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Viel Potenzial, aber kaum Initiativen

Wie will der Kanton Tessin die sich bietenden Vorteile der Alpentransversale nutzen? Lange hat er sich diesbezüglich passiv verhalten. Dabei könnte der Südkanton dank der neuen Verbindung zu einem ausserordentlich wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort werden. Doch ohne konkrete Projekte wird sich dieses Potenzial nicht in Erfolg ummünzen lassen.

Viel Potenzial, aber kaum Initiativen

Durch die verbesserte Erreichbarkeit rückt das Tessin näher an Zürich und Mailand. Wegweiser auf der Gotthard-Passhöhe. (Bild: Keystone)

Der Gotthard-Basistunnel ist eigentlich das zentrale Projekt der schweizerischen Güterverkehrsstrategie im Alpentransit. Je näher jedoch seine Eröffnung rückt, desto mehr gilt die Aufmerksamkeit dem Personenverkehr, zumindest im Tessin. Mit der Eröffnung des Ceneri-Tunnels führt die neue Hochgeschwindigkeitslinie in naher Zukunft bis nach Lugano und bindet damit nicht nur das wirtschaftliche Zentrum besser an die restliche Schweiz an. Auch die Verbindungen zwischen den Städten im Tessin werden dadurch verbessert.

Beim Güterverkehr werden allerdings keine grossen Veränderungen erwartet, solange das Problem des Südanschlusses nicht gelöst ist. Die Bedenken, die man hinsichtlich möglicher Stationen für den Verlad von der Schiene auf die Strasse im Kanton hat, führen allerdings dazu, dass man sich wieder stärker darum bemüht, die Aufmerksamkeit des Bundes auf eine baldige Weiterführung der Alpentransversalen zu lenken.

Allgemeine Orientierungslosigkeit


Die Diskussion dreht sich hauptsächlich um die möglichen positiven und negativen Auswirkungen des Gotthard-Basistunnels. In einer Studie von 2012 im Auftrag des Kantons diagnostizierte das Beratungsbüro Metron bescheidene und nur kurzfristig positive Auswirkungen, vor allem im Bereich Tourismus und Wohnen. In der langen Frist werden gemäss Studie jedoch beträchtliche Effekte für den Standort Tessin erwartet. Die vom Kanton geschaffene Arbeitsgruppe «Alptransit» nahm diese Resultate auf und kam in einem ergänzenden Bericht zum Schluss, dass es dringend strategische Projekte brauche, um langfristig positive Effekte zu bewirken. Interessanterweise denkt man in der Nordschweiz systematisch an solche Projekte. So identifiziert eine von der Stadt Zürich in Auftrag gegebene Studie des Beratungsbüros Ecoplan solche Potenziale und Projekte entlang der Achse Zürich–Mailand, wie etwa den Technologiepark «Tecnopolo Ticino Biomedicale» in Bellinzona.

Der Vorsteher des Tessiner Wirtschafts- und Finanzdepartements hat kürzlich auch im Tessin einen «Tavolo economico» einberufen, um die zukünftige Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Alptransit mitzugestalten. Doch während sich der Kanton seit Kurzem bewegt, herrscht in der öffentlichen Debatte nach wie vor Skepsis. Konkrete Projekte wurden bisher kaum diskutiert. Man fragt sich allenfalls, ob die Arbeitsplätze abwandern und das Tessin zu einem Schlafkanton verkommt. Als positiv wird bisher einzig die im Tessin verbesserte interne Verbindung nach der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels beurteilt.

Standortvorteile nutzen


Diese passive Haltung ist bedauerlich und bis zu einem gewissen Grad erstaunlich. Im Vergleich zur Restschweiz ist das Tessin in vielerlei Hinsicht ein privilegierter Standort für Unternehmen und ein attraktiver Wohnkanton mit hoher Lebensqualität und tiefen Lebenshaltungskosten. Die hohe Standortqualität beruht auf der Lage an der europäischen Nord-Süd-Achse und der Nähe zur Agglomeration Mailands und zu Norditalien allgemein. Diese Nähe hat über Jahrzehnte den Finanzplatz und den Immobiliensektor angetrieben und damit zu einem Wirtschaftswachstum geführt. Die Lage an der Gotthard-Route hingegen bedeutet zwar eine hohe Erreichbarkeit, aufgrund des Transitverkehrs hat sie allerdings auch Probleme mit sich gebracht.

Mit der diesjährigen Eröffnung des Gotthard-Basistunnels, der auf 2020 geplanten Eröffnung des Ceneri-Basistunnels und der Transformation im Finanzsektor ergibt sich für den Tessin die Chance, diese verbesserte Erreichbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu nutzen. Neue Möglichkeiten eröffnen sich auch im Tourismus, bei Geschäftsreisen und generell für die Wirtschaft, für welche die Märkte im Norden des Gotthards näher rücken. Die Tatsache, dass man in Zukunft für ein Geschäftstreffen in einem halben Tag vom Tessin nach Zürich und wieder zurück reisen kann, ermöglicht neue Standortstrategien für existierende und neue Unternehmen im Tessin. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass vermehrt wirtschaftliche Aktivitäten im Tessin angesiedelt werden, welche diesen Vorteil mit einer Lage im sonnigen Süden verbinden wollen. Der Tourismus kann dank verkürzter Reisezeit bei den Tagesausflügen und dank der touristischen Attraktivität des längsten Eisenbahntunnels der Welt auch von mehr Übernachtungen profitieren.

Zusammen arbeiten und gezielt Projekte fördern


Ob das Tessin sich in diese Richtung bewegt, hängt wesentlich von der Wirtschafts- und Raumordnungspolitik ab, welche der Kanton und die Agglomerationen betreiben. Im Tourismus wird es darum gehen, dass die im neuen Gesetz definierten vier Destinationen Bellinzonese, Locarnese, Luganese und Mendrisiotto erfolgreiche Strategien entwickeln. Solche sind einerseits um die bestehenden Attraktionen wie etwa das Filmfestival in Locarno, das Unesco-Welterbe in Bellinzona und am Monte San Giorgio oder das Luganeser Kulturzentrum LAC aufzubauen. Andererseits müssen sie in Kooperation zwischen den Destinationen entwickelt werden. So bedingt eine strategische Nutzung des Unesco-Welterbes Monte San Giorgio eine Zusammenarbeit zwischen Lugano und Mendrisio. Eine touristische Vermarktung der Schlösser in Bellinzona wiederum setzt eine Zusammenarbeit mit Locarno und Lugano voraus. Schliesslich wird eine gegenüber Norditalien erfolgreiche Strategie auch eine grenzüberschreitende Kooperation erfordern.

Für den Rest der Wirtschaft wird es aus politischer Sicht darum gehen, strategische Bereiche in der Form von sogenannten Meta-Sektoren wie beispielsweise Tourismus, Mode, Lifesciences oder Mechatronik zu definieren und diese mittels des neuen Innovationsgesetzes zu fördern. Eine wesentliche Rolle spielt dabei eine neue Territorialpolitik, welche nicht lediglich Zonen definiert und den Rest der Entwicklung sich selbst überlässt. Stattdessen muss man unter Einbezug aller Stakeholder gezielt zentrale Zonen – wie etwa um Bahnhöfe herum – definieren und diese im Rahmen professioneller Projekte betreuen. In einer solchen Strategie spielen die Universität, die Fachhochschule und weitere wichtige Forschungsinstitutionen aus dem Tessin eine wesentliche Rolle. Meta-Sektoren zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie industrielle Tätigkeiten, welche im Tessin eine grosse Bedeutung haben, gezielt mit Unternehmensdienstleistungen wie Finanzen, Marketing, Consulting, Informatik und Kommunikation sowie Forschung und Entwicklung verknüpfen.

Bisher kaum konkrete Vorhaben


Leider ist heute nicht klar, ob das Tessin bereit ist, die sich bietenden Potenziale zu nutzen. Das würde nämlich bedeuten, dass bereits bei Eröffnung des Gotthard-Basistunnels erste strategische Projekte realisiert sind. Das wird nicht der Fall sein. Während in den Forschungsinstitutionen wichtige Projekte vorangetrieben werden, zeichnen sich erst vereinzelt konkrete Projekte ab, die von der Politik aufgenommen und umgesetzt werden. Ausnahmen sind Projekte im Scientific Computing und im Gesundheitsbereich. Vor allem die Entwicklung rund um die Bahnhöfe, in welche die SBB massiv investieren, kommen nur stockend oder überhaupt nicht voran: Weder die Überbauung beim Bahnhof Lugano, welche einen Teil der Fachhochschule eingliedern soll, noch die Modeschule beim Bahnhof Mendrisio ist in Sichtweite. Und die Umwandlung des strategischen Areals der Officine der SBB in Bellinzona in einen dynamischen Industrie- und Dienstleistungspark ist ein politisches Tabu. Auch die Diskussion um die Gotthard-Bergstrecke der SBB ist bisher nicht zu einem Projekt geworden.

Es scheint, das Tessin müsse die notwendige positive Einstellung noch entwickeln, um diese einzigartige Gelegenheit, welche die Alpentransversale bietet, nutzen zu können. Vorläufig konzentriert sich die Diskussion jedoch auf bedrohliche Entwicklungen. Einige halten die mit dem Alptransit verbundenen Erwartungen sogar für übertrieben. Bestenfalls stellt man sich die Frage, was das Ganze bringen wird. Doch wie die sich eröffnenden Möglichkeiten in eine positive Entwicklung umgemünzt werden könnten – damit beschäftigt man sich nur marginal. Das ist schade. Denn aus ökonomischer Sicht kann das Tessin mit entsprechenden Strategien – und wenn sich Italien wirtschaftlich erholt – zu einer privilegierten Wirtschaftsregion werden.

Das Tessin zeichnet sich durch seine privilegierte Lage, das milde Klima, die sehr gute Erreichbarkeit, die hohe Lebensqualität und die Komplementarität zum Wirtschaftsraum Lombardei aus. Zusammen mit den bereits bestehenden Forschungszentren stellen sie eine ideale Kombination von Standortfaktoren für die Ansiedlung von Forschungs-und-Entwicklungs-Zentren multinationaler Unternehmen dar. Es ist deshalb zu hoffen, dass sich das Tessin, und insbesondere die Städte Lugano und Bellinzona, längerfristig als ein starkes Milano-Nord oder ein attraktives Zürich-Süd positionieren können.

Zitiervorschlag: Rico Maggi (2016). Viel Potenzial, aber kaum Initiativen. Die Volkswirtschaft, 27. April.