Setzt Italien die Rentenreform wie geplant um, wirkt sich das langfristig positiv auf die Staatsverschuldung aus. Ehepaar in Rom. (Bild: Alamy)
Acht Jahre nach Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise sind die öffentlichen Finanzen in vielen europäischen Staaten weiterhin aus dem Lot. Dabei stellt sich die Herausforderung, die Lage der öffentlichen Finanzen präzise zu erfassen, um somit ein wahrheitsgemässes Abbild über die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zu erhalten.
Entscheidend für die Beurteilung der finanziellen Lage eines Landes sind nebst der aktuellen Haushaltssituation auch die zukünftigen Belastungen für die öffentlichen Finanzen. Somit ergibt sich zusätzlich zur expliziten Verschuldung eines Staates auch eine implizite Verschuldung (siehe Kasten). Explizite und implizite Verschuldung ergeben zusammen die sogenannte Nachhaltigkeitslücke, die sowohl heutige als auch zukünftige Belastungen des Staatshaushaltes berücksichtigt.
Der gesellschaftliche Alterungsprozess stellt die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen vor enorme Herausforderungen. Bereits heute beläuft sich der Altersquotient, der das Verhältnis der Anzahl der über 65-Jährigen zur Anzahl der 15- bis 64-Jährigen angibt, in der EU auf 28, in der Schweiz auf 29 und in Deutschland auf 31. Aufgrund geringer Geburtenraten und einer anhaltend steigenden Lebenserwartung in Europa wird sich diese Kennziffer bis zum Jahr 2060 nahezu verdoppeln. Bereits heute wird ein Fünftel des Bruttoinlandprodukts (BIP) in der Europäischen Union für Altersvorsorge, Gesundheit und Pflege ausgegeben, wobei sich die Höhe dieser Ausgaben in besonderem Masse nach der Altersstruktur eines Landes richtet.
Als Folge des gesellschaftlichen Alterungsprozesses werden diese sogenannten altersabhängigen Ausgaben in Zukunft deutlich zunehmen. Um dem Anstieg entgegenzuwirken, sind in vielen Ländern teils grundlegende Reformen ihrer Rentensysteme beschlossen worden. Jedoch zeigt sich, dass hierdurch ein Ausgabenanstieg nicht verhindert, sondern lediglich abgemildert werden kann.
Zur Berechnung der zukünftigen finanziellen Lasten sind massgeblich zwei Komponenten zu beachten: Zum einen müssen die Auswirkungen des demografischen Wandels und deren Konsequenzen insbesondere für die staatlichen Ausgaben bei der Altersvorsorge, bei der Gesundheit und bei der Pflege berücksichtigt werden. Zum anderen ist die fiskalische Ausgangslage der einzelnen Staaten ausschlaggebend. Diese setzt sich aus der Höhe der jeweiligen expliziten Staatsverschuldung und aus dem Anteil der impliziten Verschuldung zusammen.
Hohe implizite Verschuldung in Europa
In der Europäischen Union belaufen sich die expliziten Schulden auf durchschnittlich 89 Prozent des BIP; die impliziten Schulden betragen 177 Prozent. Zählt man die beiden Werte zusammen, erhält man eine Nachhaltigkeitslücke von 266 Prozent des BIP (siehe Abbildung 1).
In den meisten EU-Staaten ist ein erheblicher Anteil der Nachhaltigkeitslücken auf die implizite Verschuldung des jeweiligen Landes zurückzuführen. Das sind alarmierende Signale, die darauf hindeuten, dass sich die meisten Länder in der EU bei Weitem noch nicht ausreichend auf die fiskalischen Herausforderungen der Zukunft vorbereitet haben. Eine ungewöhnliche Situation mit negativen impliziten Schulden zeigt sich in Italien und Portugal. Die impliziten Vermögen beruhen dort auf der Annahme, dass die bereits verabschiedeten tiefgreifenden Reformen insbesondere der Rentensysteme auch umgesetzt werden. Die altersbedingten Ausgaben weisen daher in beiden Staaten eine deutlich vorteilhaftere Entwicklung auf, und die zukünftigen Belastungen für die öffentlichen Haushalte sind erheblich niedriger.
Abb. 1: Nachhaltigkeitslücken in ausgewählten EU-Staaten (in % des BIP)
Anmerkung: Der Wert in Klammern gibt die Nachhaltigkeitslücke an. Sie setzt sich aus der expliziten und der impliziten Verschuldung zusammen. Das Basisjahr ist 2014.
Quelle: Europäische Kommission, Aging Report (2009, 2012, 2015); Europäische Kommission, European Economic Forecast – Autumn 2015; Raffelhüschen, Reeker, Weisser / Die Volkswirtschaft
Andere Berechnungsgrundlage in der Schweiz
Für die Untersuchung der Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte der Schweiz wird die Methode der Generationenbilanzierung verwendet. Sie unterscheidet sich in einigen methodischen Punkten vom Konzept des EU-Nachhaltigkeitsvergleichs. So gibt es Unterschiede in den Annahmen zu den wirtschaftlichen und fiskalischen Rahmenbedingungen und in der Länge des zugrunde liegenden Betrachtungszeitraums, der in der Generationenbilanzierung theoretisch unendlich festlegt ist.
In der Generationenbilanz der Schweiz werden alle zukünftigen Zahlungen pro Kopf einer jeden Generation über deren jeweils verbleibende Lebensdauer diskontiert und aufsummiert. So bedeutet eine negative Nettosteuerzahlung, dass die durchschnittliche Person dieses Altersjahrganges in ihrem übrigen Lebensverlauf mehr Leistungen des Gesamthaushaltes in Anspruch nimmt, als diese Person zum Haushalt beiträgt.
Bei der aktuellen Gesetzeslage weisen lediglich die 15- bis 45-Jährigen ein positives Generationenkonto auf (siehe Abbildung 2). Diese Altersgruppe hat zum einen ihre Kindheit und Jugend bereits hinter sich, in der sie unter anderem viele staatliche Gesundheits- und Bildungsleistungen in Anspruch genommen hat. Zum anderen ist sie noch viele Jahre vom Renteneintrittsalter entfernt.
Abb. 2: Generationenbilanz in der Schweiz
Anmerkung: Basisjahr 2011, Produktivitätswachstum = 1%, realer Zinssatz = 1%
Quelle: EFD, BFS, BSV, Bafu, Berechnungen Raffelhüschen, Reeker, Weisser / Die Volkswirtschaft
Ein 65-Jähriger hingegen weist das grösste negative Generationenkonto auf. Denn: Sein Erwerbsleben ist bereits abgeschlossen, und während seiner anstehenden Rentenbezugszeit wird er hauptsächlich Leistungsempfänger sein und (netto) nicht mehr in den Gesamthaushalt einzahlen. Die Babyboomer – die heute etwa 46- bis 72-Jährigen – bewegen sich immer mehr in den Altersbereich der stärksten Nettoempfänger: Hier wird in Zukunft ein deutliches Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben des Gesamthaushaltes herrschen. Dieses wird durch die implizite Staatsschuld der Schweiz von 167,4 Prozent des BIP zum Ausdruck gebracht. Werden die expliziten Staatsschulden vom Jahr 2011 in Höhe von 35,5 Prozent des BIP addiert, ergibt sich für die Schweiz eine tatsächliche Verschuldung von 202,9 Prozent des BIP. Die Schweiz verfügt jedoch anders als die meisten EU-Staaten über ein bestehendes explizites Vermögen in Höhe von 36,9 Prozent des BIP, zu dem neben den Finanzanlagen von Bund, Kantonen und Gemeinden oder dem AHV-Ausgleichsfonds auch die Beteiligungen des Bundes zählen, wie beispielsweise Post, SBB oder Swisscom. Diese müssen noch von der tatsächlichen Verschuldung abgezogen werden, womit die Nachhaltigkeitslücke der Schweiz 166,0 Prozent des BIP beträgt.
Die sowohl für die Schweiz als auch für die EU dargestellten Projektionen, insbesondere für die altersbedingten Ausgaben, sind mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Die Erfahrung zeigt leider: Der Politik fehlt es häufig an Durchhaltewillen. Es besteht also stets das Risiko, dass auch bereits umgesetzte Reformen wieder rückgängig gemacht oder zumindest in ihrer Wirkung abgeschwächt werden. Ob sich die in der Schweiz oder in der EU teilweise erfreulichen Entwicklungen in der Reformtätigkeit tatsächlich auch in eine erfreuliche Entwicklung der öffentlichen Haushalte wandeln werden, bleibt demnach abzuwarten.
Zitiervorschlag: Raffelhüschen, Bernd; Reeker, Gerrit; Weisser, Veronica (2016). Demografischer Wandel belastet Staatshaushalt. Die Volkswirtschaft, 24. November.
Unter der impliziten Verschuldung versteht man die unverbriefte Staatsverschuldung, die sich aus der Summe aller zukünftigen Primärsalden aller staatlichen Haushalte ergibt. Ein Primärsaldo ist die Differenz von Staatseinnahmen und -ausgaben unter Ausschluss der Zinsen. Zukünftige Primärsalden beruhen auf langfristigen Projektionen der öffentlichen Staatshaushalte und werden aus der Fortschreibung des aktuellen Primärsaldos berechnet. Dabei wird angenommen, dass alle fiskalpolitischen Beschlüsse über zukünftige Ein- und Ausgaben auch tatsächlich umgesetzt werden. Somit wird durch die fiskalische Projektion der Ausgangslage das gegenwärtige und in Zukunft bestehende Missverhältnis zwischen den öffentlichen Einnahmen- und Ausgabenentwicklungen ausgedrückt.