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Das Berggebiet ist auch ein Wirtschaftsstandort

Das Berggebiet wird zu oft noch als Rückzugsgebiet und zu wenig als Wirtschaftsstandort verstanden. Das wollen die Gebirgskantone ändern: mit effizienteren Strukturen, mehr Eigeninitiative und mehr Spielraum für massgeschneiderte Lösungen.

Das Berggebiet ist auch ein Wirtschaftsstandort

Die Einnahmen aus der Wasserkraft sind wichtig für die Berggebiete. Staumauer des Zervreilasees oberhalb Vals. (Bild: Keystone)

Metropolisierung, Internationalisierung und Globalisierung haben erhebliche Auswir­kungen auf den Alpenraum. Viele Arbeitsplätze sind hier aufgelöst und in den Agglomerationen konzentriert worden. Die Folgen sind eine signifikante Abwanderung der Jungen und eine Überalterung der verbleibenden Bevölkerung. Zudem ist im zunehmenden Verteilkampf die soziale und politische Kohäsion zwischen den Metro­polen und dem Berggebiet gefährdet. Um die Rahmenbedingungen für Entwicklungen im Berggebiet zu verbessern und den Handlungsspielraum der lokalen Akteure zu erweitern, hat die Regierungskonferenz der Gebirgskantone (RKGK) im Jahre 2014 eine «Räumliche Strategie der alpin geprägten Räume in der Schweiz» mit vier Prioritäten definiert:

  • die naturgegebenen Qualitäten und Ressourcen erhalten und nachhaltig nutzen;
  • die alpinen Zentren stärken;
  • die Erschliessung in Verkehr und Telekommunikation verbessern und langfristig sichern;
  • die Wasserkraftnutzung ausbauen und optimieren.

Ausdauer und Flexibilität


Die Umsetzung der vier definier­ten Prioritäten verlangt Ausdauer und Flexibilität, denn die Welt steht nicht still. Neu entstehende Gesetze verändern laufend die Ausgangslage, und die wirtschaftliche Entwicklung verläuft dynamischer als erwartet. Was bisher nur von Bergdörfern bekannt war, hat nun mit voller Wucht auch die Städte erreicht: Poststellen werden geschlossen, und der Strukturwandel im Detailhandel erhöht die Anzahl leer stehender Läden in den Stadt­zentren.

Hinzu kommt, dass die wirtschaftlich negativen Entwicklungen das Berggebiet deutlich stärker treffen als die Metropolitanregionen: Die Zweitwohnungsinitiative macht sich durch die abnehmende Bautätigkeit im Hochbausektor bemerkbar, wegen der Aufhe­bung des Euromindest­kurses bleiben die Touristen fern, und die Weissgeldstrategie wirkt sich auf den Finanzsektor und auf die Investi­tions­be­reit­schaft aus. Bankbeziehungen werden aufgelöst, und Unterhalts- und Erneuerungsin­vestitionen bei Ferienhäusern werden zurückgestellt oder blockiert. Zudem beeinträchtigt der verzerrte internationale Strom­markt die Wettbewerbsfähigkeit der Wasser­kraftnutzung, die für das Berggebiet von grosser volkswirtschaftlicher Bedeutung ist.

Die Gebirgskantone versuchen mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Dabei dient die RKGK als politische und fachliche Koordina­tions- und Koope­rations­platt­form. Die Massnahmenumsetzung bleibt aber Sache jedes einzelnen Kantons (siehe Kasten 1).

Das Berggebiet als Wirtschaftsraum


Das Berggebiet kämpft mit dem grundlegenden Problem, dass es nicht als Wirtschaftsstandort verstanden wird, sondern primär als attraktives Rückzugs­gebiet der Agglomera­tio­nen. Hier gilt es, national wie auch international Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn auch die Gebirgskantone sind dank guter Organisation und kurzer Entscheidungs­wege imstande, grossen und komplexen Projekten innert nützlicher Frist zum Durchbruch zu verhelfen. Das hat der Kanton Glarus mit dem Pumpspeicher­kraft­werk Linth-Limmern und der Kanton Uri mit dem Andermatter Tourismus-Gross­pro­jekt Swiss Alps Resort sowie der Skigebietsverbindung mit Sedrun eindrücklich unter Beweis gestellt.

Das Berggebiet ist von den negativen Entwicklungen deshalb so stark betroffen, weil sie Kernbranchen der im Berggebiet beheimateten Wirtschaft trifft. Zudem verfügt die Wirt­schaft der Gebirgskantone über eine vergleichsweise geringe Diversifizierung und somit über wenige alternative Ar­beits­plätze. Verliert ein Familienvater seine Stelle beim Wasser­kraft­werk im Tal, findet er vor Ort kaum eine andere Anstellung. Die Folge ist, dass eine ganze Familie abwandert. Ähnlich ver­hält es sich bei den Mitarbeitenden der Bergbahnen, der Finanzinstitute oder von Baufirmen: Der Kon­kurrenz­druck verlangt auch hier nach schlanken Strukturen, was oft mit Stellen­abbau einhergeht. Auch Ausbildungsplätze werden rarer. Deshalb versuchen die Ge­birgs­kan­tone auf politischer Ebene zu erreichen, dass nicht weitere nachteilige politische Entscheide die wirtschaftliche Entwicklung erschweren. ­Ein aktuelles Beispiel ist unser Kampf gegen den Vorschlag des Bundes, die Wasser­zin­se zu sen­ken (siehe Kasten 2).

Starke Zentren


Das von Bund und Forschung seit Jahrzehnten propagierte «Städtenetz Schweiz» beschränkt sich nicht nur aufs Mittelland. Es umfasst auch das Netzwerk von kleinen und grossen, regionalen und nationalen sowie international bedeutsamen Zentren, welche die Grund­struktur für das tägliche Leben und Wirtschaften im Alpenraum bilden. Normalerweise liegen diese Zentren in den gut erschlossenen Talböden und verfügen über ein mehr oder weniger breites Angebot an Arbeitsplätzen und Infra­strukturen. Um diese kantonal bedeu­ten­den Wirtschaftsstandorte weiter zu stärken, braucht es ent­sprechende Vorgaben in den kantonalen Richtplänen sowie wirksam lenkende Anreize und Aufla­gen.

«Jeder Talschaft ein starkes Zentrum» – dieser Grundsatz bleibt ein Hauptpfeiler der Strategie der Gebirgskantone. Jede Talschaft ist auf ein eigenes, funktionsfähiges Zentrum angewiesen, damit lokal und regional die Grund­versorgung gewährleistet ist. Zahlreiche Gemeinde- und Talfusionen zeigen, dass die Bevölke­rung die Notwendigkeit entsprechender Prioritätensetzungen erkannt hat. Am radi­kals­ten wur­de dies im Kanton Glarus umgesetzt: Die einst 25 Gemeinden haben sich zu 3 Gemeinden zusammengeschlossen. In Graubünden ist die Anzahl Ge­meinden in den letzten Jahren ebenfalls reduziert worden: Waren es im Jahr 1998 212 Gemeinden, so werden es ab 2018 noch 108 Gemeinden sein. Und auch in den anderen Gebirgskantonen sind ähnliche Entwicklungen im Gange. Zudem sind verschiedene kantonale Strukturreformen be­schlossen und umgesetzt worden, mit denen Verwaltungsebenen abge­baut wur­den. Das hat die Ab­läu­fe vereinfacht. Vergleichbare Strukturbereinigungen sind auch im Touris­mus­be­reich zu erkennen, wenn­gleich die Bereitschaft zur Zu­sam­­men­arbeit hier noch ausbaufähig ist.

Mehr Spielraum für Lösungen


Damit wirtschaftliche Entwicklung stattfinden kann, müssen die Gesetze aber auch Spielraum für massgeschneiderte Lösungen vor Ort belassen. Diesbezüglich ist in der Vergangenheit oft alles über den gleichen Kamm geschert worden. Differenzierung tut not. Beispielsweise ist der kompromisslose Schutz der Lärchenwälder im Engadin wenig sachgerecht, weil es hier weitläufige Lärchenwälder gibt und die Notwendigkeit des Schutzes deshalb zu relativieren ist. Auch die multifunktionalen Talböden im Alpenraum funktionieren hin­sicht­lich Verkehrserschliessung anders als die radiozentri­schen Agglo­me­rationen des Mittellands. Die Ausgestaltung der Agglomerationspolitik muss in Zukunft dieser Tatsache durch differen­zierte Anfor­de­rungen an verschiedene Agglomerationstypen Rechnung tragen und nicht etwa Verkehrsfrequenzen definieren, die einzig und allein im Mittelland erreicht werden können.

Die Gebirgskantone unter­stützen das Anliegen, der Natur und Land­schaft Sorge zu tragen. Um wirtschaftlich erblühen zu können und der eigenen Bevölkerung attraktive Lebensgrund­la­gen zu bieten, müssen die Gesetze künftig aber mehr Raum bieten, damit eine echte, auf die kon­kre­ten Verhältnisse vor Ort bezogene Interessenabwägung erfolgen kann. Denn zur Inwertsetzung der natur­gegebenen Qua­li­täten und Ressourcen des Alpenraums gehört auch die Möglichkeit, sie lokal gezielt und intensiv zu nutzen, wo dies sachgerecht und zumutbar ist.

Zitiervorschlag: Christian Vitta (2017). Das Berggebiet ist auch ein Wirtschaftsstandort. Die Volkswirtschaft, 25. September.

Kasten 1: Die Regierungskonferenz der Gebirgskantone

Der Regierungskonferenz der Gebirgskantone (RKGK) gehören die Regierungen der Kantone Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Graubünden, Tessin und Wallis an. Die als Verein organisierte Konferenz wurde 1981 zur Koordination von Fragen zur Wasserkraftnutzung gegründet. Heute strebt sie die gemeinsame Vertretung aller gebirgsspezifischen Anliegen und Interessen im In- und Ausland an. Dazu zählen etwa die Themen Raumordnung, Tourismus, Energie, Finanzen, Verkehr und die Zusammenarbeit mit den grenznahen ausländischen Alpenregionen. Das Präsidium der RKGK wechselt in regelmässigen Abständen zwischen den Kantonen. Die sieben Kantone entsprechen insgesamt einem Anteil von 43 Prozent an der Gesamtfläche der Schweiz und 13 Prozent der Schweizer Bevölkerung.a

aMehr Informationen auf Gebirgskantone.ch

Kasten 2: Der Wasserzins

Der Wasserzins ist der Preis für die den Kraftwerksgesellschaften von den Gemeinden und Kantonen in der Regel für 80 Jahre exklusiv überlassene Nutzung der Wasserkraft. Gemäss Bundesrecht besteht eine Preisobergrenze für den Wasserzins, die derzeit bei 110 Franken pro Bruttokilowatt liegt. Diese Preisobergrenze hat historische Gründe. Als es Ende des 19. Jahrhunderts gelang, Strom über weite Distanzen zu transportieren, wollten die aufstrebende Industrie im Mittelland sowie der Eisenbahnbau von günstigem Strom profitieren. Aus Angst, die Wasserkraftnutzung könnte durch zu hohe Wasserzinse erheblich behindert werden, erliess das Parlament ein Wasserzinsmaximum. Mit dessen Hinnahme hat das Berggebiet einerseits einen grossen Beitrag zur Industrialisierung unseres Landes geleistet. Andererseits konnte es mit den Einnahmen Erschliessungen realisieren und die eigene wirt­schaft­liche Entwicklung vorantreiben. Das Wasserzinsmaximum gründet somit auf einem Inte­res­sen­aus­gleich zwischen den Eigentümern der natürlichen Ressource Wasserkraft und der Schweizer Volks­wirtschaft.

Die Wasserzinseinnahmen der RKGK-Kantone betragen derzeit insgesamt rund 390 Millionen Franken pro Jahr. Der Bundesrat hat im Juni eine Vorlage in die Vernehmlassung gesandt, mit der er diese Einnahmen in einem ersten Schritt um rund 110 Millionen Franken reduzieren will. In einem zweiten Schritt soll ein neues Wasserzinsmodell eingeführt werden. Dieses präjudi­zie­ren­de Vorgehen lehnen die Gebirgskantone entschieden ab, weil nicht der Wasserzins für den völlig verzerrten Strommarkt verantwortlich ist. Vielmehr muss zuerst der Strommarkt neu geregelt werden, und erst danach kann über ein neues Wasserzinsmodell diskutiert werden.