Die gesamte Wertschöpfung im Tourismus lässt sich anhand der Logiernächte schätzen. Touristinnen in Luzern. (Bild: Keystone)
Eine frühzeitige und präzise Einschätzung der Konjunkturlage hilft Firmen, Staat und Privatpersonen dabei, wirtschaftliche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Dazu sind Daten notwendig, die möglichst zeitnah und in hoher Frequenz zur Verfügung stehen und international vergleichbar sind. Die darauf basierenden Lagebeurteilungen und Prognosen sind für die Wirtschafts- und Geldpolitik sowie für die Finanzplanung des Bundes unverzichtbar.
Zentrale Kennzahlen sind das Bruttoinlandprodukt (BIP) und seine Komponenten. Weil die Berechnung des BIP anspruchsvoll ist und eine sehr breite Datengrundlage erfordert, besteht jedoch ein Zielkonflikt zwischen rascher Verfügbarkeit und hoher Genauigkeit. So liegt die erste Berechnung des jährlichen BIP durch das Bundesamt für Statistik (BFS) jeweils erst im August des Folgejahres vor. Die Verzögerung ergibt sich aus den hohen Erfordernissen an Daten, welche zuerst landesweit erhoben werden müssen.
Demgegenüber führt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) vier Mal pro Jahr eine BIP-Quartalsschätzung durch. Einerseits werden dadurch unterjährige Informationen zum BIP und anderen Grössen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) verfügbar, und andererseits gibt die Quartalsschätzung wesentlich früher Auskunft über die laufende Entwicklung. Die Zahlen werden rund zwei Monate nach Quartalsende veröffentlicht – beispielsweise erscheint die Schätzung für das BIP des vierten Quartals jeweils Ende Februar oder Anfang März. Damit stehen auch bereits Informationen zum jährlichen BIP zur Verfügung – rund ein halbes Jahr vor der BFS-Berechnung.
Die Vorteile der höheren Frequenz und früheren Verfügbarkeit sind nicht ohne Nachteile zu haben. Die BIP-Zahlen[1] werden auf Quartalsbasis mittels statistischer Methoden geschätzt und unterliegen Unsicherheiten. Die Qualität der Schätzung hängt wesentlich von der Qualität der verfügbaren Daten ab – insbesondere von den ökonomischen Indikatoren und von den BFS-Jahreswerten – sowie von der Güte der eingesetzten statistischen Methoden.
Schätzung anhand von Indikatoren
Wie funktioniert die Quartalsschätzung? Einerseits werden die offiziellen BFS-Jahreszahlen anhand statistischer Methoden auf die Quartale der vergangenen Jahre «verteilt» (Interpolation). Andererseits werden auch für die jüngsten Quartale, für die noch kein Jahreswert zur Verfügung steht, die Quartalsdaten geschätzt (Extrapolation).
Für das Vorgehen ist es zentral, Indikatoren zu finden, die auf Jahresbasis den grösstmöglichen Zusammenhang mit der zu schätzenden Komponente aufweisen. Dies genügt aber noch nicht: Damit ein Indikator für die Quartalsschätzung verwendet werden kann, muss er auf Quartalsfrequenz und zeitnah (innerhalb von 60 Tagen nach Quartalsende) verfügbar sowie lang genug sein, um statistische Zusammenhänge sinnvoll schätzen zu können.
Ein Beispiel für einen geeigneten Indikator sind die Logiernächte in der Schweiz. Sie weisen auf Jahresbasis ähnliche Wachstumsraten auf wie die reale Wertschöpfung des Gastgewerbes (siehe Abbildung 1). Dies ermöglicht es, den Zusammenhang zwischen Wertschöpfung im Gastgewerbe und Logiernächten mittels einer Regression auf Jahresbasis zu schätzen. Dieser Zusammenhang wird verwendet, um anhand der quartalsweisen Logiernächte die reale Wertschöpfung für das Gastgewerbe auf Quartalsbasis zu bestimmen (siehe Abbildung 2). Beispiele für Indikatoren anderer Branchen sind Industrie- und Detailhandelsumsätze, Exportzahlen, Beschäftigungsdaten, Preise etc. Das BIP ergibt sich am Schluss als Summe der quartalisierten Wertschöpfung aller Branchen (siehe Kasten).
Abb. 1: Anzahl Logiernächte und reale Wertschöpfung des Gastgewerbes: Wachstumsrate gegenüber Vorjahr (2011–2016)
Quelle: BFS, Seco / Die Volkswirtschaft
Abb. 2: Anzahl Logiernächte und reale Wertschöpfung: Quartalsreihen (2011–2017)
Quelle: BFS, Seco / Die Volkswirtschaft
Hohe Treffsicherheit der BIP-Quartalsschätzung
Grundsätzlich kommen alle verfügbaren Daten, die oben stehende Kriterien erfüllen, als Indikatoren für die Quartalisierung einer Jahresreihe infrage. Für die Schätzung können auch mehrere Indikatoren verwendet werden. Um ins Modell aufgenommen zu werden, sollten die Indikatoren in einem signifikanten und ökonomisch sinnvollen Zusammenhang zur gesuchten Komponente stehen. Gleichzeitig sollten sie einen hohen Erklärungsgehalt für die Entwicklung dieser Komponente in der Vergangenheit aufweisen. Besonders wichtig ist zudem die Güte der Extrapolation, d. h., dass die Summe der extrapolierten Quartale möglichst nahe am später veröffentlichten Jahreswert des BFS liegt.
Ein allfälliges saisonales Muster der Indikatoren überträgt sich auf die BIP-Quartalsschätzungen. Beispielsweise sind die Logiernächte jeweils im dritten Quartal am höchsten. Ausgeprägte Saisonschwankungen können jedoch die konjunkturelle Dynamik, die in der Regel im Zentrum des Interesses steht, verdecken. Für sämtliche Komponenten des BIP werden daher sowohl unbereinigte wie auch saison- und kalenderbereinigte Reihen veröffentlicht (siehe Kasten).
Insgesamt ist die Treffsicherheit der Quartalsschätzungen relativ gross: Beim BIP lag die Differenz zwischen den summierten, extrapolierten Quartalen und dem ersten BFS-Jahreswert für 2016 bei 0,09 Prozentpunkten; für 2015 und 2014 waren es jeweils 0,07 Prozentpunkte.[2]
Einfluss von Revisionen nicht signifikant
Die Quartalszahlen unterliegen regelmässigen Revisionen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Erstens werden die verwendeten Indikatoren selber teilweise revidiert. Zweitens gibt es bei den VGR-Jahresdaten Änderungen, die sich auf die Quartalszahlen übertragen. Drittens werden die ökonometrischen Modelle für die Quartalisierung und die Saisonbereinigung gelegentlich angepasst, falls dadurch eine Verbesserung der Schätzung erreicht werden kann. Schliesslich führt jeder neue Jahreswert zu leichten Änderungen der geschätzten Koeffizienten in den Quartalisierungsmodellen, und jeder neue Quartalswert hat Anpassungen des geschätzten Saisonmusters zur Folge.
In der Vergangenheit betrug die durchschnittliche absolute Revision des BIP-Wachstums zwischen der ersten und der zweiten Quartalsschätzung 0,1 Prozentpunkte und innerhalb eines Jahres 0,2 Prozentpunkte. Dies ist vergleichbar mit der Höhe der Revisionen in anderen Ländern. In aller Regel sind die Revisionen zudem unverzerrt, d. h., sie erfolgen sowohl nach oben wie nach unten, und sie unterscheiden sich im Durchschnitt nicht signifikant von null. Das grundlegende Bild der Konjunkturlage wird somit durch die Revisionen nicht verändert (siehe Abbildung 3). Stand und Entwicklung der Konjunktur werden durch die BIP-Quartalsschätzungen korrekt angezeigt – und dies bereits zwei Monate nach Quartalsende.
Abb. 3: BIP-Wachstum (1996–2017; real und saisonbereinigt; gegenüber Vorquartal)
Anmerkung: Die rote Linie zeigt die aktuelle Schätzung der Wachstumsrate. Die gepunkteten Linien zeigen die höchste und die tiefste Wachstumsrate, die für das jeweilige Quartal geschätzt wurden (inkl. aller Revisionen zwischen Ende 2002 bis Ende 2017).
Quelle: Seco / Die Volkswirtschaft
Eine noch frühzeitigere Verfügbarkeit der BIP-Zahlen wäre theoretisch möglich. Wesentliche Indikatoren wie beispielsweise die Zahlungsbilanz, die Umsätze der Industrie oder die Beschäftigungsstatistik sind gegenwärtig jedoch nicht früher verfügbar. Eine frühzeitigere Schätzung der BIP-Zahlen wäre daher nur bei Inkaufnahme grösserer späterer Revisionen möglich.
Demgegenüber liefert die BIP-Quartalsschätzung unter der derzeitigen Vorgehensweise eine verlässliche, frühe Grundlage sowohl für die konjunkturelle Lagebeurteilung als auch für Konjunkturprognosen. Diese wiederum sind unter anderem für die Wirtschaftspolitik, die Budgetplanung des Bundes sowie die geldpolitische Lagebeurteilung durch die Schweizerische Nationalbank von zentraler Bedeutung.
- Die Ausführungen dieses Artikels gelten grundsätzlich sowohl für die BIP-Zahlen als auch für deren Komponenten, d. h. für die Zahlen der VGR. Aus Gründen der Leserlichkeit ist jeweils nur von BIP-Zahlen die Rede. []
- 2014: Seco: 1,96%, BFS: 1,89%; 2015: Seco: 0,91%; BFS: 0,84%, 2016: Seco: 1,29%; BFS: 1,38%). []
Literaturverzeichnis
- Chow, Gregory C., und An-loh Lin (1971). Best Linear Unbiased Interpolation, Distribution, and Extrapolation of Time Series by Related Series. The Review of Economics and Statistics, 53(4): 372–375.
- Dagum, Estela B., und Pierre A. Cholette (2006). Benchmarking, Temporal Distribution, and Reconciliation Methods for Time Series. Lecture Notes in Statistics. Springer-Verlag, New York.
- Denton, Frank T. (1971). Adjustment of Monthly or Quarterly Series to Annual Totals: An Approach Based on Quadratic Minimization. Journal of the American Statistical Association, 66: 99-102.
- Europäische Union (2014). Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, ESVG 2010, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.
- Europäische Union (2013). Handbook on Quarterly National Accounts. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.
- Fernandez, Roque B. (1981). A Methodological Note on the Estimation of Time Series. The Review of Economics and Statistics, 63(3): 471–476.
- Findley, David F., Brian C. Monsell, William R. Bell, Mark C. Otto, und Bor-Chung Chen. (1998). New Capabilities and Methods of the X-12-ARIMA Seasonal-Adjustment Program. Journal of Business & Economic Statistics, 16(2): 127–152.
- Gomez, Victor und Agustin Maravall (1996). Programs TRAMO and SEATS, Instructions for the User, Documento de Trabajo, Banca de Espagna: 9628.
Bibliographie
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Zitiervorschlag: Bachmann, Andreas; Indergand, Ronald (2018). Quartalsschätzung verkürzt das Warten auf die BIP-Zahlen. Die Volkswirtschaft, 26. Februar.
Für die BIP-Quartalsschätzungen verwendet das Seco aktuelle wissenschaftliche Standards, welche international zur Schätzung von vierteljährlichen VGR-Daten eingesetzt werden. Die Vorgehensweise stützt sich dabei auf das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen 2010 (siehe EU, 2014 und EU, 2013). Bei der Quartalisierung hängt die Wahl der Methode davon ab, ob zwischen der Zielgrösse und den Indikatoren eine Kointegrationsbeziehung besteht. So wird bei Kointegration die Methode von Chow und Lin (1971) verwendet, ansonsten die Methode von Fernandez (1981). Falls kein Zusammenhang zwischen Indikator und Zielgrösse geschätzt werden muss, wird die Denton-Cholette-Methode (Denton, 1971; Dagum and Cholette, 2006) angewandt. Dies ist der Fall, wenn entweder gar kein Indikator vorhanden ist oder wenn ein Indikator quasi perfekt der Zielgrösse entspricht.
Die Saisonbereinigung erfolgt mittels «X-13-Arima-Seats». In einem ersten Schritt wird ein Arima-Modell geschätzt. Dabei wird beispielsweise der Effekt von Ostern, der Anzahl Arbeitstage etc. identifiziert. Unter Verwendung des Arima-Modells wird die Zeitreihe an beiden Enden verlängert, was die Saisonbereinigung an den Rändern der Zeitreihe verbessert. Danach kann entweder ein nicht parametrisches Verfahren (X-11: siehe Findley et al, 1998) oder eine modellbasierte Methode (Seats: Gomez und Maravall, 1996) für die Saisonbereinigung verwendet werden. Für die vierteljährliche VGR verwendet das Seco in der Regel die Seats-Methode. Die resultierende saisonbereinigte Reihe schliesst regelmässige saisonale Schwankungen aus.