IFO-Präsident Clemens Fuest will mit sogenannten Accountability-Bonds die Staatsverschuldung eindämmen. (Bild: Alamy)
Herr Fuest, seit gut einem halben Jahr leiten Sie das renommierte IFO-Institut in München. Woran forschen Sie?
Mich beschäftigt derzeit die europäische Integration – vor allem die Eurozone und der EU-Haushalt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Steuer- und Fiskalpolitik.
Wie sieht die wirtschaftliche Lage in der Eurozone aus?
Die Situation bleibt angespannt. Immerhin haben wir aber wieder Wachstumsraten von 1,5 Prozent. Der Zeitpunkt für Reformen wäre deshalb günstig. Wir müssen aufpassen, dass wir ihn nicht verpassen.
Einige Staaten sind heute stärker verschuldet als nach dem Zweiten Weltkrieg. Inwiefern ist das problematisch?
Hoch verschuldete Länder sind krisenanfällig, da ihre Handlungsspielräume eingeschränkt sind. Eine hohe Verschuldung bedeutet nichts anderes, als dass man in der Vergangenheit über seine Verhältnisse gelebt hat. Hinzu kommt der demografische Wandel: Die Alterung und das Schrumpfen der Bevölkerung belasten die Staatsfinanzen. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte man niedrige öffentliche Schulden.
Gibt es einen gesunden Grad der Verschuldung?
Staatsverschuldung sollte eigentlich dazu da sein, vorübergehende Schwankungen in den öffentlichen Einnahmen oder Ausgaben auszugleichen: Wenn plötzlich hohe Kosten auf den Staat zukommen oder Einnahmen sinken, kann er vorübergehend Schulden machen. Das ist sinnvoller als Steuererhöhungen. Ein Grund für derartige Schwankungen können Konjunkturzyklen sein: Die Schulden, die in einer Rezessionsphase entstehen, zahlt man später in der Boomphase wieder zurück. Man kann Staatsschulden auch damit begründen, dass der Staat investiert. Ein permanenter Anstieg der Staatsschulden, wie wir ihn in den letzten Jahren beobachtet haben, ist aber kaum zu rechtfertigen. Schuldenstände von weit über 100 Prozent des BIP wie in Italien und Portugal sind deshalb sicher nicht mehr im grünen Bereich.
Für zwei Drittel der weltweiten Verschuldung sind Unternehmen und Privatpersonen verantwortlich. Was ist bedenklicher, die Staatsverschuldung oder die Privatverschuldung?
Sowohl bei der privaten als auch bei der öffentlichen Verschuldung gilt: Wenn der Schuldner nicht die Mittel hat, die Schulden zu bedienen, gefährdet dies die Stabilität. Gleichzeitig ist eine private und öffentliche Verschuldung sinnvoll, wenn es darum geht, Investitionen zu finanzieren.
Werden denn heute Investitionen getätigt?
Kaum. In vielen Staaten verrottet die Infrastruktur, und die Schulden dienen dazu, den Konsum zu finanzieren. Man kann die heutige Staatsverschuldung also nicht damit erklären, dass viel investiert worden wäre. Genauso problematisch ist die Lage im privaten Sektor, wo ebenfalls Schulden zu Konsumzwecken aufgenommen werden. Dort verstärkt sich das Problem, wenn Hauseigentümer im Verhältnis zu ihrem Einkommen zu hohe Hypotheken aufnehmen.
Wer sind die Verlierer der hohen Verschuldung?
Das ist die junge Generation. Sie verliert in der Zukunft Finanzierungsspielräume.
In der Finanzkrise zeigte sich, wie wichtig die Banken für die Stabilität sind. Aktuell spricht man viel von der Deutschen Bank. Sie wurde auch schon als Zombiebank – als lebende Tote – bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
Die Deutsche Bank steht vor Herausforderungen, aber ich würde sie nicht als Zombiebank bezeichnen. Zombiebanken sind überschuldet und verfügen nicht über genügend Kapital, weil sie zum Beispiel zu viele faule Kredite in ihren Bilanzen haben. Diese notleidenden Banken werden von den Zentralbanken oder von Regierungen häufig liquide gehalten, um eine Finanzkrise zu vermeiden. Sie können keine neuen Geschäfte mehr abschliessen, und es fehlt ihnen das Kapital, um die faulen Kredite abzuschreiben. Letztlich können sie somit ihre volkswirtschaftliche Funktion nicht mehr erfüllen.
Was läuft schief?
Im Bankensystem insgesamt ist zu wenig Eigenkapital vorhanden. Deshalb gefährden sogar kleinere Schocks die Stabilität. Die generelle Unterkapitalisierung hat ja schon in der Finanzkrise zu Schwierigkeiten geführt.
Fast zehn Jahre später sind die Probleme also noch nicht gelöst?
Nein. Meines Erachtens hat die Politik nicht richtig auf die Finanzkrise reagiert. Die Bankenregulierung greift zu sehr in Details ein. Kleine Banken haben wegen der Komplexität Mühe, damit zurechtzukommen. Es wäre besser gewesen, sich auf die Kapitalregulierung zu konzentrieren – also deutlich mehr Eigenkapital zu verlangen. Dann müsste man auch nicht so stark in die Geschäftsmodelle der Banken eingreifen.
Welche Eigenkapitalquote schwebt Ihnen vor?
Wir könnten uns als nächste Zielgrösse eine Quote von 8 Prozent der Bilanzsumme vornehmen. Das ist gemäss den Regeln der europäischen Bankenunion die Menge an haftendem Kapital, die jede Bank halten muss. Im Krisenfall muss mindestens dieses haftende Kapital zur Verfügung stehen, bevor staatliche Mittel beansprucht werden können. Das klappt am besten, wenn es sich um Eigenkapital handelt. Bei den meisten Banken muss man bezweifeln, dass dieses Kapital wirklich zum Auffangen von Verlusten zur Verfügung steht.
Wie kann ein Staat seine Schulden wieder loswerden?
Er kann Überschüsse erzielen und damit die Schulden zurückbezahlen. Weiter kann er versuchen, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen, wodurch sich das Verhältnis der Verschuldung zur Wirtschaftskraft reduziert. Er kann auch versuchen, Schulden durch Inflationierung loszuwerden. Weiter kann ein Staat die Schulden restrukturieren, den Gläubigern also Verluste zumuten. Ausserdem kann man verlangen, dass andere zahlen. So wird ja in Europa vielfach verlangt, die Schulden von Staaten wie Griechenland und Portugal auf weniger verschuldete Staaten wie Deutschland zu verlagern. Das führt natürlich zu Streit.
Welches ist das wahrscheinlichste Szenario in der Eurozone?
Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen der hoch verschuldeten Staaten durch das OMT-Programm («Outright Money Transactions», Anm. d. Red.) und die Staatsanleihenkäufe reduziert. Nun hofft man, dass die Staaten diese Entlastung nutzen, um ihre Schulden abzubauen. Bislang ist davon wenig zu sehen. Manche Regierungen hoffen, dass sie die Schuldenlast durch Vergemeinschaftung auf andere Staaten im Euroraum abwälzen können. Damit herrscht eine gefährliche Pattsituation.
Warum?
Hohe Schulden wirken lähmend. Ähnlich wie bei den Banken gibt es auch Zombiestaaten, welche nicht mehr investieren und Reformen nicht mehr angehen können, die für mehr Wirtschaftswachstum nötig wären. Das birgt wiederum Risiken für die nächste Krise – insbesondere wenn die Zinsen ansteigen.
Welches sind diese Staaten?
Portugal und Italien haben eine Schuldenquote von je rund 130 Prozent des BIP. In Spanien und Frankreich beträgt die Quote rund 100 Prozent. Das sind alles sehr hohe Verschuldungsniveaus. Langfristig steht auch Deutschland nicht so gut da, weil das Land wegen der demografischen Probleme in Zukunft mit starken Lasten rechnen muss. Die deutschen Staatsfinanzen sind also nicht so solide, wie viele glauben.
Die Schulden steigen also eher an, als dass sie sinken?
Wir müssen mittelfristig mit hohen und weiter wachsenden Schulden rechnen. Das ist natürlich nicht das, was ich mir wünsche.
Welche Rolle spielt der Internationale Währungsfonds IWF?
Auch der IWF kann die Verschuldungsprobleme in Europa nicht lösen. Das ist ja gar nicht seine Funktion. In den Währungsfonds zahlen viele Länder ein, die weniger wohlhabend sind als die europäischen. Der IWF kann die Europäer hingegen beraten und macht in Berichten auf Probleme aufmerksam. Aber die Entschuldung müssen die Europäer selber schaffen.
Wie wichtig ist in der aktuellen Situation der Club de Paris – ein informelles Gremium von staatlichen Gläubigern?
Das ist eher ein Instrument für Entwicklungs- und Schwellenländer. Für die Eurozone stellt sich aber durchaus die Frage, ob man nicht eine Institution braucht, die sich mit der Schuldenrestrukturierung beschäftigt. Prädestiniert wäre der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM. Ähnlich wie der IWF gibt er Staaten Kredite, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken – und verbindet diese mit Auflagen.
Sie schlagen vor, sogenannte Accountability-Bonds einzuführen. Staaten, welche die Verschuldungsregeln für das laufende Defizit verletzen, wären gemäss ihrem Vorschlag gezwungen, solche risikobehafteten Staatsanleihen zu emittieren. Wie muss man sich das vorstellen?
Ich schlage vor, die Regel des europäischen Fiskalpakts als Grundlage zu nehmen. Demnach darf das strukturelle Defizit in einem Land höchstens 0,5 Prozent des BIP betragen. Liegt ein Staat darüber, müsste der überschiessende Teil durch Accountability-Bonds emittiert werden. Bei einem Defizit von 1,5 Prozent müsste also zum Beispiel 1 Prozent des BIP durch Accountability-Bonds finanziert werden. Dadurch beschränkt sich die vorhandene, implizite Solidarhaftung in der Eurozone im Wesentlichen auf die Altschulden. Da die EZB und schlecht kapitalisierte Banken keine Accountability-Bonds kaufen dürfen, kann verhindert werden, dass aus einer Staatsschuldenkrise eine Bankenkrise entsteht.
Das klingt gut. Aber finden sich dereinst genügend Käufer?
Das hängt vom Land ab. Wenn Deutschland diese Bonds emittieren würde, lägen die Zinsen wohl etwas höher als bei normalen Anleihen und würden sicherlich gern gekauft. Bei Frankreich ginge das wahrscheinlich auch noch. Aber bei Portugal und Italien könnte es schwierig werden.
Was sollen diese beiden hoch verschuldeten Staaten also tun?
Ein Land, das so stark verschuldet ist, dass niemand mehr die Bonds kaufen will, müsste sich eben an die Regeln halten, die es selbst unterschrieben hat. Es könnte natürlich einen Hilfsantrag an den ESM stellen. Das ESM-Programm würde aber vermutlich auch vorsehen, dass die Defizite schnell reduziert werden.
Übernimmt die Europäische Zentralbank immer mehr Risiken, indem sie Staatsanleihen kauft?
Na ja, die EZB kauft im Rahmen des Quantitative Easing zwar Staatsanleihen auf, das Verlustrisiko tragen aber – zumindest juristisch – die nationalen Zentralbanken. So trägt bei italienischen Bonds beispielsweise die italienische Nationalbank das Risiko. Die Frage ist natürlich, ob sie grosse Verluste, wenn sie auftreten sollten, überhaupt tragen könnte.
Sie stehen der Nullzinspolitik der EZB kritisch gegenüber. Was läuft da aus Ihrer Sicht schief?
Die Europäische Zentralbank versucht, die Inflation in Richtung 2 Prozent zu bewegen. Mit ihrer Nullzinspolitik und den Anleihenkäufen will sie die Konjunktur anregen. Langsam stösst sie damit an Grenzen, und es entstehen immer mehr negative Nebenwirkungen.
Welche Nebenwirkungen sind das?
Auf den Bond- und auf den Immobilienmärkten bilden sich Blasen. Es könnte also zu einem Crash kommen. Zudem werden die Sparer verunsichert. Diejenigen, die auch im Alter auf einen gewissen Lebensstandard nicht verzichten wollen, müssen wegen der niedrigen Zinseinnahmen mehr Geld zur Seite legen. Gesamtwirtschaftlich reduziert das die Nachfrage – es passiert also genau das Gegenteil dessen, was die EZB eigentlich will. Schliesslich haben auch die Banken in der Eurozone immer grössere Schwierigkeiten, mit dem traditionellen Geschäftsmodell Geld zu verdienen – also beispielsweise niedrig verzinste Spareinlagen entgegenzunehmen und sie langfristig und zu höheren Zinsen zu verleihen. Denn: Die Anleihenkäufe der EZB drücken auch die langfristigen Zinsen herunter. Schwache Banken erschweren aber letztlich die wirtschaftliche Erholung.
Wie lange wird die EZB die Tiefzinspolitik noch weiterführen?
Die wird sie weiterführen, solange die Inflation sehr niedrig ist. Ich glaube aber nicht, dass sie die EZB noch verstärkt. Hinzu kommt: Wir haben in Europa viele Banken und Unternehmen, die stark verschuldet sind. Denen kann man mit einer solchen Politik nicht helfen. Sie bräuchten hingegen stärkere Anreize, ihre Schulden abzubauen oder zu restrukturieren.
Wann steigen die Zinsen wieder?
Das hängt beispielsweise davon ab, ob sich die Politik dazu durchringt, Banken zu rekapitalisieren und überschuldete Unternehmen, die kein Geschäftsmodell mehr haben, in die Insolvenz zu zwingen. Das könnte noch ziemlich lange dauern.
Wäre für Länder wie Griechenland, Italien, allenfalls Portugal oder Spanien ein Schuldenschnitt nicht die bessere Variante? Sozusagen ein Ende mit Schrecken.
Das ist aus zwei Gründen riskant. Erstens halten viele Banken in Südeuropa in grossem Umfang heimische Staatsanleihen. Diese Banken müsste man sanieren. Das geht nur, wenn den Gläubigern der Banken Verluste zugemutet werden. Viele Anleger würden ihr Geld verlieren, die Finanzmärkte würden erschüttert. Zweitens haben die Regierungen der Eurozone verkündet, dass es nach dem griechischen Schuldenschnitt keinen weiteren mehr geben soll. Man würde also Glaubwürdigkeit einbüssen. Das wäre noch hinzunehmen, wenn es eine grosse Schuldenrestrukturierung geben würde. Das ist aber politisch und rechtlich kaum zu bewältigen.
Ein Schuldenschnitt scheint also kaum praktikabel. Wo soll man also ansetzen?
Ich würde nicht mit der Restrukturierung der Staatsschulden anfangen, sondern mit der Restrukturierung von Unternehmensschulden und mit der Rekapitalisierung von Banken. Nur wenn sich die Politik hier stärker engagiert, haben wir eine Chance, aus der Krise herauszukommen.
Zitiervorschlag: Blank, Susanne (2016). «Es passiert genau das Gegenteil dessen, was die EZB eigentlich will». Die Volkswirtschaft, 24. November.
Der 48-jährige deutsche Ökonom Clemens Fuest ist Präsident des renommierten IFO-Instituts in München, welches auf angewandte, politikorientierte Wirtschaftsforschung spezialisiert ist. Im April 2016 folgte er auf Hans-Werner Sinn, der die Forschungseinrichtung 17 Jahre geleitet hatte. Zuvor präsidierte Fuest das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim und lehrte unter anderem als Wirtschaftsprofessor in Oxford und in Köln. Viel Beachtung fand dieses Jahr sein Vorschlag, das Schuldenwachstum mit nachrangigen Staatsanleihen («Accountability Bonds») zu bekämpfen. Fuest ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.