Die OECD zwischen Vernunftehe und freier Lebensgemeinschaft
Lettland ist seit diesem Jahr OECD-Mitglied. Fluss Düna in Riga. (Bild: Dreamstime)
Die vor über 50 Jahren gegründete Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) setzt sich dafür ein, wirksame wirtschaftspolitische Modelle für ein nachhaltiges Wachstum zu finden und zu fördern. Ihre Analysen und Empfehlungen sind seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/2009 wichtiger denn je.
Gemeinsame Werte sind die DNA der OECD
Jährlich reisen über 400 Schweizer Delegierte – die meisten arbeiten beim Bund – nach Paris, um an den Versammlungen der rund 250 Ausschüsse und Arbeitsgruppen der OECD teilzunehmen. Jedes dieser Gremien behandelt einen bestimmten Fachbereich, sei es in Form eines Diskussionsforums, einer Ideenwerkstatt oder als Thinktank. Das Themenspektrum reicht von der Wirtschaft über Steuerfragen, Gesundheit, Bildung, Energie, Entwicklungshilfe und Handel bis hin zum Klimawandel.
An ihren Sitzungen diskutieren die Delegierten der 35 OECD-Mitgliedsländer über die vom Sekretariat der Organisation unterbreiteten Analysen und Empfehlungen: Wenn sie diese als sinnvoll und als gültig erachten, können daraus gemeinsame Normen und Standards entstehen. Deren Umsetzung verfolgt die OECD anschliessend mit.
Solche Standards haben zwar meist keine zwingenden Änderungen der nationalen Gesetzgebungen zur Folge; auch existiert kein formaler Sanktionsmechanismus, wenn eine Norm nicht eingehalten wird. Die Standards gehören somit zum sogenannten weichen Recht.[1] Trotzdem stellen sie für die internationale Gemeinschaft eine wichtige Verpflichtung dar. Das zeigt sich daran, dass Länder, die diese Normen annehmen, sich daran halten. Denn: Eine Nichtumsetzung eines OECD-Standards kann rufschädigend sein, und das entsprechende Land kann dadurch an Glaubwürdigkeit verlieren. Deshalb passen die meisten Staaten entweder ihre Gesetzgebung an oder ändern ihre nationalen Praktiken
Die Schweiz als aktive Partnerin
Als OECD-Mitglied arbeitet die Schweiz an der Ausarbeitung der internationalen Normen mit. Indem sie ihren Standpunkt einbringt und gleichzeitig ihre Interessen vertritt, trägt sie dazu bei, dass für alle Akteure die gleichen Spielregeln geschaffen werden (Level Playing Field): Das Streben nach wirtschaftlicher Disziplin auf internationaler Ebene kann für die Schweiz nur von Vorteil sein.
Die Schweiz hat bereits mehrfach an der Erarbeitung neuer OECD-Standards mitgewirkt und ihre eigenen Praktiken entsprechend angepasst. Das bekannteste Beispiel ist die Besteuerung: Hier ist es unserem Land gelungen, den internationalen Standards nachzukommen und gleichzeitig seine Interessen zu wahren. So entspricht der Automatische Informationsaustausch in Steuersachen inzwischen den neuesten Normen. Die Schweiz wird diese zusammen mit ihren Partnerstaaten ab 2018 anwenden.
Ein anderes Beispiel ist die Anti-Korruptions-Konvention der OECD: Dieses internationale Instrument zur Korruptionsbekämpfung – das einzige in diesem Gebiet – soll mithelfen, die Bestechung ausländischer Amtsträger zu vermeiden. Exemplarisch sind auch die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zur Förderung verantwortungsvoller Unternehmensführung – der einzige ausführliche, multilateral vereinbarte Verhaltenskodex in diesem Bereich.
Einfluss der OECD wächst
Zahlreiche Nicht-Mitgliedsländer teilen die gemeinsamen Werte der OECD. Dank dieser Wertegemeinschaft konnten in den unterschiedlichsten Bereichen gemeinsame Standards entwickelt werden, stets mit dem Ziel, eine nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern. Die erprobten Instrumente, die zum Erreichen dieses hochgesteckten Ziels beitragen, sind ein ausgereiftes Analyseverfahren, Empfehlungen, der interaktive Austausch sowie Peer-Vergleiche als Druckmittel. Dank einer gemeinsamen Vision und ihrer strengen Vorgehensweise hat es die OECD geschafft, das hohe Niveau ihrer Standards und die rigorose Umsetzung durch die beteiligten Parteien über die Jahre hin zu bewahren.
Heute steht die OECD am Scheideweg: Aufgrund ihres guten Rufes wollen neue Staaten Mitglied werden. Chile ist der OECD 2010 beigetreten, Lettland dieses Jahr, und Verhandlungen mit Kolumbien, Costa Rica und Litauen sind im Gang. Andere Staaten arbeiten in zahlreichen Einzelbereichen mit der OECD zusammen. Dadurch verändert sich das Gesicht der OECD: Von einem einstigen Club reicher Staaten entwickelt sie sich zu einer Gemeinschaft von Ländern mit einem gemeinsamen Verständnis von guten Wirtschaftspraktiken.
Angesichts der Kräfteverschiebungen in der Weltwirtschaft ist die OECD seit der zweiten Hälfte der Nullerjahre bestrebt, solide Kontakte mit strategisch wichtigen Partnern zu knüpfen. Privilegierte Beziehungen hat sie mit Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika – den fünf wichtigsten aufstrebenden Volkswirtschaften – aufgebaut. Dank dieser Zusammenarbeit kann die OECD an einem Tisch Wirtschaftspartner vereinen, die zusammen 80 Prozent des weltweiten Handels und der internationalen Investitionen ausmachen. Diese Länder nehmen nun vollumfänglich an den Diskussionen zur internationalen Besteuerung teil, insbesondere derjenigen von multinationaler Unternehmen[2].
Darüber hinaus gibt es mehrere spezifische Zusammenarbeitsprojekte mit Regionen – Lateinamerika, Südostasien, Mittlerer Osten und Nordafrika – und Ländern (Kasachstan, Marokko und Peru). Durch eine Annäherung dieser Volkswirtschaften an die Standards und Praktiken der OECD stärkt die Organisation ihren Einfluss und die Wirkungskraft ihrer Arbeiten. Gleichzeitig fördert sie die Eingliederung dieser Länder in die Weltwirtschaft. Schliesslich spielt die OECD auch innerhalb der G20 eine wichtige Rolle, indem sie ihr Fachwissen in spezifischen Bereichen einbringt. Beispiele dafür sind insbesondere die Besteuerung und das Wirtschaftswachstum.
Für eine wohlüberlegte Öffnung
Die Schweiz unterstützt die verschiedenen Initiativen zur Öffnung der Organisation. Denn sowohl die OECD als auch ihre Mitgliedsstaaten dürfen sich freuen, wenn andere Länder sich ihren Prioritäten und den entsprechenden Leitlinien anschliessen möchten. Eine solche Entwicklung stellt für die OECD einen Mehrwert dar und steigert ihre Legitimität. Jedoch darf diese Öffnungspolitik – sei es über spezifische Zusammenarbeitsprojekte (Outreach Activities) oder über den Beitritt neuer Mitglieder – auf keinen Fall die Werte und Standards der OECD schwächen. Ganz im Gegenteil: Nicht-Mitglieder, die an einem Beitritt zur OECD interessiert sind, müssen aufzeigen, dass sie sich vollumfänglich an die von der Organisation geschaffenen Regeln halten können.
Die Schweiz bevorzugt daher einen «À-la-carte-Ansatz», bei dem sich Nicht-Mitglieder einzelnen spezifischen Instrumenten der OECD anschliessen können, wie etwa der Anti-Korruptions-Konvention, dem Global Forum on Taxation oder den Umweltnormen. Im Rahmen dieses auf Freiwilligkeit beruhenden gezielten Ansatzes können die Partnerländer an einem spezifischen Projekt voll und ganz mitwirken und gleichzeitig unter Beweis stellen, dass sie eingegangene Verpflichtungen auch einhalten können. Diese Flexibilität dürfte auch für weitere Staaten motivierend sein.
Indem die OECD weiterhin qualitativ erstklassige Arbeit leistet und sich gegenüber neuen Mitgliedern gezielt öffnet, wird sie sich den ausgezeichneten Ruf bewahren können, den sie sich in den letzten 50 Jahren erarbeitet hat.
- Als «soft law» werden im Völkerrecht Empfehlungen von internationalen Instanzen bezeichnet, die nicht bindend sind, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit zu Anpassungen der nationalen Gesetzgebungen oder zu bedeutenden Änderungen internationaler Normen führen. []
- OECD/G20-Projekt gegen Gewinnverkürzung und -verlagerung (Base Erosion and Profit Shifting, BEPS). []
Zitiervorschlag: Jordan, Dominique (2016). Die OECD zwischen Vernunftehe und freier Lebensgemeinschaft. Die Volkswirtschaft, 24. November.