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Ständig im Fluss: Der Schweizer Arbeitsmarkt

Nach der Weltwirtschaftskrise hat der Schweizer Arbeitsmarkt erneut bewiesen, dass er anpassungsfähig ist. Gründe dafür sind nebst dem Bildungssystem beispielsweise auch die Massnahmen der Arbeitslosenversicherung.

Ständig im Fluss: Der Schweizer Arbeitsmarkt

Das Lehrstellenangebot übersteigt die Nachfrage. Berufsmesse in Zürich. (Bild: Keystone)

Der Schweizer Arbeitsmarkt weist im internationalen Vergleich sehr gute Werte aus: Im vierten Quartal 2016 lag die Erwerbslosenquote gemäss ILO (für Definition siehe Kasten) saisonbereinigt bei 4,5 Prozent, was im europäischen Quervergleich und auch OECD-weit ein tiefer Wert ist. Gleichzeitig ist die Erwerbsquote der 15- bis 64-Jährigen international mit 85 Prozent ausgesprochen hoch. Beide Indikatoren unterstreichen die hohe Integrationskraft des Arbeitsmarktes. Bezogen auf die Qualität der Beschäftigungssituation erzielt das Land im internationalen Vergleich ebenfalls Spitzenwerte. Pluspunkte sind dabei die Beschäftigungssicherheit sowie das Lohnniveau bei gleichzeitig relativ ausgewogener Lohnverteilung.[1]

Gerade bei jüngeren und älteren Personen ist die Erwerbsbeteiligung überdurchschnittlich hoch – zwei Bevölkerungsgruppen, denen für die mittel- und langfristige Wirtschaftsentwicklung eine Schlüsselrolle zukommt. So gewinnen die zunehmend gut ausgebildeten älteren Personen als Fachkräfte an Bedeutung, da ihr Anteil demografiebedingt zunimmt. Ein erfolgreicher Arbeitsmarkteinstieg der Jugendlichen wiederum ist zentral, damit sie ihr in der Ausbildung erworbenes Wissen auf dem Arbeitsmarkt produktiv einbringen können. Dadurch entwickeln sie sich mittel- und langfristig zu gefragten Fachkräften.

Widerstandsfähig in der Krise


Das schwierige wirtschaftliche Umfeld nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 stellte die Anpassungsfähigkeit des Schweizer Arbeitsmarktes mehrfach auf die Probe. Die Rezession war auch in der Schweiz heftig, aber glücklicherweise von kurzer Dauer. Nach einem kurzen Aufschwung im Jahr 2010 brach ein Jahr später die Eurokrise aus. Zusätzlich zu den negativen Effekten auf die Konjunktur in Europa schlug sich diese in der Schweiz in einer starken Aufwertung des Frankens nieder.

Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, dass sich der Arbeitsmarkt auch über die letzten, wirtschaftlich schwierigeren Jahre hinweg als aufnahmefähig erwies. So konnte die Arbeitsmarktbeteiligung über die letzten Jahre stetig weiter gesteigert werden.[2] Zwar war das Beschäftigungswachstum gedämpft, insgesamt blieb es aber positiv, und auch die Qualität der Arbeitsverhältnisse hielt ihr hohes Niveau.

Etwas deutlicher traten die negativen Spuren der schwachen Wirtschaftsentwicklung bei der Arbeitslosigkeit hervor. Im Jahr 2009 stieg die Erwerbslosenquote gemäss ILO um etwas mehr als einen Prozentpunkt auf knapp 5 Prozent an, und die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ermittelte Arbeitslosenquote (Definition im Kasten) wuchs, ausgehend von 2,5 Prozent Mitte 2008, bis Ende 2009 auf knapp über 4 Prozent. Beide Quoten erreichten damit Ende 2009 für Schweizer Verhältnisse ein hohes Niveau, wobei ein noch stärkerer Anstieg durch den breiten Einsatz von Kurzarbeitsentschädigung verhindert werden konnte. Mit dem darauf einsetzenden Aufschwung sanken Arbeits- und Erwerbslosigkeit zunächst wieder, doch wurde diese positive Tendenz durch die Effekte der starken Frankenaufwertung bereits 2011 wieder gebrochen. Ende 2016 lagen beide Quoten nach wie vor über ihrem langjährigen Mittelwert, und das tiefe Vorkrisen-Niveau wurde damit bislang noch nicht wieder erreicht.

Erfolgsfaktoren bleiben gewahrt


Gründe für die Flexibilität des Arbeitsmarktes waren in der Vergangenheit das marktgesteuerte (duale) Bildungssystem, die aktive Wiedereingliederungspolitik der Arbeitslosenversicherung (ALV), ein im internationalen Vergleich moderater Kündigungsschutz sowie eine hohe Autonomie der Unternehmen und Branchen bei der Lohnfestsetzung.[3]

Wie sieht es heute aus? Ein Blick auf die erwähnten Faktoren zeigt, dass der Kern des anpassungsfähigen Arbeitsmarktes über die letzten Jahre intakt geblieben ist: Das duale Berufsbildungssystem überstand die Weltwirtschaftskrise – so gab es beispielsweise keine Lehrstellenkrise wie in den Neunzigerjahren. Vielmehr überstieg das Lehrstellenangebot in den letzten Jahren tendenziell die Nachfrage. Entsprechend robust zeigte sich auch der Arbeitsmarkt für Jugendliche in der Schweiz.[4]

Auch die Aktivierungspolitik der ALV behielt ihren hohen Stellenwert, und die Anreize zur aktiven Stellensuche wurden mit der teilweisen Verkürzung der maximalen Bezugsdauer im Rahmen der letzten Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes ab 2011 tendenziell noch verstärkt. Ebenfalls unverändert blieben das flexible Arbeitsvertragsrecht mit einem moderaten Kündigungsschutz und die Autonomie der Unternehmen und Branchen in der Lohnfestsetzung.

Da die Sozialpartner weiterhin konstruktiv zusammenarbeiteten, konnten offene Arbeitskonflikte weitgehend vermieden werden. Es gibt zudem keine Hinweise, wonach die im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit eingeführten flankierenden Massnahmen die Grundfunktion der sozialpartnerschaftlichen Lohnfindung beeinträchtigt hätten. Mit durchschnittlich 0,8 Prozent pro Jahr wuchsen die Nominallöhne in der Schweiz in den Jahren 2009 bis 2015 – der eher durchzogenen Wirtschaftsentwicklung entsprechend – relativ moderat.

Insgesamt blieben die institutionellen Erfolgsfaktoren über die letzten Jahre intakt, womit als Erklärung für die aktuell noch leicht erhöhte Erwerbslosenquote in der Schweiz vor allem die besonderen makroökonomischen Bedingungen in Betracht kommen. Dies legt auch ein Quervergleich mit Deutschland nahe, wo die Exportwirtschaft von einem schwachen Euro profitieren konnte: Während die Erwerbslosenquote in der Schweiz ab 2011 leicht anstieg, bildete sie sich im nördlichen Nachbarland stetig zurück. Im dritten Quartal 2015 unterschritt die Erwerbslosenquote Deutschlands sogar erstmals diejenige der Schweiz. Ende 2016 lag sie dann saisonbereinigt mit 3,9 Prozent um rund einen halben Prozentpunkt unter dem Schweizer Wert.

Eindrückliche Dynamik im Arbeitsmarkt


Wichtig für das Verständnis von Arbeitsmarktentwicklungen ist generell die Erkenntnis, dass dieser ständig in Bewegung ist. Zur Illustration: Anfang 2015 zählte der Schweizer Arbeitsmarkt knapp 5,2 Millionen Erwerbspersonen (siehe Abbildung). Im Verlauf des Jahres traten rund 300’000 Personen aus der Schweiz und 160’000 aus dem Ausland neu auf den Arbeitsmarkt, was 9 Prozent der Erwerbspersonen entspricht. Weitere 11 Prozent der Erwerbstätigen wechselten im Verlauf des Jahres 2015 ihre Stelle entweder innerhalb des gleichen Unternehmens (3%) oder zwischen Unternehmen (8%). Rund ein Fünftel der Anfang 2015 bestehenden Stellen war somit am Ende des Jahres neu besetzt.

Zu- und Abgänge von Erwerbspersonen (2015) und von Stellensuchenden (2016)




Anmerkung: Die Zahlen sind auf 1000 gerundet. Erwerbspersonen: Erwerbstätige und Erwerbslose gemäss ILO. Stellensuchende: alle Personen, die beim RAV zur Stellensuche gemeldet sind.

Eine besonders hervorzuhebende Dynamik zeigt sich bei den Personen, die bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) zur Stellensuche gemeldet waren. Zwischen Anfang und Ende 2016 änderte sich der Bestand an Stellensuchenden scheinbar nur marginal von 220’000 auf 223’000. Tatsächlich waren aber grosse Umwälzungen zu verzeichnen. So meldeten sich im Verlauf des Jahres rund 323’000 Personen neu bei den RAV zur Stellensuche, während sich fast ebenso viele – nämlich 320’000 – wieder abmeldeten. Lediglich 60’000 der Stellensuchenden von Anfang 2016 waren das ganze Jahr 2016 bei den RAV eingeschrieben.

Ein Blick auf die Monatszahlen unterstreicht diese Dynamik: Während 2016 jeweils Ende Monat durchschnittlich 211’000 Personen als stellensuchend gemeldet waren, zeigt der Jahresverlauf, dass tatsächlich mehr als doppelt so viele Personen (453’000) mindestens in einem Monat bei einem RAV eingeschrieben waren.

Arbeitsmarktpolitik unterstützt Übergänge


Wie die obigen Zahlen veranschaulichen, handelt es sich bei den Erwerbstätigen, den Erwerbslosen sowie den beim RAV gemeldeten Stellensuchenden und Arbeitslosen nicht um fixe Bestände. Vielmehr ändern die meisten Menschen ihren Erwerbsstatus und/oder ihre Stelle mehrmals im Erwerbsverlauf. Diese Veränderungen sind es letztlich auch, welche einen Arbeitsmarkt als Ganzes anpassungsfähig machen – sei dies im konjunkturellen Verlauf oder auch im Hinblick auf längerfristige strukturelle Veränderungen am Arbeitsmarkt.

Dieses Verständnis liegt auch dem sogenannten Flexicurity-Ansatz zugrunde, wie er in der Schweiz praktiziert wird. Dieser Ansatz vereint Flexibilität und Sicherheit. Auf der einen Seite ist der Kündigungsschutz moderat ausgestaltet, und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wird durch die RAV mit einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik gefördert («flexibility»). Im Gegenzug werden unfreiwillige Unterbrüche zwischen zwei Arbeitsstellen mit dem Erwerbsersatz der ALV relativ gut abgesichert («security»).

Die Bewegungen zwischen den Arbeitsverhältnissen sind ein wichtiges Element im Arbeitsmarkt. Primäres Ziel der Arbeitsmarktpolitik ist es deshalb nicht, bestehende Arbeitsverhältnisse zu bewahren, sondern Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsverhältnissen zu ermöglichen und zu begünstigen. Dass diese Politik unter dem Strich die Arbeitsplatzsicherheit nicht gefährdet, sondern sich sogar positiv auf die Beschäftigung auswirkt, zeigt die Positionierung der Schweiz in internationalen Rankings – sowohl was die Arbeitsmarktintegration als auch was die Qualität der Arbeitsbedingungen betrifft.

  1. OECD (2017), Job-Quality-Index. []
  2. Vgl. Weber (2016). []
  3. Vgl. Sheldon (2013) oder Weber (2014). []
  4. Für die Jahre 2008 bis 2014 zeigt der KOF Youth Labour Market Index für die Schweiz einen konstant hohen Wert. []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Bernhard Weber (2017). Ständig im Fluss: Der Schweizer Arbeitsmarkt. Die Volkswirtschaft, 23. März.

Arbeitslosenquote und Erwerbslosenquote gemäss ILO

In der Schweiz gibt es zwei Indikatoren zur Messung der Arbeitslosigkeit: die Arbeitslosenquote des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und die Erwerbslosenquote gemäss ILO. Erstere berechnet das Seco gestützt auf die Zahl der bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) jeweils Ende Monat gemeldeten arbeitslosen Personen. Demgegenüber erhebt das Bundesamt für Statistik (BFS) die Erwerbslosenquote gemäss den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einmal pro Quartal mit einer telefonischen Befragung. Dabei werden auch Personen erfasst, die erwerbslos und auf Stellensuche, aber nicht beim RAV gemeldet sind. Die ILO-Definition der Erwerbslosigkeit ist somit umfassender. Da sie jedoch auf einer Stichprobenerhebung basiert, weist sie eine statistische Unschärfe auf. Die Seco-Zahlen basieren auf einer Vollerhebung und sind häufiger verfügbar, womit sie sich zur Konjunkturbeobachtung besser eignen. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, sind, wenn möglich, beide Grössen zu betrachten.