Brexit-Sieger Nigel Farage spricht nach der Abstimmung in London – der Frankenkurs steigt. (Bild: Keystone)
Als kleine Volkswirtschaft mit begrenzten natürlichen Ressourcen ist die Schweiz auf den wirtschaftlichen Austausch mit dem Ausland angewiesen. Neben dem Handel mit Waren und Dienstleistungen gehört auch der internationale Kapitalverkehr dazu. Zum heutigen Wohlstand hat die wirtschaftliche Offenheit entscheidend beigetragen.
Diese Offenheit bedeutet jedoch auch, dass sich die Schweiz den internationalen Entwicklungen nicht entziehen kann. Das betrifft nicht nur längerfristige Veränderungen wie den technischen Wandel und Änderungen der globalen Konsumgewohnheiten, sondern auch kurzfristige Störungen: Je grösser der Austausch mit dem Ausland ist, desto stärker wirken sich plötzliche Veränderungen im globalen Umfeld aus.
Eigenständige Geldpolitik nur mit flexiblen Wechselkursen
Vor diesem Hintergrund hat sich die Schweiz nach Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der Siebzigerjahre für flexible Wechselkurse entschieden. Bei freiem Kapitalverkehr ist dies die Voraussetzung dafür, eine eigenständige Geldpolitik führen zu können. Langfristig hat sich diese Entscheidung bewährt. Denn die Eigenständigkeit erlaubt es, die spezifischen Bedürfnisse einer Volkswirtschaft zu berücksichtigen. So kann die Schweizerische Nationalbank (SNB) direkt auf landesspezifische Störungen reagieren und die längerfristige Teuerungsentwicklung steuern. Dank ihrer eigenständigen Geldpolitik hat die Schweiz über viele Jahrzehnte von einem im internationalen Vergleich hohen Mass an Preisstabilität profitiert.
Die Eigenständigkeit hat jedoch ihren Preis: Man kann den Wechselkurs nicht dauerhaft kontrollieren. Solange die Kursbewegungen nicht allzu stark sind und zum Gleichgewicht beim Aussenhandel beitragen, ist dies kein Problem. Immer wieder gibt es jedoch Situationen, in denen heftige Kursbewegungen für Verunsicherung sorgen. Darüber hinaus gibt es Phasen, in denen Wechselkurse von den makroökonomischen Fundamentalfaktoren abweichen. Dies kann manchmal mehrere Jahre dauern. Von besonderer Bedeutung für die Schweiz ist in diesem Zusammenhang, dass der Franken in Zeiten globaler Krisen und Verunsicherung den Ruf eines sicheren Hafens geniesst.
Globale Erschütterungen führen zu Aufwertungsdruck
Seit rund zehn Jahren ist die Schweiz von globalen Erschütterungen betroffen: Besonders dramatisch waren die Banken- und Finanzkrise 2007/2008, die grosse Rezession 2008/2009 und – seit 2011 – die Eurokrise. Trotz aller Anstrengungen der Regierungen und Zentralbanken führten diese Erschütterungen zu einer grossen Verunsicherung nicht nur auf den Finanzmärkten, sondern auch bei den Unternehmen und Haushalten. Diese Phase war geprägt durch ein schwaches Wachstum, niedrige Zinsen und eine sehr tiefe Inflation – und zwar auf globaler Ebene.
Die Schweiz konnte sich diesen Turbulenzen nicht vollständig entziehen. Entsprechend wurde auch die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz beeinträchtigt. Ein besonderes Merkmal der globalen Krisenphase ist der starke Aufwertungsdruck auf den Franken, der zeitweise dramatische Züge annahm. Für die SNB wurde die Steuerung der monetären Bedingungen dadurch viel schwieriger. Das heisst aber keineswegs, dass sie nichts unternehmen konnte und deshalb tatenlos zugesehen hat.
Geldpolitisches Engagement von historischem Ausmass
Ganz im Gegenteil: Seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise hat die SNB auf eine Weise reagiert, die zuvor für undenkbar gehalten worden wäre. Auf die internationalen Turbulenzen und den Aufwertungsdruck auf den Franken hat sie, über mehrere Stufen, mit einer immer deutlicheren geldpolitischen Lockerung reagiert – zuerst über eine rasche Senkung der Zinsen, danach über eine starke Ausweitung der Liquidität und dann über grosse Devisenkäufe. Das Ausmass des Engagements lässt sich an der enormen Ausweitung der Bilanz ablesen.
Dank dieser unkonventionellen Massnahmen konnte die Aufwertung des Frankens nach der ersten Krisenphase abgebremst werden. Im Sommer 2011 verschärfte sich die Lage infolge der Eurokrise jedoch erneut, und der Franken wertete sich rasant gegenüber fast allen anderen Währungen auf. In dieser Situation zog die SNB die Notbremse. Als temporäre Massnahme in einer Ausnahmesituation wurde der Mindestkurs gegenüber dem Euro im September 2011 eingeführt. Danach verbesserte sich die Lage sukzessive. Die Unsicherheit nahm ab, und die Schweizer Wirtschaft fasste wieder Tritt.
Im Jahr 2014 begann eine neue Phase: Aus der Frankenstärke gegenüber den wichtigsten Währungen wurde mehr und mehr eine Euroschwäche auf breiter Front. Hauptsymptom war die deutliche Abschwächung des Euros gegenüber dem Dollar. Und gegen Ende des Jahres begann sich eine nochmalige, starke Lockerung der Geldpolitik in der Eurozone abzuzeichnen. Vor diesem Hintergrund war mit einer weiteren Abschwächung des Euros zu rechnen.
Angesichts dieser Entwicklung war der Mindestkurs nicht mehr nachhaltig. Denn: Zu seiner Durchsetzung hätten die Devisenkäufe immer stärker ansteigen müssen, was die Gefahr einer unkontrollierten Bilanzausdehnung mit sich gebracht hätte. Da dadurch die Fähigkeit der SNB, ihren geldpolitischen Auftrag auf lange Frist zu erfüllen, aufs Spiel gesetzt worden wäre, wurde die Mindestkurspolitik am 15. Januar 2015 beendet.
Seither setzt die SNB auf zwei Hauptpfeiler, um mit ihrer Geldpolitik stabilisierend auf das Preisniveau und unterstützend auf die Wirtschaftsentwicklung zu wirken. Der erste Pfeiler ist der Negativzins, welcher Banken und anderen Finanzmarktteilnehmern auf den Sichtguthaben bei der SNB belastet wird. Der zweite ist die Bereitschaft der Nationalbank, bei Bedarf am Devisenmarkt einzugreifen. Beides hat geholfen, den Wechselkurs zu stabilisieren. Dennoch bleibt der Franken auch heute deutlich überbewertet.
Möglichkeiten und Grenzen der Geldpolitik
Obwohl die eigenständige Geldpolitik mit ihrer Flexibilität der Wirtschaft hilft, sich an vorübergehende oder dauerhafte Veränderungen anzupassen, kann sie nicht alle Probleme lösen. So kann die Inflation bei grossen Störungen nicht zu jedem Zeitpunkt im angestrebten Bereich stabilisiert werden. Eine entscheidende Rolle spielen natürlich Ursache und Dauer der Störungen. Gerade wenn internationale Erschütterungen zu starken Wechselkursbewegungen führen, sind der raschen Stabilisierung der Inflation Grenzen gesetzt. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die SNB kein Punktziel für die Inflation anstrebt und ihre Geldpolitik auf die Erhaltung der mittelfristigen Preisstabilität ausrichtet.
Neben dem Auftrag, die Preisstabilität zu gewährleisten, muss die Geldpolitik der SNB gemäss gesetzlichem Mandat auch der konjunkturellen Entwicklung Rechnung tragen. Als Referenz dient dabei immer die Gesamtwirtschaft. Natürlich fliesst in die Analysen auch die Betrachtung der einzelnen Branchen ein, aus denen sich die Schweizer Wirtschaft zusammensetzt. Neben den statistischen Analysen ist die SNB deshalb ständig im Gespräch mit den verschiedenen Akteuren der Wirtschaft.
Die Entwicklung der einzelnen Branchen verläuft selten parallel. Ein Grund ist, dass sie unterschiedlich von makroökonomischen Schocks betroffen sind, wie Untersuchungen zeigen.[1] Hinzu kommt, dass sich das Umfeld – und damit auch die Struktur der Wirtschaft – ständig ändert, häufig auf globaler Ebene. In der jüngsten Vergangenheit haben vor allem die Digitalisierung und die zunehmende Vernetzung für grössere Umbrüche gesorgt. Sei es bei der Informationsbeschaffung und damit verbunden bei Druckerzeugnissen wie Büchern und Zeitungen. Oder sei es beim Wandel zum Onlinehandel, den veränderten Kommunikationsgewohnheiten oder Anpassungen von Produktionsprozessen.
Vor diesem Hintergrund ist es für die Geldpolitik unmöglich, auch noch strukturpolitische Ziele zu verfolgen. Dies würde ihren gesetzlichen Auftrag übersteigen und die Geldpolitik überfrachten. Für strukturpolitische Ziele müssen deshalb andere Politikbereiche zum Zuge kommen.
Abschwächung, aber keine Rezession
Nach der Aufhebung des Mindestkurses wurde von einigen Fachleuten eine Rezession erwartet. Stattdessen ist die Wirtschaft letztes Jahr gemäss einer ersten Schätzung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) um immerhin 0,9 Prozent gewachsen. Dies war zwar ein klar unterdurchschnittliches Wachstum, aber sicher keine Katastrophe. Auffällig an den Zahlen für 2015 ist ausserdem, dass in Wirtschaftsbereichen wie Export oder Ausrüstungsinvestitionen, für welche im Januar 2015 Pessimismus herrschte, schlussendlich ein positives Wachstum resultierte.
Die verarbeitende Industrie wies 2015 mit 3,0 Prozent sogar ein reales Wachstum aus, das über dem langfristigen Durchschnitt lag. Damit war ihre reale Wertschöpfung letztes Jahr um über ein Viertel höher als 2005. Diese Entwicklung ist angesichts der globalen Erschütterungen, die über den gleichen Zeitraum stattgefunden haben, umso bemerkenswerter und ein Beleg für die ausserordentliche Widerstandskraft der Industrie.
Doch bleibt die Lage für viele Wirtschaftszweige schwierig. Denn das positive Gesamtwachstum wurde 2015 von wenigen Branchen – beispielsweise von der Pharmaindustrie und vom Gesundheitswesen – getragen, während andere – zum Beispiel Handel und Finanzdienstleistungen – deutliche Rückschläge erlitten. In vielen Unternehmen bleibt vor allem die Gewinnsituation prekär, und die SNB teilt die damit verbundenen Sorgen. Die Überbewertung des Frankens ist aber nicht als einziger Faktor dafür verantwortlich. So leiden die klassischen MEM-Branchen beispielsweise auch unter einer andauernden globalen Investitionsschwäche.
Brexit erhöht Unsicherheit
Für alle Akteure wäre es angenehmer, in einem positiveren Umfeld zu agieren. Immerhin gab es in den ersten Monaten des laufenden Jahres einige ermutigende Signale. Der Einkaufsmanagerindex in der verarbeitenden Industrie beispielsweise stieg zwischen Januar und Mai deutlich, und auch die Beschäftigungsaussichten verbesserten sich wieder etwas. Für 2016 wurde – vor dem Brexit-Entscheid – allgemein mit einer graduellen Erholung der Wirtschaftsdynamik gerechnet.
Nun haben die Risiken aus dem internationalen Umfeld aber wieder zugenommen. Das Ergebnis der Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich vom 23. Juni hat erneut für Turbulenzen gesorgt. Da sich die Unsicherheit über die weitere Entwicklung in Europa erhöht hat, ist eine gewisse Abkühlung der Konjunktur zu befürchten.
- Siehe z. B. Bäurle, Gregor und Steiner, Elizabeth (2015). Ungewohnt, aber vorteilhaft: Konjunkturanalyse aus Sicht der Produktionssektoren, in: Die Volkswirtschaft 11/2015. []
Zitiervorschlag: Lenz, Carlos; Lutz, Matthias (2016). Globale Krisen fordern die Nationalbank. Die Volkswirtschaft, 25. Juli.