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Weniger Flexibilität im Arbeitsmarkt durch die Zuwanderungsinitiative?

Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) bringe eine zusätzliche Regulierung mit sich, sagt Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, im Streitgespräch mit Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Lampart betont, es sei positiv, dass sich das Parlament für eine potenziell wirksame Stellenmeldepflicht mit Arbeitslosenvorrang entschieden habe. Für rote Köpfe sorgen die Vorstösse zur Lockerung der Arbeitszeiterfassung.

Weniger Flexibilität im Arbeitsmarkt durch die Zuwanderungsinitiative?

Definieren Arbeitnehmerschutz unterschiedlich: Daniel Lampart (l.) und Roland Müller diskutieren im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). (Bild: Seco, Viviane Futterknecht)

Im Sommer jährt sich der Beginn der Finanzkrise zum zehnten Mal. Der Schweizer Arbeitsmarkt verfügt über eine hohe Widerstandsfähigkeit, wie wir gesehen haben. Woran liegt das?


Daniel Lampart: Zum einen ist in diesem Zeitraum die Bevölkerung gewachsen – was die Binnenwirtschaft stabilisierte. Hinzu kamen eine ausserordentliche Bereitschaft des Bundesrates, des Parlaments und gewisser Kantonsregierungen, früh konjunkturstabilisierende Massnahmen sowie das Instrument der Kurzarbeit einzuführen. Das alles hat dazu geführt, dass im Gegensatz zu anderen Ländern unsere Binnenwirtschaft nicht angesteckt wurde.

Roland Müller: Der Arbeitsmarkt ist extrem flexibel. In der Finanzkrise mussten aufgrund des Frankenschocks Tausende von Arbeitsplätzen in der Schweiz abgebaut werden. Trotzdem: Die Arbeitslosenquote hat temporär zwar etwas ausgeschlagen, sie ist inzwischen aber praktisch unverändert tief wie vor der Finanzkrise. Diese Anpassungsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft gilt es unbedingt zu erhalten.

Herr Lampart, was sagen Sie zum Argument des flexiblen Arbeitsmarktes?


Lampart: Entscheidend war aus meiner Sicht, dass die Auftragslage in den Firmen der Binnenwirtschaft einigermassen stabil blieb. Da spielte die Arbeitsmarktregulierung eine nachgeordnete Rolle. In der Exportwirtschaft war zentral, dass das Instrument der Kurzarbeit rasch und unbürokratisch angewendet wurde. Und: In Phasen vorübergehender Konjunktureinbrüche führt ein guter Arbeitnehmerschutz dazu, dass die Unternehmen nicht überreagieren, sondern dass sie ihre Belegschaft behalten und auf Kurzarbeit ausweichen. Allerdings zeigt das Beispiel der Temporärarbeit auch: Dort, wo ein relativ geringer Schutz besteht, wurde sofort heruntergefahren.

Müller: Der Arbeitnehmerschutz bietet Vorteile. Es ist nicht die Idee, dass unter dem Titel Flexibilität der Arbeitnehmerschutz abgebaut werden soll und Hire-and-Fire herrscht. Trotzdem, auch wenn ich es nicht gerne sage, muss man sehen: Instrumente wie Kurzarbeit oder Temporärarbeit bieten generell die Möglichkeit, das Arbeitsvolumen flexibel zu steuern.

Lampart: Mit dem Begriff flexibler Arbeitsmarkt muss man aufpassen. In der Forschung hat sich eine differenzierte Betrachtung durchgesetzt: Flexibilität heisst nämlich auch, dass die Arbeitgeber Leute einstellen, ohne dass diese die formellen Qualifikationen mitbringen. Zudem dürfte eine gute Arbeitslosenversicherung den Wohlstand erhöhen. Es ist doch eher so: Weil die Schweiz eine sehr tiefe Arbeitslosigkeit hatte, konnte sie sich einen schwachen Arbeitnehmerschutz leisten, ohne dass es Proteste gab.

Müller: Diese Diskussion ist eine Huhn-und-Ei-Frage. Ob zuerst das flexible Arbeitsrecht existierte oder die tiefe Arbeitslosigkeit, sei dahingestellt. Offensichtlich gehören die beiden Dinge einfach zusammen. Der siamesische Zwilling zum flexiblen Arbeitsrecht sind der gut ausgebaute Arbeitnehmerschutz und insbesondere in der Schweiz auch die Arbeitslosenversicherung, welche im Vergleich zum Ausland hohe Leistungen erbringt. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen so ausrichten, dass sich die Schweizer Wirtschaft rasch auf neue Bedingungen einstellen kann – sonst bleibt sie in überholten Strukturen gefangen.

Bedroht die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative diese Flexibilität?


Müller: Natürlich zieht die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative eine zusätzliche Regulierung nach sich. Wir – da wird mir auch Herr Lampart zustimmen – haben diese Regulierung ja nicht gesucht, aber bereits der Verfassungsartikel impliziert sie. Und es ist nun unser gemeinsamer Auftrag, die Bürokratie im Griff zu halten, damit wir beide das Ziel erreichen: nämlich möglichst viele Leute aus der Arbeitslosigkeit zu bringen und möglichst passgenau den offenen Stellen zuzuführen. Ich hoffe, die Gewerkschaften helfen uns dabei.

Lampart: Es drohte ein Kontingentsystem. Sogar der Bundesrat schlug das vor. Damit haben die Arbeitgeber und die Gewerkschaften in den Neunzigerjahren aber schlechte Erfahrungen gemacht – weshalb das System abgeschafft wurde. Es ist positiv, dass sich das Parlament stattdessen für eine potenziell wirksame Stellenmeldepflicht mit Arbeitslosenvorrang entschieden hat. Mich freut die Absichtserklärung des Arbeitgeberverbandes, man wolle jetzt eine wirksame Umsetzung.

Es gibt noch offene Fragen, wie die Meldepflicht umgesetzt werden soll. Woran werden Sie die Umsetzung messen?


Lampart: Gemessen wird das daran, dass mehr Arbeitslose eine Stelle finden. Melden die Arbeitgeber die offenen Stellen und laden sie Stellensuchende zum Vorstellungsgespräch ein? Sind die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren bereit, die Stellenmeldungen entgegenzunehmen und die Stellensuchenden aktiv zu vermitteln? Wenn über 50-Jährige, die heute grössere Probleme haben bei der Stellensuche, oder Wiedereinsteigerinnen das Gefühl haben, dieser Vorrang bringe etwas, dann hat diese Massnahme eine grosse Akzeptanz.

Sie vertreten unterschiedliche Interessen. Kommen Sie nicht beide zum Schluss, dass die Schweizer Sozialpartnerschaft ein Erfolgsmodell ist?


Müller: Ja, die Sozialpartnerschaft ist eine Erfolgsgeschichte. Sie ist ein gut funktionierendes und historisch bewährtes Korrektiv zur staatlichen Gesetzgebung. Die Vergangenheit hat auch bewiesen, dass man es den Branchen überlassen soll, ob sie eine Regulierung auf diesem Wege als sinnvoll erachten oder nicht.

Lampart: Wir haben in zahlreichen Branchen wie dem Bau oder dem Gastgewerbe Gesamtarbeitsverträge, die sich im internationalen Vergleich sehen lassen können. Das ist positiv. Aber es gibt Lücken, etwa beim Detailhandel, wo wir keinen Gesamtarbeitsvertrag haben, der für alle Firmen gilt. Das ist im internationalen Vergleich ein Malaise.

Müller: Im Detailhandel haben wir prominente Firmenverträge – ich erinnere an Migros, Coop und andere –, die auch funktionieren. Es ist ja nicht so, dass dort überhaupt nichts existiert und wir keine verantwortungsbewussten Unternehmer hätten.

Lampart: Gesamtarbeitsverträge sind im Detailhandel nichts Aussergewöhnliches, das stimmt, darauf kann man aufbauen. Insbesondere in den gewerblichen Branchen gibt es aber ein Problem: Es gibt immer mehr Firmen mit prekären Anstellungsbedingungen, welche bei keinem Verband mitmachen. Auch in neueren Branchen ist die Verbandsmitgliedschaft wenig verbreitet. Deshalb wird es schwieriger, Gesamtarbeitsverträge für allgemeinverbindlich zu erklären – denn dazu braucht es ein Quorum von mindestens 50 Prozent der Firmen einer Branche. Diese Hürden werden heute teilweise nur noch knapp erreicht und in Zukunft gar nicht mehr. Ich mache mir grosse Sorgen: Bei gewissen GAV wird die Allgemeinverbindlicherklärung wegbrechen, wenn man diese Hürde nicht senkt.

Müller: Da bin ich anderer Meinung: Es ist ja nicht so, dass die sogenannt neueren Branchen keinen Anschluss an Arbeitgeberorganisationen suchen. So trat beispielsweise der Branchenverband der Wirtschaftsprüfer, Steuern und Treuhand, Expertsuisse, dem Arbeitgeberverband bei, und mit ICT-Switzerland führen wir Gespräche über eine Mitgliedschaft. Es stimmt aber: Diese Branchen sind weniger über einen GAV organisiert. Hinsichtlich der für allgemeinverbindlich erklärten GAV gilt für uns: Wo sie sich bisher bewährt haben, sind sie weiterhin berechtigt. Es kann aber nicht sein, dass dieses Instrument durch die Streichung des Arbeitgeberquorums gefördert wird. Wir haben zwar das gemeinsame Ziel, die Arbeitsbedingungen für die Leute in der Schweiz optimal zu halten, aber das soll nicht auf dem Wege neuer für allgemeinverbindlich erklärter GAV erfolgen. Es soll den Branchen überlassen werden, ob sie eine Regulierung oder eine Kollektivlösung umsetzen wollen.

Lampart: Aber darum geht es ja genau. Wenn eine Branche will, dann soll sie das machen können. Aber bei diesen Hürden für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung – den höchsten in ganz Europa – ist das eben nicht mehr möglich. Betroffen sind etwa Teile des Gewerbes in der Romandie und verschiedene GAV im Metall-, Bau- und Sicherheitsgewerbe.

Müller: Wir nehmen das ernst. Wie bei der MEI liegt aber auch hier der Teufel im Detail. Wir haben beispielsweise auch in der Sicherheitsbranche das Problem, dass aufgrund der sich aufsplittenden Unternehmen das Quorum nur mehr schwerlich erreicht werden kann und dass die Allgemeinverbindlicherklärung infrage gestellt sein könnte. Andererseits, wenn wir Regulierungen aufnehmen würden, wie sie beispielsweise die Westschweizer Wirtschaftsorganisation Centre Patronal vorgeschlagen hat, dann handeln sich andere Branchen unter Umständen Probleme mit ihrer eigenen Allgemeinverbindlicherklärung ein. Bei der Änderung des Gesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung ist daher Vorsicht geboten.

Das Centre Patronal schlägt mehr Flexibilität bei den Quoren vor.


Lampart: Der Vorschlag wäre für uns ein guter Kompromiss.

Der flexible Arbeitsmarkt ist nur die eine Seite. Es braucht die Balance zur sozialen Sicherheit. Können wir uns den Sozialstaat noch leisten?


Müller: Ich wehre mich dagegen, hier immer schwarzzumalen. Das wird Herr Lampart freuen: Wir brauchen Wirtschaftswachstum in der Schweiz, damit wir uns diesen Sozialstaat, der klarerweise ein guter ist, leisten können. Wir wollen das Leistungsniveau halten. Wegen der strukturellen Probleme sind dafür in der ersten und der zweiten Säule zusätzliche finanzielle Anstrengungen nötig, wozu die Wirtschaft Hand bietet. Man muss das gegenüber den Arbeitgebern auch einmal anerkennen: Beispielsweise in der Altersvorsorge sprechen wir uns dafür aus, das Rentenniveau trotz höherer Belastungen der Wirtschaft zu halten. Dasselbe gilt für die Arbeitslosenversicherung.

Also ist der Status quo finanzierbar.


Lampart: Die Schweiz ist so reich wie noch nie. Selbstverständlich können wir unser Sozialversicherungssystem finanzieren. Es ist auch ein Zeichen von Wohlstand und verhilft zu Wohlstand, wenn man gute Sozialversicherungen hat. Das war ja auch der Konsens in der Finanzkrise. Am schlimmsten traf es diejenigen Länder, die keine guten Arbeitslosenversicherungen hatten.

Herr Lampart, seit Anfang 2016 können Arbeitnehmende unter bestimmten Bedingungen darauf verzichten, die Arbeitszeit zu erfassen – wie sehen Sie das für die Zukunft?


Lampart: Wir haben für einen Kompromiss mit grosser Autonomie bei der Arbeitsgestaltung Hand geboten. Doch die Tinte ist noch nicht trocken – und schon wollen die Arbeitgeber eine weitere Aufweichung. Dabei sind die Arbeitszeiterfassung und die Planbarkeit der Arbeit so wichtig wie kaum zuvor – nicht zuletzt für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Belastung vieler Arbeitnehmenden ist heute hoch.

Zwei parlamentarische Initiativen fordern eine weitere Lockerung des Arbeitsgesetzes.


Lampart: Das aktuelle Arbeitsgesetz erlaubt grundsätzlich sehr viel Flexibilität. Ich war etwas erstaunt, als ich die beiden aktuellen parlamentarischen Vorstösse zur Zeiterfassung gesehen habe. Beispielsweise kommt der Wunsch von Revisionsgesellschaften, komplett auf die Zeiterfassung zu verzichten und damit die Begrenzung der Arbeitszeiten stark aufzuweichen. Ich mache mir Sorgen über die Qualität in dieser Branche: Wenn ein Revisor 40 Stunden konzentriert arbeitet, ist er meiner Meinung nach müde, weil es anstrengend ist. Und heute ist es vielleicht noch anstrengender, weil auch die Geschwindigkeit und die Komplexität gestiegen sind. Man muss sich dann nicht wundern, wenn bei der Revision Mängel übersehen werden.

Das ist eine heftige Kritik an den Revisoren.


Lampart: Ja, das sind auch die lautesten.

Müller: Der Sozialpartnerkompromiss von Anfang 2016 – zu dem wir immer noch stehen – hilft nicht allen. So gibt es Branchen, die keine Sozialpartnerschaft kennen oder bei denen zurzeit diesbezüglich Probleme bestehen. Sie alle sind blockiert. Es wäre unredlich, dieses Thema nicht angehen zu wollen. Das Arbeitsgesetz ist über 50-jährig und hiess einmal Fabrikgesetz. Es stammt aus einer Zeit, als man die Fabrikarbeit als körperliche Schwerarbeit regeln musste. Zudem fand eine Verlagerung vom Industrie- zum Dienstleistungsbereich statt, und die Autonomie vieler Arbeitnehmenden ist gestiegen. Da braucht es flexiblere Lösungen, angepasst an die moderne Arbeitswelt.

Google beklagt sich über die Nacht- und Sonntagsruhe. Ist diese Regulierung zeitgemäss?


Lampart: Die Zeiten haben sich geändert, das stimmt. Die Zeit, wo in gewissen Haushalten vielleicht die Ehefrau noch das Nachtessen warm hielt, bis der Mann nach Hause kam, ist vorbei. In vielen Familien sind heute beide Partner erwerbstätig. Vor allem die jüngere Generation ist darauf angewiesen, dass es verbindliche Vorstellungen und Pläne gibt, wie man arbeitet und wie nicht. Überstunden im Büro zu machen, um Präsenz zu markieren und dem Chef zu gefallen, ist von gestern. Heute muss eine effiziente Arbeitsorganisation das Ziel sein.

Müller: Wenn sich berufstätige Eltern für die Familie engagieren, sind sie darauf angewiesen, Arbeitszeiten unterbrechen zu können. Gerade hier stellen wir aber im Arbeitsgesetz ein Problem fest: den starren Zeitrahmen der Tagesarbeitszeit von 14 Stunden. Er gilt auch bei mehreren sehr langen Arbeitsunterbrüchen, was die Flexibilität einschränkt. Es gibt im Arbeitsgesetz Regulierungen, deren Anpassung den Gesundheitsschutz in keiner Weise beeinträchtigen würde. Ich habe den Eindruck, die Gewerkschaften verweigern hierzu die Diskussion, weil sie sich um Einfluss und Pfründen sorgen. Dafür habe ich zwar ein gewisses Verständnis. Aber sie setzen sich damit dem Vorwurf aus, dass sie den Arbeitsmarkt in ihrem Interesse zusätzlich regulieren wollen und nicht bereit sind, sich auf neue Herausforderungen aus den Veränderungen der Arbeitswelt einzulassen. Ich habe gelernt, dass man versuchen soll, sich in den anderen hineinzuversetzen. Ich bin auch gerne bereit, das auch hier zu tun. Das Gleiche erwarte ich aber auch von den Gewerkschaften, damit wir gemeinsam die Zukunft gestalten können.

Lampart: Wir sind den Arbeitgebern entgegengekommen und haben einem Kompromiss zugestimmt. Sie haben versprochen, dass keine weiteren Forderungen kommen. Nun erwarten wir, dass sich die Arbeitgeber an dieses Versprechen halten.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2017). Weniger Flexibilität im Arbeitsmarkt durch die Zuwanderungsinitiative. Die Volkswirtschaft, 23. März.