitskonzept verwendet, das dem internationalen Standard von OECD, IWF und EU-Kommission entspricht. Danach sind die öffentlichen Finanzen nachhaltig, wenn die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP (Schuldenquote) auf einem ausreichend niedrigem Niveau stabilisiert werden können.b
Die Langfristperspektiven stellen dar, wie sich die demografische Entwicklung unter den gegebenen Rahmenbedingungen (sogenannte No-Policy-Change-Annahme) längerfristig auf die Nachhaltigkeit der Haushalte von Bund, Kantonen, Gemeinden und AHV/IV auswirken. Die Ergebnisse der Langfristperspektiven sind im Sinne von «wenn-dann»-Hypothesen zu interpretieren: Wenn sich die Demografie und die Wirtschaft wie in den Langfristperspektiven angenommen entwickeln, dann bedeutet dies für die öffentlichen Haushalte eine Mehrbelastung aufgrund steigender Ausgaben für die AHV und das Gesundheitswesen.
Bei den Langfristperspektiven werden der geltende rechtliche Status quo und die Annahmen des Legislaturfinanzplans des Bundes berücksichtigt. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Reformvorlage des Bundesrates Altersvorsorge 2020 umgesetzt wird. Zentral für die Projektionen der demografieabhängigen Staatsausgaben sind die Szenarien des Bundesamts für Statistik über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung. Die Berechnungen für die AHV/IV werden vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) durchgeführt.
aEFD (2016). Langfristperspektiven der öffentlichen Finanzen in der Schweiz 2016, Bern.
b Die Schuldenbremse des Bundes ist hier restriktiver: Sie stabilisiert den Betrag der Schulden des Bundes in Franken, also in nominalen Werten. Dadurch sinkt die Schuldenquote kontinuierlich.