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«Wir können doch nicht wie in einem abgeschotteten Gallierdorf leben»

Ausländische Professoren bringen die Schweiz weiter. Dies sagt der Forschungsratspräsident des Schweizerischen Nationalfonds, Martin Vetterli, im Interview. Denn: Forscher sind auf internationale Vernetzung angewiesen. Eine gewisse Gefahr für den Standort Europa ortet er in der Machtfülle von Internetriesen wie Google und Apple.

«Wir können doch nicht wie in einem abgeschotteten Gallierdorf leben»

«Gewissen Banken in der Schweiz fehlt das Know-how.» Martin Vetterli am Sitz des Nationalfonds in Bern. (Bild: Seco, Marlen von Weissenfluh)

Herr Vetterli, Sie haben als Forscher rund 50 Patente angemeldet. Was war Ihre erfolgreichste Innovation?


Am einfachsten verständlich ist vermutlich die automatische Bildbeschriftung mit einem Algorithmus. Eine Applikation erkennt beispielsweise in einem Panoramabild Orte und Berge.

Wie etwa die Outdoor-App «Peakfinder»?


Ja. Vor rund zwanzig Jahren gingen wir mit meinem damaligen Labor in die Berge. Mein Sohn, der damals noch nicht zur Schule ging, kam auch mit. Er fragte mich: «Papa, wie heisst dieser Berg?» Das war der Schlüsselmoment.

Was ist für Sie Innovation?


Eine Innovation ist eine gute neue Idee, die auch einen Markt hat. Solche Ideen gibt es zahlreiche, aber viele werden nicht umgesetzt.

Wie viele kommen zur Marktreife?


Wissen Sie, das ist wie mit den wissenschaftlichen Arbeiten. Man kann viele Papers schreiben. Aber: Gewisse Leute schreiben Papers, die wichtig sind, und andere schreiben solche, die niemanden interessieren. Es gibt auch wichtige Arbeiten, die niemand umsetzt. Oder es dauert lange, bis deren Wichtigkeit erkannt wird. Bei Patenten und Innovationen ist es ähnlich. Die guten Innovatoren haben eine hohe Trefferquote und andere eben nicht.

Ist man sich in der Schweiz der Bedeutung von Forschung und Innovation genügend bewusst?


Ja, die Situation ist relativ gut. Trotzdem müssen wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie heute aufpassen, dass wir uns nicht nur auf traditionelle Produkte konzentrieren. Ohne Innovation sieht die Zukunft dort nicht besonders rosig aus.

Sie haben lange Zeit in den USA gelebt, gelehrt und geforscht. Was sind die Hauptunterschiede zur Schweiz in der Forschung und Innovation?


Amerika ist das Land of Opportunity. Dort kann man bereits als junger Forscher unabhängig sein. Dadurch kann sich die Karriere schnell entfalten. In Europa ist das schwieriger – auch in der Schweiz.

Gibt es auch Unterschiede – etwa für Unternehmen oder den Staat?


Der Staat ist viel weniger präsent als bei uns in Europa. Zum Teil ist das gut, zum Teil ist das schlecht. Die USA haben bei den meisten Dingen zehn Jahre Vorsprung. Das macht das Land als Real-Time-Experiment interessant. Mit andern Worten: Wir Europäer können sehen, ob es funktioniert oder nicht. Leider kopieren wir aber alle Trends.

Und machen so dieselben Fehler, wie sie schon zehn Jahre zuvor in den USA gemacht wurden?


Ja, genau. Man könnte mehr daraus lernen.

Wo sollten wir die USA lieber nicht kopieren?


Beim öffentlichen Verkehr, beim Gesundheitswesen, in der Bildung. Oder in der Infrastruktur: In den USA plant man drei Monate im Voraus, und in der Schweiz baut man eine Gotthardröhre für die nächsten hundert Jahre.

Bezüglich Innovation können wir aber lernen.


Ja. Ich möchte aber klarstellen: Mit USA meine ich nicht das ganze Land, sondern bestimmte Regionen wie das Silicon Valley und Boston. Dorthin kommen die Talente aus der ganzen Welt. Bei Google und Facebook sind diese Leute gern gesehen.

Google und Facebook entwickeln sich nun zu globalen Monopolisten. Wie schätzen Sie das ein?


Das ist eine grosse Gefahr. Aber die einzige Antwort, welche wir Europäer darauf geben, ist Regulierung. Statt Innovation. Es wäre schade, wenn das letzte innovative Stück Software von einem deutschen Autokonzern geschrieben worden wäre. Das ist natürlich überspitzt, aber gerade im Softwarebereich sind wir von den USA abhängig. Europa muss aufwachen.

Und Asien?


Die spielen in einer eigenen Liga. In China gibt es einen grossen Markt mit chinesischen Firmen. Facebook heisst dort Renren, Amazon Alibaba.

Wie steht die Schweiz aktuell punkto Forschung und Innovation im internationalen Vergleich da?


Wir sind relativ gut positioniert. Das Problem betrifft die Jungunternehmen. Es ist zwar einfach, ein Start-up oder ein Spin-off zu gründen. Auch das Geld für die erste Phase ist relativ leicht aufzutreiben. Sobald ein Unternehmen jedoch mehr als zehn Mitarbeiter hat, wird es kompliziert. Denn man braucht schnell mal 20 Millionen Franken für Weiterentwicklung und Wachstum. Die finden sich in der Schweiz nicht so leicht, da unser Land zu klein ist. Deshalb gehen die Unternehmen entweder in die USA oder bleiben eine Mischung aus Start-up und KMU.

Man sagt, in der Schweiz gebe es zu wenig Risikokapital.


Es gibt zu wenig erfahrene Risikokapitalgeber auf Gebieten wie der IT. Geld gibt es in Mengen.

Was ist zu tun?


Einerseits braucht es ein grösseres Volumen an Risikokapital. Anderseits fehlt es den Risikokapitalgebern an Erfahrung. Ich war mal an einem Meeting mit Geldgebern in Zürich, an dem es um Patente ging. Die potenziellen Investoren haben mich doch tatsächlich gefragt, ob Patente wichtig für ein Start-up seien. Die hatten keine Ahnung. Gewissen Banken in der Schweiz fehlt das Know-how. Hier müsste man eine Lösung finden, wie die Schweiz eine Vorreiterrolle spielen kann.

Die Bankenbranche ist ja wegen der technologischen Neuerungen – Stichwort Fintech – selber unter Druck.


Ich würde erwarten, dass in der Schweiz ein Fintech-Fonds entsteht. Das Know-how ist ja vorhanden. Es gibt viele Informatiker, die bei den Banken arbeiten. Diese Chance muss man packen. Sonst wird London rasch zur Fintech-Hauptstadt.

Wo ist die Schweiz spitze?


In der Medizinaltechnologie, der Pharmaforschung und den Ingenieurwissenschaften, um nur ein paar zu nennen. Die traditionsreichen Unternehmen müssen aufpassen, dass nicht neue Firmen reinkommen und mit Informationstechnologien ganz schnell den Markt beherrschen.

Stichwort Autoindustrie.


Das ist das typische Beispiel. Die Autoindustrie ist das Vorzeigestück Europas. Sogar sie ist in Gefahr: Die Internet Big Five – Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook – steigen in diesen Markt ein. Mit Cash-Reserven von einer Billion Dollar. Dadurch verfügen sie über ein Quasi-Monopol auf Innovation.

Die saugen alles auf?


Nicht das Einverleiben macht Angst, sondern der nächste Schritt: Nehmen wir an, die EU kündigt ein Flagship-Projekt im Umfang von einer Milliarde Euro an – sagen wir für ein selbstfahrendes Auto. Wenn Apple ein solches Projekt verfolgt, dann werfen die locker zehn Milliarden Dollar auf. Zudem können sie die besten Ingenieure der ganzen Welt anziehen – alle wollen für eine solche Firma arbeiten. Hier sehe ich ein Risiko für Europa und die Schweiz.

Nebst dem Geld sind die Fachkräfte also zentral. Warum ist das EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 so wichtig für die Schweiz?


Wir können doch nicht wie im abgeschotteten Gallierdorf von Asterix leben.

Es geht um die Vernetzung?


Ja. Davon profitiert auch die Wirtschaft. Es ist kein Zufall, dass Google in Zürich einen Sitz hat. Gehen wir zurück ins 19. Jahrhundert: Damals war die Schweiz ein armes Emigrantenland. Der russische Zar spendete Geld für die Bekämpfung von Malaria. In diesem Kontext gründeten Alfred Escher und andere 1855 die ETH Zürich: das Powerhouse der industriellen Revolution in der Schweiz. Drei Viertel der Professoren waren Deutsche. Damit hatte man damals kein Problem – im Gegensatz zu heute.

Wir brauchen dieses ausländische Fachpersonal also zwingend?


Ja, das ist wie im Fussball. Wenn Sie nur mit den lokalen Boys zusammenspielen, kommen Sie nie in die höchste Liga.

Bilden wir die richtigen Spezialisten aus? Oder brauchen wir mehr Ingenieure und weniger Archäologen?


Wir sind ein wohlhabendes Land. Wir können es uns leisten, die Leute in den Fächern auszubilden, die sie studieren wollen.

Setzen wir die richtigen Schwerpunkte?


Natürlich haben wir zu wenige Ingenieure. Aber sie werden keinen Musikwissenschaftler dazu zwingen können, Informatik zu studieren.

Braucht es bessere Anreize?


Wenn Sie für eine Silicon-Valley-Firma arbeiten, ist das ein guter Deal. In Amerika beklagte man sich auch immer über einen angeblichen Mangel an Ingenieuren. Dann plötzlich – oh Wunder: Google findet sie. Warum? Weil sie gut zahlen und interessante Arbeit bieten.

Studienbeschränkungen mittels Numerus clausus ist also keine Option.


Nein, diese Top-down-Ansätze mag ich nicht. Wir sind nicht in China. In den 1950er-Jahren begann man auf einem Berggipfel in Hawaii die Kohlendioxid-Konzentrationen zu messen. Was zuerst eigenbrötlerisch aussah, wird 60 Jahre später zu einer der wichtigsten Messungen der Menschheit.

Wie sieht eine wirkungsvolle Nachwuchsförderung aus?


Man muss den Jungen attraktive Karrieremöglichkeiten bieten. Ich glaube an die Meritokratie. Wenn Leute vorwärtsmachen wollen, dann sollten sie auch vorwärtskommen. Im Silicon Valley ist diese Haltung stark verankert. In Europa hingegen spielen Herkunft und Schulen eine wichtige Rolle – in der Schweiz zum Glück ein bisschen weniger.

Erstmals seit Langem ist der Anstieg der Bundesfördermittel weniger hoch als bisher. Wie schlimm ist das?


Es gibt einen gewissen Widerspruch. Zum einen betonen die Politiker, wie wichtig Bildung, Forschung und Innovation seien. Und gleichzeitig wollen sie hier im Stabilisierungsprogramm des Bundes in den nächsten Jahren über eine halbe Milliarde Franken sparen. Diese Signalwirkung ist nicht gut. Man kann nicht etwas sagen und etwas anderes machen.

Kann dieses fehlende Geld kompensiert werden: etwa durch ein geringeres Ausgabenwachstum an den Hochschulen oder durch private Mittel?


Man hat keine Wahl. Die Studiengebühren werden raufgehen. Das finde ich schade. Es ist aber notwendig, auch weil die Inflation bisher nicht berücksichtigt wurde. Und was die privaten Geldgeber betrifft: Diese übernehmen die staatlich finanzierten Programme nicht eins zu eins, sondern bevorzugen Co-Investments. Wir sehen das in den USA, wo die Universitäten in grossem Ausmass von den Mitteln der Privatwirtschaft abhängig sind. Das kommt manchmal gut, manchmal nicht.

Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé ist ja auch auf dem Campus der ETH Lausanne mit einem Technologiezentrum präsent.


Nestlé ist eine der wichtigsten Firmen in der Westschweiz. Das Unternehmen muss schauen, wohin die Reise geht. Sie werden nicht immer auf George Clooney und Nespresso setzen können. Deshalb suchen sie die Verbindung zu den Lifesciences. Auf dem Campus ist Nestlé nahe bei den involvierten Forschern und Firmen. Das ist gut so. Wichtig ist natürlich, dass alles transparent ist. Stellen Sie sich den Aufschrei vor, wenn Nestlé sein Forschungscenter in Harvard aufgebaut hätte. Dass sich eine Schweizer Firma zum Standort Schweiz bekennt, finde ich wichtig.

Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Unis und Fachhochschulen?


Die Fachhochschulen haben noch ein wenig Nachholbedarf bei der Positionierung ihrer Forschungsaktivität. Wichtig ist die Komplementarität: Wir sollten nicht zweimal das Gleiche machen.

Fachhochschulen sollen sich auf anwendungsorientierte Forschung konzentrieren?


Ja. Heute vermischt man das zu stark. Fachhochschulen stellen manchmal ETH-Abgänger mit Doktortiteln, aber ohne Praxiserfahrung ein, die viele Publikationen aufweisen. Dadurch gelangen sie an Fördergelder. Das ist nicht die Lösung. Die Fachhochschulen sollten ihre Nähe zur Praxis, zum Beispiel zu den KMU, als Trumpfkarte spielen. Hier liegt ihre Chance. Universitäten sind oft – zumindest bei den Ingenieurwissenschaften, wo ich mich auskenne – weiter weg von den Betrieben.

Wie stellt man in der Grundlagenforschung sicher, dass man in die richtige Richtung forscht?


«I know it when I see it» – um es mit einem berühmten Ausdruck der amerikanischen Supreme Courts zu sagen. Es ist wie bei einem Gemälde: Erst wenn ich es sehe, sage ich entweder «Wow» oder «Das ist nichts». Denn am Anfang sieht man nicht, ob eine Idee gut ist. Der US-Computerhersteller Digital Equipment Corporation sah in den Siebzigerjahren die Bedeutung des PC für den Privatgebrauch nicht voraus (die Digital Equipment Corporation meldete Konkurs an; Anm. d. Red.).

Gibt es Monitoring-Instrumente?


Zum Glück nicht. Sonst hätte man Einstein gesagt, er solle mehr Patente analysieren, statt an seiner Relativitätstheorie zu schreiben. Es gibt gute Forscher, und das sehen Sie an deren Leistungsausweis. Die Qualität ist wichtig und nicht die Quantität.

In der Wissenschaft gibt es den sogenannten Impact-Factor, der angibt, wie oft ein Artikel in anderen Journals zitiert wurde.[1]


Es gibt diese Anekdote zwischen Patrick Aebischer (aktueller EPFL-Präsident; Anm. d. Red.) und mir. Er sagte: «Dein Impact-Factor ist tief.» Das ist, weil ich in den Ingenieurswissenschaften forsche. Ich antwortete: «Erwartest du von mir, dass ich Durchschnitts-Paper schreibe?»

Laut einer KOF-Studie gibt es in der Schweiz immer weniger Firmen, die forschen. Der Grund sind die zu hohen Kosten. Ist das ein Problem für die KMU und langfristig für die Volkswirtschaft?


Ja, das sehe ich als Problem. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass der Staat weiter Grundlagenforschung unterstützt. Auch in Europa und den USA geht die Zahl der Firmen zurück, die sich Grundlagenforschung leisten können. Eng damit verbunden ist die Monopolstellung von Unternehmen: In meinem Fachbereich waren früher die Bell Labs des US-Telekomkonzerns AT&T führend. Solange AT&T das Monopol für Telefonie hatte, forschten sie. Als sie das Monopol verloren, bauten sie in der Forschung ab. Die Industrie denkt eben kurzfristig. Dabei ist langfristige Innovationsforschung wichtig. Sonst spielen wir am Schluss alle Alphorn.

Universitäten verlieren Geld mit den Spin-offs.


Das stimmt nicht. Warum sagen Sie das?

Sie finanzieren die Grundlagenforschung, und anschliessend kassieren die Unternehmer das Geld ein.


Google war ein Spin-off der Stanford University. Das brachte der Universität, die ein kleines Aktienpaket besass, beim Börsengang Millionen ein. Die Hochschulen verdienen zudem an den Patenten. Aber zugegeben: Es ist eine Lotterie.

Sie sind noch bis Ende 2016 beim Schweizerischen Nationalfonds. Was möchten Sie in den verbleibenden Monaten noch aufgleisen?


Ich möchte die Bestrebungen in Richtung «Open Science» unterstützen. Ziel ist, basierend auf Open Data und Open Access die Forschungsresultate in verschiedenen Wissenschaftsfeldern besser zugänglich, wiederverwendbar und reproduzierbar zu machen. Dies ist ganz entscheidend für die Qualität und die Effizienz der Wissenschaft. Open Science ist ein weltweiter Trend und stellt einen potenziellen Paradigmenwechsel dar bezüglich der Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird.

  1. Der Impact-Factor gibt Auskunft über die Quantität; in den Ingenieurswissenschaften ist der Wert generell tief. []

Zitiervorschlag: Susanne Blank (2016). «Wir können doch nicht wie in einem abgeschotteten Gallierdorf leben». Die Volkswirtschaft, 27. April.

Martin Vetterli

Der 58-jährige Martin Vetterli ist noch bis Ende Jahr Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Gleichzeitig arbeitet er als Professor für Kommunikationssysteme an der ETH Lausanne (EPFL). Ab Januar 2017 wird er Präsident der EPFL. Von 2004 bis 2011 war er Vizepräsident der Hochschule. Während zehn Jahren arbeitete und forschte der Elektroingenieur in den USA an der Columbia University in New York sowie an der University of California in Berkeley. Seine Forschung hat zu rund 50 Patenten geführt, die zahlreichen Hightech-Unternehmen und Start-ups zugutekamen. Vetterli ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.