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Wann ist nach der Krise vor der Krise?

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren hat man weltweit Vorkehrungen getroffen, um ein ähnliches Krisendesaster zu vermeiden. Wichtige Lehren aus der Erkenntnis, dass systemrelevante Finanzunternehmen im Extremfall ganze Volkswirtschaften in Schieflage bringen können, wurden gezogen. «Too big to fail» wurde zum geflügelten Begriff. Rund um den Globus wurde die Aufsicht über die Finanzindustrie unter Inkaufnahme einer weiteren Regulierungswelle verstärkt. Die systemrelevanten Finanzunternehmen sind bezüglich ihrer Krisenresistenz dank Kapitalstärkung und verstärkter Aufsicht internationaler Standards grundsätzlich besser aufgestellt. Ende gut, alles gut?

«This time is different» gehört offenbar zu den wiederkehrenden Fehlschlüssen unserer Beobachtungsgabe, wie die Ökonomen Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff in ihrer bahnbrechenden Untersuchung der Geschichte von Krisen aus dem Jahr 2009 zeigen. Diese Erkenntnis sollten sich insbesondere Investoren und Händler an den Finanzmärkten hinter die Ohren schreiben.

Denn Zweifel, dass dieses Mal alles anders ist, sind angebracht. Die Verschuldung des öffentlichen Sektors, der Unternehmen (ausserhalb des Finanzsektors) und der Privathaushalte hat in den G-20-Ländern auch nach der Überwindungen der Finanzkrise stetig zugenommen. In dieser Ländergruppe erreichte der Schuldenberg (brutto) gemessen an ihrem Bruttoinlandprodukt mittlerweile einen historischen Stand von 235 Prozent. Möglicherweise in der breiteren Öffentlichkeit wenig bemerkt, ist das ungestüme Schuldenwachstum in den letzten Jahren vor allem auch vom zunehmenden Kredithunger des Privatsektors getrieben. Historisch tiefe Zinsen und die fortwährende «Jagd nach Rendite» haben mit Ausnahme von Deutschland, Japan, Grossbritannien und Argentinien in allen G-20-Ländern zu einer deutlichen Zunahme der Unternehmensverschuldung geführt. Die Schweiz fällt als Nichtmitglied dieses Clubs vor allem durch die weltweit höchste Verschuldung der Privathaushalte auf.

Zinsanstieg als Risikoquelle


Solange die internationale Börsen- und Bondmarktrally ihren Schwung beibehält und die wichtigsten Zentralbanken ihre ausserordentlich lockere Geldpolitik weiterführen, kann die Rechnung an den Händlerringen der Finanzmärkte noch eine Zeit lang aufgehen. Ein erhebliches Risiko dürfte jedoch schon allein von einer unerwartet raschen Zinswende ausgehen. Die finanzielle Tragbarkeitsrechnung sähe dann für Staatshaushalte und viele private Schuldner wegen der zunehmenden Zins- und damit Schuldenlast schlagartig anders aus. Aus diesem Grund warnen seit einigen Quartalen grosse internationale Organisationen wie der IMF, die OECD oder die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vor der erheblichen Verwundbarkeit der grossen Wirtschaftsräume gegenüber starken Zinsanstiegen: Viele OECD-Länder seien wegen ihrer schon ausserordentlich hohen Staatsschulden kaum noch in der Lage, eine neuerliche Krise mit staatlichen Stützungs- und Rettungsmassnahmen in Milliardenhöhe abzufedern. Sie haben es verpasst, nach 2009 den Spielraum durch Budgetüberschüsse zu erweitern.

Weltweit sind die Marktakteure und Regierungen unmissverständlich vorgewarnt. Nach der Krise ist vor der Krise. Unglücklicherweise zeigt die Kulturgeschichte von Wirtschaftskrisen eine weitere Gesetzmässigkeit auf. Der Zeitpunkt und das Szenario der nächsten Krise sind kaum vorhersehbar. Deshalb betonen die Politikempfehlungen gegenwärtig vor allem grundlegende Prinzipien der Vorsorge: vorhersehbare, schrittweise Normalisierung der Geldpolitik, Vermeidung sorgloser Kreditvergabe im Privatsektor, Sicherung der Finanzierbarkeit der Altersvorsorge, Vermeiden struktureller Defizite im öffentlichen Sektor. In der Schweiz von besonderer Bedeutung ist die träge politische Debatte um eine Korrektur falscher Verschuldungsanreize im Steuersystem. Die erwähnte hohe Verschuldung der Schweizer Haushalte geht auf steuerliche Anreize zur Hypothekarkreditaufnahme zurück. «Häuslebauer» zu fördern, ist schön und gut. Im aktuellen Risikoumfeld kann dies jedoch zum Einfallstor der neuen Krise nach der Krise werden.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2017). Wann ist nach der Krise vor der Krise. Die Volkswirtschaft, 21. Dezember.