Die Forschung an Hochschulen ist für viele Akademiker nicht attraktiv genug. Physikerinnen in einem Labor für Quantenoptik. (Bild: 123RF)
Die Fachkräfteinitiative des Bundes verfolgt verschiedene Ziele: So will sie das inländische Arbeitsangebot ganz allgemein erhöhen.[1] Dazu sollen beispielsweise der Erwerb und die Anerkennung von berufsbildenden Abschlüssen erleichtert werden. Auch sollen die Arbeitsanreize für Frauen erhöht werden und die Arbeitsmarktintegration von anerkannten Flüchtlingen und von Menschen mit einer Behinderung vorangetrieben werden. Zudem zielt die Fachkräfteinitiative auf flexiblere Pensionsregelungen, womit die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen gesteigert werden soll.
Weiter verlangt die Fachkräfteinitiative mehr Effizienz im Gesundheitswesen. Deshalb sucht man nach Lösungen, um Leistungserbringer wie Spitäler und Krankenkassen besser aufeinander abzustimmen – eine Massnahme, die auch ohne Mangel an Pflegekräften sinnvoll wäre. Schliesslich soll das Arbeitskräftepotenzial bei Ingenieuren, Informatikern, Technikern, Forschern und Pflegekräften gesteigert werden. Angesichts dieser vielfältigen Ziele fokussiert dieser Text auf Berufe, wo Fachkräfte besonders gefragt sind.
Marktanreize genügen nicht
Um das volkswirtschaftliche Problem zu verstehen, muss man sich fragen: Warum reichen derzeit die Marktanreize nicht aus, um eine volkswirtschaftlich optimale Bildungsstruktur zu erreichen? Antworten liefert die Wachstums- und Innovationsforschung. Demnach berücksichtigen weder Individuen bei ihrer Fächerwahl noch Firmen – bei der Nachfrage nach Fachkräften –, dass die Produktivität eines Industrie- oder eines Dienstleistungszweiges insgesamt ansteigt, wenn das Fachkräfteangebot verbessert wird. Die Marktlöhne etwa von Ingenieuren, Informatikern oder Forschern spiegeln somit nicht in ausreichendem Masse ihren volkswirtschaftlichen Wert wider. Beispielsweise berücksichtigt ein Maturand, der vor der Wahl steht, Informatik oder Jura zu studieren, nicht, dass ein grosses Angebot von Informatikern in einer Region zur verstärkten Ansiedelung oder Gründung von Firmen führt, die Informatiker einsetzen, oder dass bereits ansässige Firmen ihre Forschungs- und Entwicklungs-Aktivitäten (F&E) ausweiten. Ebenso berücksichtigen Unternehmen bei der Nachfrage nach Fachkräften nicht, dass ihre Innovationen von anderen genutzt und weiterentwickelt werden können.
Die Evidenz hinsichtlich solch positiver Externalitäten ist eindeutig, wie Studien für die USA zeigen: Wenn der Anteil der Immigranten mit Studienabschluss in den sogenannten Mint-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik um einen Prozentpunkt steigt, erhöhen sich die Löhne von heimischen Hochschulabsolventen um 8 bis 11 Prozent. Auch die Löhne von anderen heimischen Arbeitskräften steigen – in diesem Fall um 4 Prozent –, und die Patentanmeldungen pro Kopf nehmen um erstaunliche 52 Prozent zu.[2]
Grundlagenforschung gezielt fördern
Die Lücke beim Angebot von Fachkräften zu quantifizieren, ist schwierig – auch wenn die bisherigen Überlegungen insgesamt auf starken Handlungsbedarf hindeuten. Daher werden nun die angedachten Massnahmen der Fachkräfteinitiative unter dem Blickwinkel der Wirksamkeit diskutiert.
In der Schweiz ist die Zuwanderung insbesondere bei hochschulgebildeten Ingenieuren, Informatikern und Technikern überdurchschnittlich: Hier gibt es viele offene Stellen, und die Arbeitslosenquote ist tief.[3] Deshalb sollte der Schwerpunkt auf der Förderung der Hochschulausbildung liegen.
Einige der vorgeschlagenen Fördermassnahmen der Fachkräfteinitiative richten sich explizit auf eine Steigerung des Angebots hochschulgebildeter Fachkräfte im Bereich der mathematisch-technischen Fächer. So soll die Praxisorientierung der Mint-Studien im Hochschulbereich gestärkt werden. Unter Praxisorientierung versteht man gemeinhin die Anwendbarkeit des Erlernten und nicht so sehr die Lösungskompetenz für in der Zukunft auftretende Probleme und auch nicht die Förderung innovativer Tätigkeiten. Gerade das ist aber für die Wettbewerbsfähigkeit privater Unternehmen und der Hochschulen der Schlüssel.
Es braucht deshalb weitere Ansätze: Der Bereich der Grundlagenforschung könnte beispielsweise durch eine attraktivere Ausgestaltung des akademischen Karrierewegs gefördert werden. Eine Massnahme wäre die Schaffung von mehr Assistenzprofessuren («Tenure Track»). Vermehrte Anreize zur privaten F&E-Tätigkeit im Bereich der patentierbaren Innovationen könnten durch F&E-Subventionen für Firmen geschaffen werden. Dadurch würde die Nachfrage nach geeigneten Fachkräften steigen, was wiederum die Löhne für Forscher im Privatsektor erhöhen und somit verstärkt Anreize für die Ausbildung in Mint-Fächern generieren würde.[4]
Konkret könnte beispielsweise die verstärkte Absetzbarkeit der F&E-Kosten von der Unternehmenssteuerbasis erfolgen. Der abzusetzende Betrag sollte die tatsächlichen Kosten dabei übersteigen.[5] In der Schweiz werden private F&E Ausgaben bislang jedoch nicht direkt subventioniert, ganz im Gegensatz etwa zum angelsächsischen Raum, zu Skandinavien oder zu Südkorea.[6]
Motivation der Frauen als Schlüssel
Eine durch F&E-Subventionen induzierte Lohnerhöhung für technische Berufe würde insbesondere für männliche Maturanden die Studienfachwahl zugunsten von Mint-Fächern erhöhen.[7] Frauen hingegen werden weniger durch pekuniäre Anreize als durch das Interesse am Fach per se motiviert. Allerdings wird in der Schule offensichtlich gerade bei Mädchen eher wenig Begeisterung für Mint-Fächer geweckt. So ist der Unterschied in der Motivation von 15-jährigen Mädchen für Mathematik im Vergleich zur Motivation von Knaben nirgendwo in der OECD so gross wie in der Schweiz.[8] Dies drückt sich deutlich in einem Geschlechtermissverhältnis an Hochschulen bei den Mint-Studierenden aus: Nicht einmal ein Fünftel der Studierenden der exakten Wissenschaften Mathematik, Informatik und Physik an Schweizer Universitäten ist weiblich.[9]
Auch wenn sich in den exakten Wissenschaften, den Naturwissenschaften und den technischen Wissenschaften zusammengenommen die weibliche Studierendenquote an Schweizer Universitäten in den letzten zehn Jahren von 16 Prozent auf 20 Prozent erhöht hat, ist die männliche Studierendenquote in Mint-Fächern mit 41 Prozent noch mehr als doppelt so hoch. An den Fachhochschulen sind sogar weniger als 10 Prozent der Studierenden in Technik- und IT-Fächern Frauen.
Daher ist das in der Fachkräfteinitiative betonte Ziel zu begrüssen, über eine Internetplattform die Gestaltung des Unterrichts im Mint-Bereich spannender zu gestalten. US-Psychologen haben in einer Experimentalstudie[10] herausgefunden: Diejenigen Schüler, die zu Beginn des Schuljahres geringe Erfolgserwartungen in den mathematischen und technischen Fächern hatten, können die Noten signifikant verbessern, wenn sie über die Relevanz des Mint-Unterrichtsmaterials für ihr eigenes Leben nachdenken.
Insgesamt ist zu hoffen, dass Lehrpläne als Konsequenz solcher Studien stark revidiert werden. Rollenvorbilder können ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf die Studienfachwahl haben, was für eine verstärkte Fokussierung auf weibliche Lehrkräfte im Mint-Bereich spricht.[11] Dass in der Schweiz die mangelnde Motivation von Mädchen für diese Fächer das Kernproblem darstellt, ist bislang in der Bildungspolitik nicht ausreichend reflektiert worden.
Ärzte hat es genug
Die Fachkräftediskussion entbrennt insbesondere auch im Gesundheitssektor. Das Krankenversicherungssystem und die Bedeutung der kantonalen Spitäler beeinflussen die Lohnbildung für Fachkräfte stark, sodass diese nicht mehr viel mit einem freien Arbeitsmarkt zu tun hat. Denn: Bei Ärzten herrscht kein Mangel in dem Sinne, dass die Ausbildungsanreize und das Arbeitsangebot unzureichend wären. Im Gegenteil: Die Tarife für ärztliche Leistungen sind im internationalen Vergleich auch kaufkraftbereinigt im Durchschnitt hoch, sodass mehr Maturanden ein Medizinstudium aufnehmen möchten, als zugelassen werden. Die von Zeit zu Zeit diskutierte Senkung der Zulassungsvoraussetzungen ist dabei aus Qualitätssicherungsgründen nicht sinnvoll, zumal es genügend gute, zuwanderungswillige Ärzte gibt, die gerne in der Schweiz eine Praxis eröffnen würden. Allerdings ist die Eröffnung ärztlicher Praxen nach wie vor streng reguliert.[12]
Bei den Pflegekräften ist die Lage anders. Hier könnten verstärkte Beschäftigungsanreize sinnvoll sein – etwa bessere Kinderbetreuungsangebote.[13] Zudem böten höhere Löhne für Pflegekräfte etwa in kantonalen Spitälern einen Anreiz, dass der Pflegeberuf öfter gewählt wird.
Zuwanderung ist essenziell
Die Ausbildungsstruktur in der Schweiz in der genannten Weise zu ändern und die Früchte zu ernten, erfordert viel Geduld. Es wäre deshalb viel zu optimistisch, anzunehmen, dass die Fachkräfteinitiative die Abhängigkeit von ausländischen Fachkräften schon mittelfristig reduzieren kann. Daher ist eine liberale Zuwanderungspolitik – trotz «Masseneinwanderungsinitiative» – weiterhin unerlässlich.
Die Schweiz ist in der glücklichen Lage, ohne explizit selektive Einwanderungspolitik einen vergleichsweise hohen Anteil hervorragender Fachkräfte unter den Zuwanderern anzuziehen. Darauf zu verzichten, wäre gegen jedes ökonomische Eigeninteresse.
- Der Autor dankt Martin Huber von der Universität Freiburg und Thomas M. Steger von der Universität Leipzig für die wertvollen Anregungen. []
- Peri, Shih und Sparber (2015) und Hunt und Gauthier-Loiselle (2010). []
- Seco (2014). []
- Grossmann (2007). []
- Grossmann, Steger und Trimborn (2016). []
- OECD (2015), S. 170. []
- Grossmann, Osikominu und Osterfeld (2015). []
- OECD (2007). []
- BFS (2015). []
- Hulleman und Harackiewicz (2009). []
- Carrell, Page und West (2010). []
- Fenazzi (2016). []
- Vgl. dazu den Beitrag von Martin Huber (Universität Freiburg) in dieser Ausgabe. []
Literaturverzeichnis
- Bundesamt für Statistik (2015). Studierende an den universitären Hochschulen/Fachhochschulen: Basistabellen.
- Carrell, Scott E., Marianne Page und James E. West (2010). Sex and Science: How Professor Gender Perpetuates the Gender Gap, Quarterly Journal of Economics 125, 1101–1144.
- Grossmann, Volker (2007). How to Promote R&D-based Growth? Public Education Expenditure on Scientists and Engineers versus R&D-Subsidies, Journal of Macroeconomics 29, 891–911.
- Fenazzi, Sonia (2016). Eröffnung neuer Arztpraxen in der Schweiz bleibt schwierig, Swissinfo.ch.
- Grossmann, Volker, Aderonke Osikominu und Marius Osterfeld (2015). Are Sociocultural Factors Important for Studying a Science University Major, IZA Discussion Paper No. 9415.
- Grossmann, Volker, Thomas M. Steger and Timo Trimborn (2016). Quantifying Optimal Growth Policy, Journal of Public Economic Theory 18, 451–485.
- Hulleman, Chris S. und Judith M. Harackiewicz (2009). Promoting Interest and Performance in High School Science Classes, Science 326, 1410–1412.
- Hunt, Jennifer und Marjolaine Gauthier-Loiselle (2010). How Much Does Immigration Boost Innovation?, American Economic Journal: Macroeconomics 2, 31–56.
- OECD (2007). Education at a Glance, Paris.
- OECD (2015). OECD Science, Technology and Industry Scoreboard 2015, Paris.
- Peri, Giovanni, Kevin Shih und Chad Sparber (2015). STEM Workers, H-1B Visas, and Productivity in US Cities, Journal of Labor Economics 33, 225–255.
- Staatssekretariat für Wirtschaft (2014). Fachkräftemangel in der Schweiz – Ein Indikatorensystem zur Beurteilung der Fachkräftenachfrage in verschiedenen Berufsfeldern, Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), 23. April 2014.
Bibliographie
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Zitiervorschlag: Grossmann, Volker (2016). Die Mädchen für Technik begeistern. Die Volkswirtschaft, 22. September.