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24-Stunden-Betagtenbetreuung: Welche Regeln sind nötig?

Die Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in der 24-Stunden-Betagtenbetreuung sind teilweise prekär, und diese Arbeitsform gewinnt aufgrund der demografischen Alterung an Bedeutung. Eine allfällige Gesetzesänderung könnte die Wohn- und Arbeitssituation der Migrantinnen verbessern.
Die 24-Stunden-Betreuung ist oft schlecht bezahlt. (Bild: Keystone)

Die Arbeitsbedingungen von Betreuerinnen in der 24-Stunden-Betagtenpflege – insbesondere die Arbeits- und Ruhezeiten – sind aktuell rechtlich nicht verbindlich geregelt: Private Haushalte sind dem Arbeitsgesetz nicht unterstellt, und zwingende Vorgaben gibt es nur bezüglich des Mindestlohns. Die überwiegende Mehrheit der Betreuenden sind sogenannte Pendelmigrantinnen. Damit sind Frauen gemeint, die im Wochen- oder Monatsrhythmus zwischen ihrem Heimatland und der Betreuungstätigkeit in der Schweiz «pendeln» (siehe Kasten).

Die grosse Frage ist: Was zählt als Arbeitszeit, und wie ist die Präsenzzeit zu bewerten? Mit Präsenz ist diejenige Zeit gemeint, in welcher die Betreuerinnen auf Abruf zur Verfügung stehen. In den Verträgen wird zwar oftmals eine Wochenarbeitszeit von beispielsweise 40 Stunden vereinbart, was der Realität der 24-Stunden-Betreuung jedoch meist in keiner Weise entspricht. Vielmehr herrscht punkto Arbeitszeiten eine grosse Heterogenität und teilweise führt eine «Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft» zu prekären Arbeits- und Wohnsituationen der Migrantinnen.

Dennoch: Für Klienten, Angehörige wie auch für die Betreuerinnen ist die 24-Stunden-Betreuung ein sinnvolles und erwünschtes Modell. Es stellt sich daher die Frage, wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erreicht werden kann, ohne dass die 24-Stunden-Betreuung verunmöglicht wird. Dieser Herausforderung hat sich das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gestützt auf ein Postulat 2015 angenommen und in Zusammenarbeit mit weiteren Bundesämtern Vorschläge zur Verbesserung der rechtlichen Situation der Pendelmigrantinnen erarbeitet.[1]

Die Vorschläge wurden anschliessend einer Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) unterzogen.[2] In dieser Ex-ante-Evaluation prüfte das Basler Forschungs- und Beratungsunternehmen B,S,S. im Auftrag des Seco Kosten, Nutzen und mögliche unbeabsichtigte Effekte einer vorgesehenen Regulierung auf die betroffenen Akteure und die Gesamtwirtschaft.

Markt wächst dynamisch


Von einer allfälligen Regulierung wären hauptsächlich drei Gruppen betroffen: Erstens die Betreuerinnen, zweitens die Betreuten und drittens die Anbieter der Dienstleistung, welche als Arbeitsvermittler oder – was häufiger der Fall ist – als Personalverleiher die Beschäftigungsverhältnisse organisieren. Daneben rekrutieren die Haushalte auch direkt, zum Beispiel über informelle Netzwerke.

Die Zahl der Migrantinnen, die in der Schweiz in der 24-Stunden-Betreuung tätig sind, liegt schätzungsweise zwischen 5000 und 30’000 Personen, realistisch sind wohl rund 10’000 Pendelmigrantinnen. Genau beziffern lässt sich die Zahl nicht, da die offiziellen Daten zu den Zuwanderungen nicht genügend differenziert sind. Zudem fehlen ungemeldete Personen in den offiziellen Statistiken.

Da sich üblicherweise zwei Frauen, die sich beispielsweise alle vier Wochen abwechseln, einen Betreuungsjob teilen, kann die Anzahl Klienten auf rund 5000 Personen geschätzt werden. Aktuell sind 63 Anbieter von 24-Stunden-Betreuung in der Schweiz tätig.[3] Überraschend ist, dass 11 Firmen, die Arbeitnehmende aus dem Ausland vermitteln oder verleihen, keinen Sitz in der Schweiz haben – wenngleich dies rechtlich nicht zulässig ist.

Diese Schätzungen sind Momentaufnahmen in einem stark wachsenden Markt. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird die Zahl der pflegebedürftigen, älteren Personen bis ins Jahr 2030 vermutlich um knapp die Hälfte steigen – wodurch auch die Nachfrage nach Betreuungspersonal steigt.

Fünf Instrumente – drei Varianten


Die Lösungsvorschläge im Postulatsbericht, wie die Arbeitsbedingungen der Betreuerinnen verbessert werden können, umfassen fünf Instrumente:

  • Unterstellung der Privathaushalte unter das Arbeitsgesetz;
  • Verordnung zum Arbeitsgesetz;
  • Verstärkung der kantonalen Normalarbeitsverträge (NAV)/Nationaler NAV bezüglich Arbeitsbedingungen;
  • Gesamtarbeitsvertrag (GAV);
  • Aufklärungspflicht der Arbeitgeber.


Entscheidend für die Wirkung ist, welche konkreten Regelungsinhalte in diesen Instrumenten festgelegt werden. Dies gilt insbesondere für die Arbeits- und Ruhezeiten. Da diese Vorgaben zurzeit noch offen sind, wurde in der Regulierungsfolgenabschätzung die Regelung der Präsenzzeiten in drei Varianten analysiert. In der Variante «Minimum» wird die Präsenzzeit zu 10 Prozent als Arbeitszeit angerechnet und vergütet; in der Variante «Mittel» ist es die Hälfte und in der Variante «Maximum» wird die Präsenzzeit zu 100 Prozent angerechnet und vergütet. Die Unterstellung unter das Arbeitsgesetz entspräche der Maximalvariante. Bei den anderen Instrumenten wäre die Flexibilität hingegen grösser.

Preisanstieg zu erwarten


Für die Migrantinnen in regulären Beschäftigungsverhältnissen würden sich die Arbeitsbedingungen mit einer neuen Regelung verbessern. Bei einer restriktiven Regelung – respektive wegen der damit verbundenen Preiserhöhung – ist jedoch davon auszugehen, dass die Anzahl irregulärer Beschäftigungsverhältnisse anstiege. Dies hätte die unerwünschte Folge, dass sich die Arbeitsbedingungen für viele Migrantinnen sogar verschlechterten – umso mehr, da das Angebot der Betreuerinnen die Nachfrage nach den Betreuungsleistungen übersteigt.

Zur Bewertung der Kosten und Nutzen für die Klienten und Angehörigen ist die Preisentwicklung der entscheidende Faktor. Würden die befragten Anbieter allfällige Mehrkosten vollständig auf die Klienten abwälzen, ist von monatlichen Preiserhöhungen zwischen 1200 Franken (Variante «Minimum») und 10’500 Franken (Variante «Maximum») pro Betreuungsverhältnis auszugehen.

Allerdings könnten sich die höheren Preise in einer verbesserten Qualität der Betreuungsleistungen niederschlagen (beispielsweise aufgrund von vermehrter Weiterbildung) und die erhöhten Kosten daher mit einem Nutzenanstieg einhergehen. Andererseits ist es auch möglich, dass sich die Gewinnmargen der Anbieter etwas reduzierten.

Dennoch wären die Preiserhöhungen nicht für alle Klienten finanziell tragbar, wodurch die Wahlfreiheit sinken würde und insbesondere bei der mittleren und der maximalen Variante von einem Nachfragerückgang auszugehen wäre. Als Alternative zur 24-Stunden-Betreuung zu Hause nannten die Befragten in erster Linie das Pflegeheim. Eine ganz grobe Schätzung – basierend auf einigen wenigen Expertenaussagen – geht davon aus, dass bei der mittleren Variante rund 10 bis 40 Prozent der Klienten in ein Pflegeheim wechseln würden; bei der Maximalvariante unternähmen sogar 20 bis 60 Prozent diesen Schritt.

Von einer solchen Verschiebung wären nicht nur die Klienten betroffen: Die Kosten für die Krankenkassen und die öffentliche Hand stiegen ebenfalls. Eine grobe Abschätzung geht bei der Minimalvariante von Mehrkosten von bis zu 15 Millionen Franken pro Jahr aus. Bei der mittleren Variante wären es 15 bis 60 Millionen Franken mehr und bei der Maximalvariante 30 bis 90 Millionen Franken.

Anbieter bevorzugen Minimalvariante


Eine klare Regulierung wird von den Anbietern mehrheitlich begrüsst. Auf den Regelungsinhalt bezogen werden die drei Varianten jedoch unterschiedlich beurteilt. So bezeichnen die meisten Anbieter die Minimalvariante als gangbaren Weg. Teilweise werden die Bedingungen bereits heute erfüllt.

Die mittlere Variante beurteilen die meisten Unternehmen als «tragbar». Etwa ein Fünftel der befragten Betreuungsunternehmen gab allerdings an, dass sie die 24-Stunden-Betreuung in diesem Fall nicht mehr anbieten würden, da ihr Geschäftsmodell dann nicht mehr rentierte. Sehr kritisch beurteilen die Unternehmen die Maximalvariante. Über die Hälfte würde unter dieser Regelung das Angebot nicht mehr weiterführen.

Differenzierte Regelung prüfen


Angesichts der teils prekären Wohn- und Arbeitssituation der Betreuerinnen besteht Handlungsbedarf. Dabei ist jedoch nicht nur die rechtliche Regelung relevant, sondern auch deren Vollzug stellt ein Schlüsselelement dar. Mit anderen Worten: Es braucht Kontrollen, und illegal tätigte Anbieter müssen sanktioniert werden. Zudem wären eine vermehrte Information und die Sensibilisierung aller Akteure sinnvoll.

Vor dem Hintergrund, dass sich die Betreuungsintensität je nach Klient stark unterscheidet, ist ein differenzierter Regelungsinhalt möglicherweise zielführend. Während die Minimalvariante bei sehr seltenen Einsätzen während der Präsenzzeit angebracht sein mag, ist sie für regelmässige, mehrfache Einsätze jede Nacht keine angemessene Lösung. Es wäre daher möglich, die Abgeltung der Präsenzzeit von der Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes respektive vom Betreuungsbedarf der Klienten abhängig zu gestalten.

Der Bundesrat wird voraussichtlich Ende Juni 2017 nach Kenntnisnahme der Regulierungsfolgenabschätzung über das weitere Vorgehen entscheiden.

  1. Seco (2015). []
  2. B,S,S. (2016).  []
  3. Betriebe, die einer Gruppe angehören, wurden als ein Akteur gezählt. []

Literaturverzeichnis

  • B,S,S. (2016). 24-Stunden-Betagtenbetreuung in Privathaushalten. Regulierungsfolgenabschätzung zu den Auswirkungen der Lösungswege gemäss Bericht zum Postulat Schmid-Federer 12.3266 «Pendelmigration zur Alterspflege», Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft, Schlussbericht vom 29. Februar 2016.
  • Seco (2015). Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege, Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Schmid-Federer 12.3266 vom 16. März 2012.

Bibliographie

  • B,S,S. (2016). 24-Stunden-Betagtenbetreuung in Privathaushalten. Regulierungsfolgenabschätzung zu den Auswirkungen der Lösungswege gemäss Bericht zum Postulat Schmid-Federer 12.3266 «Pendelmigration zur Alterspflege», Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft, Schlussbericht vom 29. Februar 2016.
  • Seco (2015). Rechtliche Rahmenbedingungen für Pendelmigration zur Alterspflege, Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Schmid-Federer 12.3266 vom 16. März 2012.

Zitiervorschlag: Miriam Frey, Harald Meier, (2017). 24-Stunden-Betagtenbetreuung: Welche Regeln sind nötig. Die Volkswirtschaft, 22. Juni.

Was ist Pendelmigration?

Arbeitnehmer in der 24-Stunden-Betagtenbetreuung sind zumeist Migrantinnen, welche in einem bestimmten Rhythmus zwischen ihrem Heimatland und der Betreuungstätigkeit «pendeln», weshalb sie als «Pendelmigrantinnen» bezeichnet werden. Die meisten dieser Frauen sind älter als 45 Jahre und stammen primär aus Polen, Ungarn und aus dem Osten Deutschlands. Viele können keinen formalen Abschluss im Gesundheitsbereich vorweisen. Da sie zuvor oftmals in Deutschland und Österreich in der Betreuung gearbeitet haben, verfügen sie jedoch über Fachkenntnisse. Die Pendelmigration erklärt sich sowohl mit Push- (hohe Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern) als auch Pull-Faktoren (höheres Einkommen in der Schweiz).

Aus Sicht der Klienten steht der Wunsch im Mittelpunkt, zu Hause bleiben zu können. Auch die Entlastung der Angehörigen, die höhere Autonomie und das Bedürfnis nach einer persönlichen Betreuung sind wichtige Gründe für das Engagement einer Betreuungsperson. Die Betreuten leiden oftmals unter Demenz oder sind stark pflegebedürftig. In der Tendenz wird die 24-Stunden-Betreuung am stärksten von Personen, die der Mittel- und Obersicht angehören, in Anspruch genommen. Die Klienten sind zudem mehrheitlich alleinstehend.

Die meisten Betreuungsunternehmen bieten die 24-Stunden-Betreuung in der Regel als 1-Schicht-Modell an. Das heisst, die Migrantinnen wohnen im Haus der zu betreuenden Person und wechseln sich wochen- respektive monatsweise ab. Die Kosten variieren zwischen 2500 und knapp 15’000 Franken pro Monat; der Mittelwert liegt bei 6900 Franken. Die Pendelmigrantinnen nutzen die Bewilligungstypen L, B und G oder das Meldeverfahren. Ihre Löhne betragen zwischen 1900 und 6500 Franken pro Monat.