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Berufslaufbahnen von Frauen sind weniger standardisiert

In den letzten 30 Jahren haben sich die Berufslaufbahnen stark verändert. Dieser Wandel hat jedoch für Männer und Frauen nicht dieselben Folgen.
Zwischen Beruf und Familie: Die Berufslaufbahnen junger Frauen sind komplizierter als diejenigen ihrer Mütter. (Bild: Keystone)

Seit den Achtzigerjahren haben sich das Produktionssystem und die Arbeitsorganisation stetig verändert. Die Arbeitnehmenden sind heute mit neuen Realitäten konfrontiert: Flexibilität, Beschäftigungsverlagerung in Dienstleistungsberufe, selbstständiger Arbeitsweise, atypischen Beschäftigungsformen und struktureller Arbeitslosigkeit. Kann man unter diesen Bedingungen überhaupt noch von «Standardbeschäftigung» sprechen? Oder erleben wir momentan eine Destandardisierung, die das traditionelle Laufbahnmodell – in der Reihenfolge Ausbildung, bezahlte Vollzeiterwerbstätigkeit und Rente – infrage stellt?

Zwei gegensätzliche Thesen


Ist die berufliche Integration von Männern und Frauen gleichermassen von den Veränderungen betroffen, die sich seit den Achtzigerjahren auf dem Arbeitsmarkt vollzogen haben? Diese Frage wurde bisher nur selten unter dem Aspekt der Laufbahnentwicklung untersucht. Analysiert man Berufslaufbahnen indessen auf ihre mögliche Diversität hin, gelangt man zu zwei gegensätzlichen Hypothesen: Die erste geht davon aus, dass die Lebensläufe von Frauen und Männern immer stärker vorgespurt sind und sich deshalb auch stärker gleichen. Grund dafür ist der Einfluss strukturgebender Einrichtungen wie Schule, Armee, Sozialpolitik, Arbeits- und Konsummarkt.[1] Laut dieser These der zunehmenden Standardisierung ist das traditionelle Laufbahnmodell stark verformbar.

Die zweite Hypothese geht hingegen von einer tiefgreifenden Veränderung seit dem Ende der Sechzigerjahre aus, was einerseits unstetere Berufslaufbahnen zur Folge hatte. Andererseits vergrösserte sich dadurch aber auch das Feld der Möglichkeiten und führte so zu immer mehr verschiedenen Laufbahnen. Diese These der zunehmenden Individualisierung postuliert somit gleichzeitig eine ungeordnete Zunahme der Übergänge und eine grössere Unvorhersehbarkeit der Karrieren.[2]

Beide Hypothesen lassen sich mithilfe von Sequenzanalysen überprüfen. Der Wandel bei der Beziehung zur Erwerbsarbeit kann so mit Blick auf die Laufbahn auf zwei Arten untersucht werden: transversal für jedes Alter oder longitudinal für jedes Individuum. Zu diesem Zweck wurden gestützt auf die Datensammlung der Lebenskalenderstudie Familytimes[3] mit rund 800 Befragungen die Berufslaufbahnen von zwei Kohorten von Individuen rekonstruiert: einerseits der zwischen 1950 und 1955 und andererseits der zwischen 1970 und 1975 geborenen Personen. Mit diesen Daten lässt sich die Situation einer Person zweimal jährlich über einen Zeitraum von 20 Jahren – vom 16. bis zum 36. Lebensjahr – beschreiben (siehe Kasten).

Standardisierung bei Männern, Diversität bei Frauen


Das Mass für die Vielfalt unterschiedlicher Beschäftigungssituationen, die sogenannte Entropie, nimmt bei Frauen bis zum Alter von 36 Jahren stetig zu. Bei den Männern nimmt sie in dieser Zeit ebenso stark ab. Zu Beginn ihres Erwachsenenlebens haben Frauen und Männer indessen die gleichen Werte (siehe Abbildung 1). Diese Resultate zeigen, dass Frauen in ihrem Berufsleben häufiger mit unterschiedlichen und veränderlichen Situationen konfrontiert sind als Männer – und zwar von Beginn ihrer Erwerbskarriere an. Die Diversität der weiblichen Laufbahnen nimmt im Laufe der Zeit sogar zu, während sie bei den Männern sinkt. Dieser Unterschied legt den Schluss nahe, dass sich Männer im Arbeits- und Frauen im Familienleben unterschiedlich stark engagieren.

Bei weiblichen Laufbahnen kommt es folglich häufiger vor, dass die Frauen zu Hause bleiben oder einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Diese häufigeren Wechsel deuten darauf hin, dass Frauen einen dualen Werdegang durchlaufen, aufgeteilt zwischen Familien- und Berufsleben. Der Beruf kommt dabei jedoch häufig zu kurz.

Dank der retrospektiven Daten lässt sich die Beziehung zur Arbeit über längere Zeit betrachten. So lassen sich Muster aufzeigen, die gegen die Hypothese einer generellen Standardisierung der Laufbahnen und gegen eine einheitliche, genormte Beziehung zur Arbeit sprechen.

Abb. 1: Transversale Entropie nach Kohorte und Geschlecht




Quelle: Roch / Die Volkswirtschaft

Weibliche Laufbahnen werden immer komplexer


Unterschiede gibt es nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen verschiedenen Alterskohorten. Allerdings nur bei den Frauen, wo der Komplexitätsindex im Vergleich zur älteren Kohorte deutlich ansteigt. Bei den Männern ist der Unterschied zwischen den beiden Kohorten nicht signifikant (siehe Abbildung 2). Das Ausmass dieser Veränderung reicht allein schon aus, um die Differenz zwischen den Komplexitätsindizes der beiden Kohorten zu erklären ­– auch ohne die Unterscheidung nach Geschlecht. Diese Ergebnisse ergänzen die Interpretation der transversalen Entropie-Kurven in Abbildung 1. Die Analysen haben dort gezeigt, dass nach Abschluss der Ausbildung signifikante Unterschiede bei der Vielfalt der durchlaufenen Beschäftigungsstatus bestehen. Die longitudinale Entropie des Interkohorten-Vergleichs zeigt hingegen bei den männlichen Laufbahnen keine Zunahme der Komplexität. Eine solche ist nur bei den weiblichen Laufbahnen signifikant ersichtlich. Mit anderen Worten: Die männlichen Berufslaufbahnen bleiben im Rahmen einer Standardbeziehung zur Arbeit, während sich die Laufbahnen der Frauen mit einer Art doppeltem Engagement stabilisieren.

Dieses doppelte Engagement wird einerseits durch die Mutterschaft, andererseits durch das Bildungsniveau beeinflusst.[4] Was die Mutterschaft betrifft, sind Frauen tendenziell Vollzeit berufstätig, solange sie noch keine Kinder haben oder in ihrem Haushalt kein Kind unter 15 Jahren lebt. Sobald Kinder da sind, gehen Frauen mehrheitlich einer Teilzeitbeschäftigung nach. In diesem Fall haben Frauen mit hohem Bildungsniveau bessere Chancen auf eine Beschäftigung – auch wenn nicht zwingend mit einem hohen Beschäftigungsgrad. Frauen, die nur über eine Grundbildung verfügen, gehen immer weniger einer Erwerbstätigkeit nach, während sich für Frauen mit einem Tertiärabschluss das Gegenteil beobachten lässt. Da sich bei immer mehr Laufbahnen Familienzeiten mit einer Voll- oder Teilzeitbeschäftigung abwechseln oder sich die Frauen gleichzeitig in der Familie und im Beruf engagieren, nimmt die Komplexität der einzelnen Laufbahnen signifikant zu.

Abb. 2: Longitudinale Entropie nach Alterskohorte und Geschlecht (Median, Quartile und Extremwerte)


Kohorte der Jahrgänge 1950–1955



 

Kohorte der Jahrgänge 1970–1975



Quelle: Roch / Die Volkswirtschaft

Frauen haben andere Berufslaufbahnen


Die Hypothese der Standardisierung lässt sich also nur für männliche Laufbahnen bestätigen. Weibliche Laufbahnen zeichnen sich jedoch durch eine grössere Vielfalt aus. Diese Feststellung erhärtet frühere Forschungsergebnisse, wonach die verschiedenen Phasen des Familienlebens je nach Geschlecht unterschiedliche Auswirkungen auf die berufliche Karriere haben.[5] Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Diversität der weiblichen Laufbahnen im Vergleich zur älteren Kohorte signifikant gestiegen ist. Die männlichen Laufbahnen reagierten offensichtlich weniger stark auf die jüngsten Veränderungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Die unterschiedlichen Laufbahnen der Frauen im Arbeitsmarkt sind allerdings nicht ganz unproblematisch, schliesslich weiss man, dass Familienzeiten und Teilzeitbeschäftigung die Karriereentwicklung bremsen. Diese Erkenntnisse sollten daher auch der Politik zu denken geben. Denn es darf nicht vergessen werden, wer schliesslich das soziale Risiko der Frauen trägt: Die beruflichen Laufbahnen von Frauen sind weniger stabil und machen sie letztlich verletzlicher in einem institutionellen Kontext, in dem die materielle Anerkennung von Arbeit und Sozialschutz von der effektiven Beteiligung am Erwerbsleben abhängt.

  1. Kohli (1985). []
  2. Beck (2001); Boltanski und Chiapello (1999). []
  3. Die vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte Studie wurde von Jacques-Antoine Gauthier (Universität Lausanne), Dominique Joye (Universität Lausanne), Éric Widmer (Universität Genf), Gaëlle Aeby (Universität Manchester) und Pierre-Alain Roch (Universität Lausanne) durchgeführt. []
  4. Levy (1997).  []
  5. Widmer et al. (2003). []

Literaturverzeichnis

  • Beck Ulrich (1986) Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main, 1. Auflage, Suhrkamp Verlag.
  • Boltanski Luc und Chiapello Ève (1999). Le nouvel esprit du capitalisme, Paris, Gallimard.
  • Kohli Martin (1985). Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37(1), S. 1–29.
  • Levy René; Joye Dominique, Guye Olivier und Kaufmann Vincent (1997). Tous égaux ? De la stratification aux représentations, Zürich, Seismo.
  • Widmer Eric, Levy René, Pollien Alexandre, Hammer Raphaël und Gauthier Jacques-Antoine (2003). Entre standardisation et sexuation : une analyse des trajectoires personnelles en Suisse, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 29(1), S. 35–67.

Bibliographie

  • Beck Ulrich (1986) Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main, 1. Auflage, Suhrkamp Verlag.
  • Boltanski Luc und Chiapello Ève (1999). Le nouvel esprit du capitalisme, Paris, Gallimard.
  • Kohli Martin (1985). Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37(1), S. 1–29.
  • Levy René; Joye Dominique, Guye Olivier und Kaufmann Vincent (1997). Tous égaux ? De la stratification aux représentations, Zürich, Seismo.
  • Widmer Eric, Levy René, Pollien Alexandre, Hammer Raphaël und Gauthier Jacques-Antoine (2003). Entre standardisation et sexuation : une analyse des trajectoires personnelles en Suisse, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 29(1), S. 35–67.

Zitiervorschlag: Pierre-Alain Roch (2017). Berufslaufbahnen von Frauen sind weniger standardisiert. Die Volkswirtschaft, 23. März.

Methodologie

Der hier verwendete Begriff der Entropie stammt aus der Informationstheorie und wurde 1948 von Claude Shannon entwickelt. Damit lässt sich transversal aufzeigen, wie sich die Diversität des Beschäftigungsstatus über die Zeit entwickelt. Eine geringe Entropie steht für eine geringe Diversität beim Beschäftigungsstatus. Eine hohe Entropie deutet auf eine grosse Vielfalt an Arbeitssituationen der einzelnen Personen hin.

Die zweite Analyse stützt sich auf die Arbeiten über den von Gabadinho et al. (2010) entwickelten Komplexitätsindex. Dieser kombiniert in einer longitudinalen Perspektive die Entropie mit einem Indikator, der die Komplexität der Abfolge der Zustände misst. Ein Komplexitätsindex von 0 bedeutet, dass sich die Person über den gesamten beobachteten Zeitraum in der gleichen Beschäftigungssituation befindet. Der Höchstwert von 1 wird erreicht, wenn die Person gleich oft und in der gleichen Reihenfolge alle im Voraus festgelegten Beschäftigungssituationen durchläuft.

Jede Zustandssequenz wurde nach sieben Kategorien kodiert: Ausbildung, Vollzeitanstellung, selbstständige Vollzeitbeschäftigung, Teilzeitanstellung (Beschäftigungsgrad unter 80%), Familienzeit, freiwillige Auszeit, unfreiwillige Auszeit (z. B. Krankheit, Unfall, IV, Arbeitslosigkeit).