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Braingain anstatt Braindrain

Ein grosser Nachteil der Gebirgskantone ist die Distanz zu den wirtschaftsstarken Metropolitanräumen. Das gilt vor allem für den Kanton Graubünden. Viele hoch qualifizierte Arbeitnehmer wandern deshalb ab. Doch wieso nicht den Spiess umdrehen und Arbeitskräfte und Unternehmen in die Berge locken?

Braingain anstatt Braindrain

Bessere Verkehrsanbindungen an die Metropolitanräume könnten Hochqualifizierte vom Abwandern abhalten. (Bild: Keystone)

Als Tourismusdestination und als Anbieterin einfacher industrieller Produkte hat die Schweiz aufgrund ihrer starken Währung im internationalen Vergleich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst. Anders ist es bei den wissens- und technologieintensiven Wirtschaftsbereichen, wie etwa den Finanzdienstleistungen, den Lifesciences oder in der Hightech-Industrie. Hier ist die Schweiz auch weiterhin wettbewerbsfähig.

Abwanderung aus dem Berggebiet


Dieses Muster zeigt sich auch in den Regionen der Schweiz.  Die wissens- und technologieintensiven Unternehmen siedeln sich bevorzugt in den Metropolitanräumen Zürich, Basel, Genf-Lausanne, Bern und Ticino Urbano an. Diese Zentren sind national und international verkehrstechnisch ausgezeichnet angebunden. Zudem haben sie mit den Technischen Hochschulen und den Universitäten eine hervorragende Bildungsinfrastruktur und deshalb ein vergleichsweise hohes Angebot an hoch qualifizierten Arbeitskräften. Die städtischen Zentren und Agglomerationen stehen so in einem befruchtenden Austausch (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Räumliche Effekte der Globalisierung in der Schweiz




Quelle: Wirtschaftsforum Graubünden / Die Volkswirtschaft

Anders ist die Situation im Berggebiet. Die abnehmende Wettbewerbsfähigkeit des Freizeittourismus in der Schweiz hat attraktive Arbeitsplätze vernichtet. Gleichzeitig hat die prosperierende wirtschaftliche Entwicklung in den Metropolitanräumen die ohnehin bestehende Sogwirkung verstärkt und so zu einer zunehmenden Abwanderung der gut qualifizierten arbeitsfähigen Bevölkerung geführt. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom Braindrain aus dem Berggebiet.

Die Ausgaben der wohlhabenden städtischen Bevölkerung, die eine Zweitwohnung im Berggebiet besitzt, führen zwar zu einem gewissen Ausgleich. Denn zumindest saisonal wird so die lokale «Binnenwirtschaft» insbesondere im Detailhandel, im Baugewerbe und in der Immobilienwirtschaft angekurbelt, wodurch sie einen Beitrag an die Gemeindefinanzen leistet. In den letzten Jahren haben sich jedoch die ohnehin eher ungünstigen Entwicklungsvoraussetzungen des Berggebiets vor allem durch die rasche und starke Frankenaufwertung weiter verschlechtert.

Benachteiligter Alpenraum


Ein zentral gelegener, gut vernetzter Ort ist in Zeiten von Fachkräftemangel und Pendlergesellschaft für Unternehmen von hoher Bedeutung. Denn dadurch steht ihnen ein grösseres Einzugsgebiet an potenziellen Mitarbeitenden zur Verfügung, damit sie ihren Personalbedarf decken können. Zentrale und gut vernetzte Ortschaften bieten zudem den Vorteil, dass bei einem Stellenwechsel der Wohnort und das soziale Umfeld nicht verändert werden müssen und auch der Lebenspartner einer Tätigkeit nachgehen kann, die seinen Qualifikationen entspricht.

Doch die Regionen der Schweiz sind unterschiedlich gut an die pulsierenden Arbeitsplatzzentren in den Metropolitanräumen angebunden (siehe Abbildung 2). Es sind überwiegend die peripheren Berggebiete, welche es im Standortwettbewerb um Unternehmen und Einwohner besonders schwer haben. Aus diesem Grund müsste man dieses Gebiet entgegen dem landläufig  verwendeten Begriff nicht «alpine Brache», sondern «benachteiligter Alpenraum» nennen.

Die Anbindung des Kantons Graubünden an die Metropolitanräume ist besonders schlecht. Einzig aus dem Raum Landquart ist Zürich mit dem Auto oder mit der Eisenbahn in maximal 60 Minuten erreichbar. Und aus dem Misox kann Lugano in weniger als 60 Minuten erreicht werden. Das restliche Kantonsgebiet muss zum benachteiligten Alpenraum gezählt werden. Die anderen Bergkantone sind deutlich besser mit den Metropolitanräumen vernetzt.

Abb. 2: Erreichbarkeit der Kernstädte der Metropolitanräume aus Sicht der Regionen (2015)




Quelle: BFS, Wirtschaftsforum Graubünden / Die Volkswirtschaft

Die Fläche des Kantons Graubünden macht ungefähr die Hälfte des «benachteiligten Alpenraums» aus. Aufgrund seiner geografischen Lage inmitten der Alpen hat Graubünden trotz seiner langen Auslandgrenze keinen alternativen Zugang zu ausländischen Arbeitsmärkten und Metropolen und muss deshalb die Anbindung in Richtung Metropolitanraum Zürich optimieren. Die verkehrstechnische Erschliessung ist für eine erfolgreiche Ansiedlung wertschöpfungsintensiver Unternehmen und hoch qualifizierter Zuzüger von entscheidender Bedeutung. Deshalb erstaunt es wenig, dass Graubünden im Vergleich zu den übrigen Kantonen der Schweiz mit ausserordentlichen wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen hat.

Herausforderungen


Graubünden besteht aus zwei unterschiedlichen Siedlungsgebieten: einerseits aus dem sozioökonomisch gut positionierten Bündner Rheintal, welches ähnlich positiv in die Zukunft blicken kann wie weite Teile des Schweizer Mittellandes. Und andererseits aus dem Berggebiet[1], welches aufgrund der in vielen Gebieten einseitigen Ausrichtung auf Tourismus und Landwirtschaft sowie der Überalterung und der Ausdünnung des Unternehmertums mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert ist. Doch die beiden Regionen sind voneinander abhängig. Denn wenn das Berggebiet nicht mehr funktioniert, besteht die Gefahr, dass auch das Bündner Rheintal unter Druck kommt, indem dessen Versorgungsfunktion für das Berggebiet dadurch schwindet.

Aufgrund der absehbaren Herausforderungen, mit welchen Graubünden die nächsten Jahrzehnte konfrontiert sein wird, können von der Politik  zwei grundsätzliche Strategien verfolgt werden, die miteinander kombinierbar sind. Einerseits muss die Entwicklung des Bündner Rheintals sichergestellt werden. Deshalb braucht es eine vorausschauende Planung der Faktoren, die für das Wirtschaftswachstum wichtig sind. Dazu gehören etwa verfügbare Ansiedlungsflächen, eine Optimierung der Verkehrswege, Pläne für das Zusammenwachsen der Siedlungen, gute Verkehrsanbindung zur Metropolitanregion Zürich.

Andererseits müssen im Berggebiet Voraussetzungen geschaffen werden, damit das Wohnen in diesen Räumen weiterhin attraktiv bleibt, auch wenn der klassische Tourismus an Bedeutung verliert und allenfalls nicht mehr flächendeckend das Rückgrat der Wirtschaft bilden kann. Diesbezüglich steht die Verkürzung der Reisewege innerhalb von Graubünden im Vordergrund, um die Möglichkeit zu schaffen, zwischen Wohn- und verschiedenen Arbeitsorten (z. B. Rheintal, Oberengadin und Davos) zu pendeln. Hinzu kommen die Herausforderungen, den Strukturwandel im Tourismus zu meistern, alternative Konzepte für Orte mit wenig Einwohnern und vielen Zweitwohnungen zu finden und attraktive Wohnorte für Zuzieher mit ortsunabhängigen Berufsprofilen und Tätigkeiten zu schaffen.

Notwendige regionalpolitische Diskussionen


Momentan besteht die Gefahr, dass die Neue Regionalpolitik zunehmend ins Leere greift. Denn im zu fördernden Raum sind mittlerweile immer weniger Unternehmer tätig, welche man ursprünglich mit der Neuen Regionalpolitik fördern wollte. Deshalb muss die Regionalpolitik neue Lösungen diskutieren: Um die dezentrale Besiedlung zu sichern, ist die Schaffung von Pendlerdistanzen im gesamten Gebiet der Schweiz die wohl wirksamste Methode. Die effektivste regionalwirtschaftliche Massnahme wäre es, einige überregionale Verbesserungen bei der Erreichbarkeit umzusetzen. Beispielsweise eine Verkürzung der Reisezeit zwischen Zürich und Chur auf unter eine Stunde oder eine Verkürzung der Reisezeit zwischen Chur und dem Oberengadin auf 30 Minuten. Technisch wäre dies machbar – es führt jedoch zu Kosten und setzt einen politischen Konsens und eine gewisse Solidarität in der Schweiz voraus.

Aufgrund ihrer landschaftlichen und tourismuswirtschaftlichen Voraussetzungen haben peripher gelegene Orte wie Graubünden – wenn überhaupt – primär als attraktive Wohnorte Entwicklungschancen. Wenn das Arbeiten in Zukunft ortsunabhängiger wird, könnte sich die Schönheit der Berggebiete als Vorteil erweisen. Die nationale Regionalpolitik setzt heute jedoch einseitig auf die Ansiedlung von Arbeitsplätzen und unterschätzt dabei die Bedeutung des Wohnorts als Voraussetzung für die Rekrutierungsmöglichkeiten. Zumindest braucht es eine Diskussion dazu, wie die Regionalpolitik in peripheren Regionen vermehrt Projekte zur Stärkung der Wohnortattraktivität im Sinne des Zusammenspiels zwischen Wohnen und Arbeiten mitberücksichtigen kann.

Das Berggebiet ist traditionell von Braindrain – dem Abwandern hoch qualifizierter Arbeitskräfte – betroffen. In der Regionalpolitik muss vermehrt darüber nachgedacht werden, ob ein grösserer Teil des Braindrains nicht durch einen Braingain kompensiert werden könnte. Die diesbezüglichen Wirkungszusammenhänge sind noch wenig erforscht und vielschichtig (z. B. vorhandene Arbeitsplätze, bestehende soziale Strukturen/Bindungen). Mit den Fachhochschulen hat die nationale Politik ein Instrument in der Hand, mit dem eine gute Chance besteht, «Brains» vermehrt auch ins Berggebiet zu bringen. Von daher sollte im Berggebiet die Fachhochschulpolitik künftig verstärkt auch unter dem Aspekt der Regionalentwicklung betrachtet und definiert werden.

  1. Darunter fassen wir im vorliegenden Text alle Bündner Regionen ausserhalb des Bündner Rheintals zusammen. []

Zitiervorschlag: Peder Plaz (2017). Braingain anstatt Braindrain. Die Volkswirtschaft, 25. September.