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«Die technologische Entwicklung verliert an Tempo»

Der Zürcher Ökonomieprofessor David Dorn plädiert für kühleren Verstand bei der Diskussion um die Digitalisierung. Technologischer Wandel sei nicht immer gradlinig und führe nicht zwingend zu Massenarbeitslosigkeit, sagt er im Interview. Zudem überschätze man die aktuellen Fortschritte.

«Die technologische Entwicklung verliert an Tempo»

«In vielen Bereichen ist das Innovationspotenzial zunehmend ausgereizt.» David Dorn in seinem Büro an der Universität Zürich. (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)

Herr Dorn, Sie forschen zum digitalen Wandel. Wie verändert die Digitalisierung Ihre eigene Arbeit als Wissenschaftler?


Sehr stark. Sie ermöglicht uns, in viel grösserem Ausmass empirische Forschung zu betreiben. Wir haben besseren Zugang zu den Daten, die heute an vielen Orten digital erfasst und zugänglich sind. Dank leistungsfähigeren Computern haben wir zudem die Möglichkeit, solche Daten systematisch auszuwerten. Vor 20 bis 30 Jahren war die Ökonomik noch mathematisch-theoretisch orientiert, heute beschäftigt sie sich vorwiegend mit der Datenanalyse.

Mit der Einführung des PC zu Beginn der Achtzigerjahre hat sich die Digitalisierung auch auf die Bürotätigkeiten ausgeweitet. Welche Tätigkeiten hielten bisher der Automatisierung stand?


Das grundsätzliche Muster der Automatisierung ist bei Büroaufgaben ähnlich wie in der industriellen Produktion: Tätigkeiten, die genauen Arbeitsmustern folgen, werden automatisiert. Weniger betroffen sind Tätigkeiten, in denen Kreativität, Interaktionen mit Menschen, Problemlösungen und Strategieentwicklung wichtig sind. Auch Berufe, in denen ganz grundsätzliche menschliche Eigenschaften wie das Erkennen von Gegenständen, feinmotorische Bewegungen oder räumliche Orientierung gefragt sind, bleiben bestehen.

Google-Software erkennt bereits Bilder von Gegenständen. Szenarien gehen davon aus, dass in einigen Jahren Lastwagenfahrer und schliesslich auch Chirurgen durch Roboter ersetzt werden können. Verschwinden diese Berufe?


Nein. Die mögliche Automatisierung eines bestimmten Ablaufs führt nicht zwingend zum Aussterben eines ganzen Berufes. Ein Beispiel: Die amerikanische Luftwaffe liess bereits 1947 ein unbemanntes Flugzeug über den Atlantik fliegen. Trotzdem ist die Beschäftigung von Piloten seither massiv angestiegen. Wir unterschätzen hier häufig das Tätigkeitsspektrum eines Berufes: Ein Lastwagenfahrer lenkt nicht nur, er beschäftigt sich auch mit dem Beladen und Entladen des Lastwagens und mit der Papier- und Registrationsarbeit. Zudem kann er auf unvorhergesehene Situationen wie komplizierte Strassenverhältnisse oder Baustellen reagieren. Diese Dinge sind nur schwer oder gar nicht von einer Maschine zu bewältigen.

Bis man sich vom Lastwagenfahrer trennt, dauert es also noch.


Hier spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz hinein. Wären die Gäste einer Fluggesellschaft bereit, mit einem führerlosen Flugzeug zu reisen? Technisch ist es möglich und wird in militärischen Anwendungen auch gemacht, aber im Personenverkehr hat es nicht Einzug gehalten.

Wir haben trotz zunehmender Automatisierung in der Schweiz momentan eine tiefe Arbeitslosenquote von rund 3 Prozent. Ist also alles bestens?


Wir wissen aus den Erfahrungen von mehreren Jahrhunderten des technischen Fortschritts, dass das Ersetzen von menschlicher Arbeit durch arbeitssparende Technologien langfristig keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge hat.

Die Weltbevölkerung war noch nie so zahlreich. Es braucht zusätzliche Stellen.


Mehr Menschen konsumieren mehr. Wir benötigen somit mehr Leute, die Güter und Dienstleistungen herstellen und anbieten. Innerhalb der letzten 150 Jahre haben wir die Wirtschaftsstruktur komplett auf den Kopf gestellt: Wir sind von einer Agrargesellschaft über die Industrialisierung zu einer Dienstleistungsgesellschaft übergegangen und haben immer wieder zusätzliche, neue Arbeitsfelder erschaffen. Man denke etwa an den Zuwachs an Programmierern und Beschäftigten in diversen anderen IT-Berufen.

Schaffen wir damit genügend Stellen?


Noch viel wichtiger ist ein anderer Wirkungskanal: Durch den Einsatz von günstigen Produktionstechnologien haben sich die Preise der Produkte wesentlich verringert. Die industrielle Revolution hat in der Textilproduktion aufwendige Handarbeit durch neuartige Maschinen ersetzt und konnte so die Preise der erzeugten Kleider massiv senken. Dies ermöglichte den Konsumenten, einen grösseren Teil ihres Einkommens auf andere Güter und Dienstleistungen zu verwenden, etwa für Aktivitäten wie Ferienreisen und Freizeitunterhaltung. In diesen Branchen wurden dementsprechend viele Stellen geschaffen.

Eine viel beachtete Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2013 sagt voraus, dass in den USA bis 2050 durch die Automatisierung rund die Hälfte aller Jobs wegfallen. Wie schätzen Sie diese Studie als Wissenschaftler ein?


Diese Studie basiert nicht auf den aktuellsten Erkenntnissen. Sie sagt das baldige Verschwinden vieler Berufe voraus, in denen wir trotz zunehmender Verwendung von Robotern ein beständiges Ansteigen der Beschäftigung beobachten.

Wie viele Jobs fallen Ihrer Meinung nach weg?


Im verarbeitenden Gewerbe und in bestimmten Bürotätigkeiten gibt es einen Rückgang der Beschäftigung. Dieser dürfte sich auch in Zukunft fortsetzen. In anderen Bereichen werden dagegen neue Arbeitsstellen geschaffen. Das gilt nicht nur für hoch qualifizierte Jobs, sondern auch für niedrig qualifizierte etwa im Gesundheitssektor und in der Altenpflege.

Sind also die tief qualifizierten Berufe nicht unter Druck?


Zu einem Anstieg des Beschäftigtenanteils kommt es laut den Daten sowohl in den bestqualifizierten Berufen mit den höchsten Löhnen wie bei Managern, Ingenieuren oder Naturwissenschaftlern als auch bei den sehr niedrig qualifizierten, tief bezahlten Dienstleistungsberufen in Restaurants, im Reinigungsgewerbe und in der Kinderbetreuung. Bei Letzteren handelt es sich um Tätigkeiten, die von Menschen mit geringer schulischer Qualifikation relativ leicht auszuüben sind, die jedoch Maschinen immer noch grösste Probleme bereiten.

Haben Sie ein Beispiel?


Es gibt schon seit Jahrzehnten grosse Bestrebungen in der Roboterindustrie, gute Putzroboter für Reinigungsarbeiten zu erschaffen. Auch nach langer Forschungszeit ist man bisher kaum weitergekommen. Sobald es darum geht, die Möbel in einer Wohnung abzustauben, und man die Intuition haben muss, mit welchen Bewegungen und wie viel Druck man diese anfassen sollte – da ist ein Roboter komplett überfordert.

Sind also vor allem Berufe gefährdet, die eine mittlere Qualifikation erfordern?


Genau. Der Stellenverlust bei Produktions- und Bürotätigkeiten betrifft häufig mittlere Qualifikations- und Einkommensgruppen. Dadurch entsteht eine Polarisierung der Beschäftigung, die sich zunehmend in den höchst- und niedrigstbezahlten Berufen konzentriert. In der Schweiz zeigt sich das sehr ausgeprägt. Das bedeutet nicht, dass durch die technologische Entwicklung Massenarbeitslosigkeit entsteht. Aber die Einkommen sind zunehmend ungleicher verteilt.

Führt das zu sozialen Spannungen?


In manchen Ländern wie den USA sind bereits Probleme aufgetreten: Einerseits wachsen dort die Einkommen der Bestbezahlten im Arbeitsmarkt, aber gleichzeitig haben grosse Segmente der Beschäftigten seit Jahrzehnten keinen Anstieg der Reallöhne mehr erlebt.

Was ist zu tun?


Die meisten westlichen Staaten haben heutzutage progressive Steuersysteme. Das heisst, es gibt bereits eine automatische Stabilisierung: Wenn die Einkommen ungleicher werden, wird stärker umverteilt.

Es gibt ja nicht nur die Lohneinkommen.


Seit etwa drei Jahrzehnten sehen wir in vielen Ländern einen Rückgang beim Anteil der Arbeitnehmer am Gesamteinkommen der Volkswirtschaft. Währenddessen steigt der Anteil des Kapitaleinkommens. Wenn eine solche Verteilungssituation weiter fortschreitet, gewinnt auch eine Umverteilung von Kapitaleinkünften hin zur breiten Bevölkerung an Bedeutung.

Was braucht es für zusätzliche Massnahmen?


Es ist wichtig, dass die Menschen auch in Zukunft den Eindruck haben, dass sie im Arbeitsmarkt durch eigene Leistung eine wirtschaftliche Verbesserung erzielen können oder dass zumindest die Generation ihrer Kinder bessere Perspektiven hat.

Damit sprechen Sie die Bildung an. Der Bundesrat genehmigte jüngst einen Zusatzkredit für Bildung und Weiterbildung, damit die Beschäftigten den Anforderungen der Digitalisierung gewachsen sind. Ist dies die Lösung?


Es ist wichtig, in die Bildung der neuen Generation zu investieren. Die Digitalisierung im Arbeitsmarkt zeigt sich besonders stark bei den jungen Generationen. Wenn weniger Produktions- oder Buchhaltungsberufe gefragt sind, treten die Jungen nicht mehr in diese Berufe ein. Sie wählen Berufe wie Programmierer oder weichen in Berufe mit niedrigen Qualifikationsanforderungen aus, wo es noch Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Welche Reformen braucht unser Bildungssystem, damit wir künftig viele gut qualifizierte Leute haben?


Wir müssen realisieren, dass wir die Computer auf ihrem eigenen Territorium nicht mehr übertreffen können. Es ist heute nicht mehr erfolgversprechend, wenn man Kinder zu kleinen Computern ausbildet, die eine unglaubliche Merkfähigkeit haben oder ganz schnell rechnen können. Wir müssen dort investieren, wo die Menschen auch in Zukunft den Maschinen überlegen sind – also in Problemlösung, Kreativität und Kommunikation.

Sie plädieren für andere Grundkompetenzen?


Das haben viele Schulen mittlerweile erkannt und fördern stärker Projekt- und Gruppenarbeiten. Die Schweiz ist im internationalen Vergleich gut aufgestellt, weil in unserem Berufsbildungssystem die Rückkoppelung von Marktanforderungen an die Ausbildung relativ schnell erfolgt. In Ländern, wo ein grösserer Teil der Ausbildung über das Schulbildungssystem funktioniert, ist diese Anpassung hingegen eher träge.

Werden sich die Berufsprofile immer schneller verändern?


Es gibt nur wenig Evidenz dafür, dass sich der technologische Wandel beschleunigt. Im Gegenteil, wie es scheint, verliert die technologische Entwicklung an Tempo. In den letzten drei Jahrzehnten hatten wir in den westlichen Ländern ein wesentlich schwächeres Wirtschaftswachstum als noch in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Das schwächere Produktivitätswachstum weist darauf hin, dass die technologischen Verbesserungen in der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr so schnell erfolgen wie früher. Bei Computern und in der Mobilfunktechnologie war die technologische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zwar rasend schnell, aber in vielen anderen Technologiebereichen war sie deutlich langsamer.

Wo beispielsweise?


Etwa in der Medizin. Gemessen an den enormen Investitionen in die Forschung, stellt sich die Frage, ob wir noch im gleichen Ausmass erfolgreich Medikamente entwickeln wie früher. Es gibt auch Beispiele aus der Transporttechnologie: Wir haben heute Flugzeuge, die noch sehr ähnlich aussehen wie in den Siebzigerjahren, während sich neue Technologien wie Überschallflugzeuge im Personenverkehr nicht durchsetzen konnten.

Woran liegt das?


Möglicherweise ist in vielen Bereichen das Innovationspotenzial zunehmend ausgereizt. Auch hier ist unsere Wahrnehmung häufig verzerrt. Wir haben erlebt, wie sich die Mobilfunktechnologie unglaublich weiterentwickelt hat, und denken deshalb, das sei die grösste und schnellste Entwicklung, die es jemals gegeben hat. Aber dabei vergessen wir, dass im 19. Jahrhundert innerhalb eines Jahres der Verbrennungsmotor, die drahtlose Datenübermittlung und das elektrische Licht erfunden wurden. Jede dieser Technologien hat einen unglaublichen Schub von weiteren Erfindungen ausgelöst. Die Computertechnologie stellt dagegen nur einen relativ schmalen Ausschnitt der Technologien dar, die wir heute zur Verfügung haben.

Zitiervorschlag: Susanne Blank (2017). «Die technologische Entwicklung verliert an Tempo». Die Volkswirtschaft, 21. Dezember.

David Dorn

Der 38-jährige David Dorn ist Professor für Arbeitsökonomie und internationalen Handel am UBS Center of Economics in Society an der Universität Zürich. Zuvor lehrte er am Center for Monetary and Financial Studies (CEMFI) in Madrid sowie an der Harvard-Universität in Boston. In seiner Forschung untersucht er unter anderem die Auswirkungen der Globalisierung und des technologischen Wandels auf den Arbeitsmarkt.