Lebensqualität und Gesundheit haben ihren Preis. (Bild: Keystone)
In der Schweiz ist die öffentliche Diskussion über das Gesundheitswesen bereits seit Jahren beinahe ausschliesslich auf die Kosten fixiert. In der Berichterstattung diagnostiziert man eine «Kostenexplosion» und warnt vor «Prämienschocks». Dieser einseitige Kostenfokus verleitet viele Politiker zu Aktivismus, weshalb sich die Diskussionen im Parlament hauptsächlich um die Kostenreduktion drehen. Und seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) fordern verschiedene Stimmen sogar regelmässig, die Leistungen müssten rationiert werden. Entsprechend hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kürzlich den Zugang zu neuen – teuren, aber wirksamen – Hepatitis-C-Medikamenten eingeschränkt, sodass nur Patienten mit einem fortgeschrittenen Leberschaden diese von der Krankenkasse bezahlt bekommen.
Es ist unbestritten: Die Gesundheitsausgaben sind in der Schweiz hoch und über die Zeit stetig angestiegen. Eine Betrachtung des Gesundheitswesens sollte aber auch den Nutzen im Fokus haben. Denn: Hohe und steigende Gesundheitsausgaben stellen an und für sich noch kein Problem dar, solange die damit finanzierte Gesundheitsversorgung den Präferenzen der Versicherten entspricht und ihnen einen Nutzen generiert, der höher ausfällt als die Kosten. So zahlt sich ein Spitzengesundheitssystem für die Patienten in Form einer besseren Gesundheit und einer längeren Lebensdauer aus. Die Versicherten insgesamt wiederum profitieren von einem einfachen, schnellen und flächendeckenden Zugang zu den Gesundheitsleistungen.
Hohe Patientenzufriedenheit
Die Nutzenseite des Gesundheitswesens wird jedoch in der öffentlichen Diskussion bisher relativ stiefmütterlich behandelt. Es bestreitet zwar kaum jemand, dass das Gesundheitswesen einen hohen Nutzen generiert, aber im Gegensatz zu den Kosten ist dieser deutlich schwieriger zu messen. Es gibt allerdings zunehmend Anstrengungen, Einflussfaktoren für den Patientennutzen durch objektive Qualitätsmessungen oder den subjektiven Patientennutzen durch Zufriedenheitsbefragungen zu ermitteln [1]
In Umfragen schneidet das Gesundheitswesen in Bezug auf die Qualität regelmässig gut ab. Gemäss dem Gesundheitsmonitor 2016 des Branchenverbandes Interpharma sehen 81 Prozent der Stimmberechtigten das Gesundheitswesen positiv; drei Viertel halten seine Qualität sogar für gut bis sehr gut.[2]
Aufschlussreich sind auch Untersuchungen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung. So kam eine OECD-Studie im Jahr 2006[3] beispielsweise zum Schluss, dass die Schweiz sowohl bei objektiven als auch subjektiven Kriterien wie zum Beispiel bei der Lebenserwartung und beim selbst eingeschätzten Gesundheitszustand im Vergleich zu anderen OECD-Ländern sehr gut abschneidet. Zudem unterschied sich der Gesundheitszustand der verschiedenen sozioökonomischen Gruppen in der Schweiz weniger stark als anderswo – was nicht zuletzt auf einen umfassenden Zugang der Bevölkerung zu den Gesundheitsdienstleistungen zurückzuführen ist.
Der Nutzen in Franken ausgedrückt
Stiften Gesundheitsleistungen also mehr Nutzen, als sie kosten? Auf diese Schlüsselfrage liefern die erwähnten Qualitätsmessungen, Zufriedenheitsbefragungen und internationalen Indikatorenvergleiche keine abschliessende Antwort. Eine Möglichkeit ist deshalb, den Nutzen in Geldeinheiten zu beziffern – wozu in der Ökonomie üblicherweise das Konzept der Zahlungsbereitschaft verwendet wird. Messungen dazu sind für die Schweiz bisher jedoch erst wenige vorhanden.
Vor gut zehn Jahren untersuchte eine Studie[4] erstmals die Nutzenseite von Reformvorschlägen in der Schweiz. Allerdings wurde dabei nicht nach der Zahlungsbereitschaft, sondern nach der Kompensationsforderung gefragt, da es hauptsächlich um Einschränkungen im Leistungskatalog der Grundversicherung und damit um Nutzeneinbussen für die Versicherten ging.
Die grössten Nutzeneinbussen zeigten sich dabei vor allem bei einer Einschränkung der freien Arzt- und Spitalwahl: Damit die Versicherten eine Ärzteliste nach Kostenkriterien akzeptierten, müssten sie monatlich mit einer rund 100 Franken günstigeren Prämie kompensiert werden (siehe Abbildung 1). Der Nutzenverlust reduziert sich auf etwa die Hälfte, wenn die Ärzteliste nach Qualitäts- (53 Franken) oder Effizienzkriterien (42 Franken) anstatt lediglich nach Kostenüberlegungen erstellt würde. Der Nutzenverlust aus einer Einschränkung der Spitalwahl ohne kleine, lokale Spitäler beträgt 37 Franken. Ebenfalls hoch sind die Einbussen bei einem um zwei Jahre verzögerten Zugang zu Innovationen, bei dem beispielsweise neue Medikamente oder Implantate erst zwei Jahre nach der Zulassung in den Leistungskatalog der Grundversicherung aufgenommen würden. Hier bezifferte sich der Verlust auf 65 Franken pro Monat und Person. Der direkte Zugang zu Innovationen stiftete den Versicherten somit jährlich einen Nutzen von rund fünf Milliarden Franken – was etwa 10 Prozent der damaligen Gesundheitsausgaben entspricht.
Zwar wurde in der Studie kein Vergleich mit den Kosten vorgenommen. Es ist allerdings äusserst unwahrscheinlich, dass mit einem verzögerten Innovationszugang tatsächlich jährlich fünf Milliarden Franken eingespart werden können. Damit würde eine solche Reform eine höhere Nutzeneinbusse bei den Versicherten nach sich ziehen, als dass sie Kosten einspart.
Abb. 1: Nutzenverluste von Reformvarianten pro Versicherten und Monat (2004)
Telser et al. (2004) / Die Volkswirtschaft
Anmerkung: Die Abbildung zeigt, ab welchem Betrag ein durchschnittlicher Versicherter in der Schweiz eine bestimmte Einschränkung im Krankenversicherungsvertrag freiwillig akzeptieren würde. Den grössten Nutzenverlust (rund 100 Fr. pro Monat) hätte er bei einer Einführung einer Ärzteliste nach Kosten. Keinen Verlust würde er dagegen empfinden, wenn er Medikamente für Bagatellerkrankungen selbst bezahlen müsste: Die Kompensationsforderung beträgt hier statistisch null (95-Prozent-Vertrauensintervall).
Zahlungsbereitschaft auch für letzten Lebensabschnitt hoch
Eine Studie[5] aus dem Jahr 2016 untersuchte für die Schweiz, wie hoch die Zahlungsbereitschaft der Versicherten für medizinische Leistungen am Ende des Lebens ist. Weil in dieser Lebensphase die Kosten besonders hoch sind, wird hier häufig Rationierung gefordert. Wie die Autoren zeigen, sind die Versicherten bereit, für eine bessere Gesundheit von Patienten am Lebensende viel Geld auszugeben: Für eine Behandlung, die das Leben bei bester Lebensqualität um ein ganzes Jahr verlängert, beträgt die Zahlungsbereitschaft rund 200’000 Franken (siehe Abbildung 2). Dieser Betrag ist doppelt so hoch wie der im Jahr 2010 vom Bundesgericht in seinem viel beachteten Myozime-Urteil festgelegte Wert, ab wann Therapiekosten nicht mehr angemessen seien.[6] Im letzten Lebensjahr von Krebspatienten wird je nach Alter nur gerade bei 19 Prozent der Verstorbenen die 200’000-Franken-Schwelle überstiegen. Die überwiegende Mehrheit der Verstorbenen weist in ihrem letzten Jahr Gesundheitsausgaben auf, die deutlich unter dem liegen, was der Durchschnittsversicherte dafür zu zahlen bereit ist.
Abb. 2: Durchschnittliche Zahlungsbereitschaft für zusätzliche Lebensdauer und -qualität pro Patient am Lebensende (2014)
Anmerkung: Die Abbildung zeigt die Zahlungsbereitschaft der Versicherten in Abhängigkeit der Lebensdauer und -qualität für Patienten, die noch sechs Monate bei mittlerer Lebensqualität zu leben haben. Den Ausgangspunkt bilden die schraffierten Flächen. Negative Qualitätswerte zeigen eine Verschlechterung der Lebensqualität der Patienten an, negative Monatswerte eine Verkürzung in der Lebenserwartung. Positive Werte stehen für Qualitätsverbesserung respektive Lebensverlängerung. Je dunkler ein Feld eingefärbt ist, desto höher ist die Zahlungsbereitschaft für die entsprechende Kombination aus Änderung der Lebensdauer und Lebensqualität.
Angesichts dieser Studien deutet vieles darauf hin, dass die meisten Patienten die Gesundheitsversorgung als hochwertig und auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet einstufen. Entsprechend sind die Versicherten bereit, dafür zu zahlen. Das heisst natürlich nicht, dass es kein Einsparpotenzial gibt.
Wenn im Gesundheitswesen Kosten eingespart werden können, denen keine Leistungen entgegenstehen, die einen entsprechenden Nutzen stiften, ist dies selbstverständlich die beste aller Welten. Es gibt durchaus Reformen, die keinen Nutzenverlust nach sich ziehen: So könnte die Grundversicherung nur noch Generika anstatt Originalpräparate vergüten, wo dies möglich ist, und Medikamente für Bagatellerkrankungen könnten von den Patienten selbst bezahlt werden (siehe Abbildung 1). Vor einer Rationierung rein aus Kostensicht muss jedoch gewarnt werden.
Literaturverzeichnis
- Beck, K., V. von Wyl, H. Telser und B. Fischer (2016). Kosten und Nutzen von medizinischen Behandlungen am Lebensende, Nationales Forschungsprogramm NFP 67.
- Interpharma (2016). Das Wichtigste in Kürze zum Gesundheitsmonitor 2016. Basel.
- OECD (2006). OECD Reviews of Health Systems – Switzerland, Paris.
- Telser, H., S. Vaterlaus, P. Zweifel und P. Eugster (2004). Was leistet unser Gesundheitswesen?, Zürich.
Bibliographie
- Beck, K., V. von Wyl, H. Telser und B. Fischer (2016). Kosten und Nutzen von medizinischen Behandlungen am Lebensende, Nationales Forschungsprogramm NFP 67.
- Interpharma (2016). Das Wichtigste in Kürze zum Gesundheitsmonitor 2016. Basel.
- OECD (2006). OECD Reviews of Health Systems – Switzerland, Paris.
- Telser, H., S. Vaterlaus, P. Zweifel und P. Eugster (2004). Was leistet unser Gesundheitswesen?, Zürich.
Zitiervorschlag: Telser, Harry (2017). Wie viel ist uns die Qualität im Gesundheitswesen wert? Die Volkswirtschaft, 23. Februar.