Es braucht eine Steuerreform für den Mittelstand
Liegen Skiferien noch drin? Das aktuelle Steuersystem trifft den Mittelstand relativ stark. (Bild: Keystone)
Im internationalen Vergleich sind die Einkommensunterschiede in der Schweiz gering. Betrachtet man die Verteilung der Primäreinkommen der Haushalte und somit die Einkommen vor staatlicher Umverteilung, weist die Schweiz auf Basis der OECD-Daten im Vergleich der Industriestaaten eine geringe Ungleichheit auf: Zu diesem Schluss kommt eine Analyse, welche die beiden Ökonomen Christoph Schaltegger und Christian Frey von der Universität Luzern anhand der Literatur und der vorhandenen Daten zuhanden der Fondation 2048 vorgenommen haben.
Die sonst vielfach zu beobachtende Spreizung zwischen hoch und gering qualifizierten Arbeitskräften ist in der Schweiz demnach weniger ausgeprägt. Das Verhältnis zwischen dem Arbeitseinkommen, das nur 10 Prozent der Erwerbstätigen überschreiten (10. Dezil), und dem Einkommen, das nur 10 Prozent der Bevölkerung unterschreiten (1. Dezil), lag im Jahr 2010 bei 2,7, wobei nur die Industriestaaten Italien, Schweden, Norwegen und Finnland einen tieferen Wert aufweisen. Nicht zuletzt aufgrund der im internationalen Vergleich betrachteten relativ gleichmässigeren Verteilung der Markteinkommen fällt in der Schweiz auch der Umverteilungsbedarf relativ gering aus.
Weiter zeigt sich: Die Schweiz weist eine über die Zeit stabile und im internationalen Vergleich sehr geringe Ungleichheit der Markteinkommen auf. Auch kann keine Zunahme der Polarisierung zwischen sozialen Schichten bzw. eine Schrumpfung der Mittelschicht festgestellt werden. Bei den Top-Einkommen lässt sich seit den Achtzigerjahren zwar eine Steigerung feststellen – diese fällt aber sowohl im internationalen wie auch im historischen Vergleich moderat aus.
Stärkerer Druck auf mittlere Einkommen
Da Verteilungsfragen im öffentlichen Diskurs in der Schweiz trotzdem prominent behandelt werden, lässt sich auf eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Verteilungssituation schliessen. Ein Grund hierfür liegt wohl in der staatlichen Umverteilung, welche den Druck auf die unteren und mittleren Einkommen verstärkt hat.
Gemäss der Analyse weist das Steuer- und Transfersystem beispielsweise Mängel bei den unteren Einkommen auf: Hier führt das Zusammenspiel der sozialen Sicherung und des Steuersystems zu negativen Arbeitsanreizen und Schwelleneffekten. Ebenfalls eine besonders starke Umverteilung durch die gesamtstaatliche Aktivität lässt sich in der Mittelschicht feststellen. Insbesondere der untere Mittelstand kann sich in seiner materiellen Ausstattung kaum noch von den tiefen Einkommen abgrenzen (siehe Abbildung). Für Zweitverdiener des unteren Mittelstands zahlt sich eine Arbeit kaum aus, da bei zusätzlichem Einkommen Unterstützungsleistungen wegfallen und im Regelfall die Steuerprogression zunimmt.
Verteilung der Haushaltseinkommen in der Schweiz (15- bis 60-Jährige; 2005)
Anmerkung: Für jedes Einkommensdezil wird die materielle Ausstattung nach der gesamten staatlichen Umverteilungsaktivität durch Steuern, Transfers sowie Realtransfers dargestellt. Nach Staatsaktivität unterscheidet sich die materielle Ausstattung bei den unteren und mittleren Einkommen (2. bis 6. Dezil; blaue Fläche) kaum. Ein höheres Einkommen führt in diesem Bereich kaum zu einer höheren materiellen Ausstattung.
Fondation CH248 (2016). Reformstossrichtungen für das Schweizer Steuer- und Transfersystem. Schlussbericht, S. 29. Grundlage: Aktualisierung von Monika Engler auf Basis von Engler, M. (2011), Redistribution in Switzerland: Social Cohesion or Simple Smoothing of Lifetime Incomes? – Swiss Journal of Economics and Statistics 147(2), 107–155 / Die Volkswirtschaft
Ausgangsbasis: 30 Reformoptionen
Auf der Basis von internationalen Erfahrungen, von theoretischen und praktischen Reformvorschlägen hat die Fondation CH2048 zunächst 30 Reformoptionen einer näheren Prüfung unterzogen. Aus Überschaubarkeitsgründen hat man sich auf natürliche Personen beschränkt. Damit wurden unter anderem die Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform III ausgeblendet.
Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die durch Staatsausgaben verursachten «Realtransfers». Dazu zählen insbesondere die Bildung – aber auch subventionierte Gesundheitsleistungen, die Infrastruktur sowie die Landesverteidigung. Gerade die Ausklammerung der Bildung wiegt im Zusammenhang mit dem vorliegenden Projekt schwer, da diese eine beträchtliche Umverteilungswirkung erzeugt und für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Arbeitskräfte und des Wirtschaftsstandorts bedeutend ist. Der Ausschluss von Realtransfers erfolgt denn auch lediglich aufgrund der Wahrung einer handhabbaren Ausgangslage und nicht aus inhaltlicher Sicht.
Unter der Lupe: Acht Massnahmen
In einem zweiten Schritt wurde die 30 Reformoptionen umfassende Liste auf 8 mögliche Massnahmen reduziert. Zu diesem Zweck wurden zum einen intensive Diskussionen mit einem wissenschaftlichen Expertengremium geführt, welches die Projektarbeiten begleitete. Zum anderen wurden zwischen Januar und Juni 2015 drei Onlinebefragungen bei rund 250 interessierten Bürgern durchgeführt.
Ein erster Vorschlag umfasst erwerbsabhängige Steuergutschriften. Zweitens könnten die Sozialtransfers besteuert werden – gleichzeitig würden Einkommen, welche unterhalb eines sogenannten Existenzminimums fallen, steuerbefreit. Drittens könnten bei der Besteuerung auch Aspekte der Haushaltsproduktion und des Freizeitnutzens berücksichtigt werden. Viertens wurden Vorschläge betrachtet, welche zu einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage führen. Der fünfte Vorschlag betraf die Einführung einer Konsumsteuer (zins- oder sparbereinigte Einkommenssteuer). Die Einführung einer Individualbesteuerung war ein weiterer, der sechste Vorschlag. Siebtens könnte die Vermögens- durch eine moderate Erbschaftssteuer ersetzt werden, und der achte Reformvorschlag betraf die Bestimmung der Einkommensbasis für Sozialtransfers (Abbau von Schwelleneffekten).
Diese Reformoptionen lassen sich gemäss dem Chefökonomen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV), Bruno Jeitziner, verschiedenen Arten von Steuersystemen zuteilen (siehe Tabelle 1). Dabei unterscheidet er, ob das Steuersystem grundsätzlich bei der Einkommensentstehung und dem Vermögen oder bei der Einkommensverwendung ansetzt. Ersteres ist eine einkommensorientierte und Letzteres eine konsumorientierte Besteuerung. Für die Unterscheidung wichtig ist die Frage, ob auch Kapitaleinkommen besteuert werden sollen.
Tabelle 1: Einbettung der Reformoptionen in das Steuersystem
Synthetische Einkommenssteuer | Duale Einkommenssteuer | Konsequente Konsumorientierung |
Erwerbsabhängige Steuergutschriften (1) | Reformen der Paarbesteuerung: Individualbesteuerung (6) |
|
Steuerbarkeit staatlicher Unterstützungsleistungen und Steuerbefreiung des Existenzminimums (2) | Ersatz Vermögenssteuer durch Erbschaftssteuer (7) | |
Berücksichtigung von Haushaltsproduktion und Freizeitnutzen (3) | Bestimmung der Einkommensbasis für Sozialtransfers (8) | |
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage (4) |
Quelle: Fondation CH248 (2016): Reformstossrichtungen für das Schweizer Steuer- und Transfersystem. Schlussbericht, S. 29. Grundlage: Referat von Bruno Jeitziner am ersten Workshop der Fondation CH2048, 26. Juni 2015.
Tabelle 2: Das Reformpaket der Fondation CH2048
Massnahme | Verbesserung der horizontalen Steuergerechtigkeit | Verbesserung der Arbeitsanreize |
Besteuerung Sozialtransfer und Steuerbefreiung des Existenzminimums | X | X |
Einführung der Individualbesteuerung | X | |
Einführung einer Kapitalgewinnsteuer in Verbindung mit der Abschaffung der Vermögenssteuer und ggf. der Einführung einer moderaten Erbschaftssteuer | X |
Quelle: Fondation CH2048.
Die Reformen verbessern sowohl die horizontale Steuergerechtigkeit als auch die Arbeitsanreize (siehe Tabelle 2). Indem eine Reihe von Privilegien zugunsten von anderen Einkommensarten abgeschafft werden, soll sich die Arbeit flächendeckend wieder lohnen: für Sozialeinkommen dank der Besteuerung von Sozialtransfers bei gleichzeitiger Befreiung des Existenzminimums (Reduktion von Schwelleneffekten) und für Kapitaleinkommen dank der Kapitalgewinnsteuer in Verbindung mit der Abschaffung der Vermögenssteuer und gegebenenfalls der Einführung einer moderaten Erbschaftssteuer. Zusätzlich erhöht sich bei Paaren die Erwerbsbeteiligung von Zweitverdienern dank der Einführung der Individualbesteuerung.
Alle Reformvorschläge haben die Politik schon mehrmals beschäftigt, aber keiner hat es bis jetzt geschafft, umgesetzt zu werden. Im Paket dürfen sie sich insbesondere höhere Chancen ausrechnen, wenn sich der arbeitende Mittelstand dahinterstellt.
Zitiervorschlag: Vaterlaus, Stephan; Koellreuter, Christoph (2017). Es braucht eine Steuerreform für den Mittelstand. Die Volkswirtschaft, 23. Februar.
Die Fondation CH2048 wurde 2014 auf Initiative des Basler Ökonomen Christoph Koellreuter gegründet. Die Stiftung setzt sich für den Abbau des Spannungsfelds ein, welches durch den globalen Standortwettbewerb und die innenpolitischen Vorstellungen darüber entsteht, wie die Früchte des wirtschaftlichen Erfolgs verteilt werden sollen. Im Rahmen von sogenannten Politikentwicklungsprojekten (PEP) ist sie bemüht, mehrheitsfähige Lösungsvorschläge zu erarbeiten und diese in den politischen Prozess einzuspeisen. Die Lancierung des ersten PEP – Steuern. Transfers: Reformvorschläge für eine global wettbewerbsfähige und verantwortliche Schweiz – fusste unter anderem auf der Erkenntnis, dass auch die an sich wettbewerbsfähige und wohlhabende Schweiz ein Verteilungsproblem hat (zumindest nach der staatlichen Umverteilung) – was sich etwa in Volksabstimmungen wie der Abzockerinitiative und der Initiative 1:12 zeigte. Im Jahr 2014 beauftragte deshalb der CH2048-Stiftungsrat eine Arbeitsgemeinschaft bestehend aus Experten der beiden Beratungsfirmen Polynomics und Advocacy sowie der Universität Luzern, Reformoptionen für folgende drei Reformstossrichtungen zu erarbeiten:
- mehr Leistungsgerechtigkeit und Verbesserung der Arbeitsanreize;
- Ja zu Transfers, aber Arbeit muss sich lohnen;
- mehr Solidarität der höchsten Einkommen und Vermögen bei möglichst geringem Abwanderungsrisiko.