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Das BIP als unerlässlicher Kompass

Das Bruttoinlandprodukt (BIP) misst die landesweite Wirtschaftsleistung. Die Kennzahl ist auch im digitalen Zeitalter unverzichtbar.
Im BIP ist die Wertschöpfung eines Landes erfasst. (Bild: Alamy)

Das Bruttoinlandprodukt (BIP) geniesst als makroökonomische Kerngrösse einen umstrittenen Ruf. Für die einen sind das BIP und das System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) eine unverzichtbare Grundlage für die Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Für die anderen gilt die Kennzahl geradezu als Sinnbild weltweiter Probleme wie Armut, Umweltverschmutzung, Verteilungskämpfe. Das Ende des BIP als Leitindikator der wirtschaftlichen Entwicklung wird schon seit Jahrzehnten proklamiert. Es ist möglicherweise diese stetige Kritik, welche dem Konzept heute mehr denn je Glaubwürdigkeit verleiht.

Die methodologischen Ursprünge des Bruttosozialproduktes, des Vorläufers des BIP, gehen auf die Dreissigerjahre des 20. Jahrhunderts zurück. Es brauchte offensichtlich den historischen Einschnitt der Grossen Depression, um den Grundlagenarbeiten zur systematischen Erhebung von gesamtwirtschaftlichen Grunddaten den Durchbruch zu ermöglichen: Nach langen Krisenjahren wollten die Regierungen in Grossbritannien und den USA verstehen, wie sich das Nationaleinkommen unter diesen ausserordentlich schwierigen Umständen entwickelt hatte.[1]

Keine Alternativen in Sicht


Die konzeptionellen Grundlagen des BIP wurden nicht als Indikator zur Messung der Lebensqualität geschaffen. Es ging vielmehr um den Anspruch einer buchhalterischen Erfassung aller Wirtschaftsaktivitäten. So gesehen ist es nicht erstaunlich, dass selbst nach jüngsten umfassenden Überprüfungen des Konzeptes der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) der Stellenwert des BIP als Indikator für die landesweite Wirtschaftsleistung faktisch alternativlos ist.

Allerdings stellt keine seriöse ökonomische Analyse des Wirtschaftsverlaufes allein auf die Entwicklung des BIP respektive der entsprechenden Komponenten ab. Weitere Indikatoren wie Konsumentenstimmung, Unternehmensumfragen zum Auftragseingang oder zum Investitionsverhalten, Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit ergänzen die Orientierung am BIP. Auch gibt es für alle Industrieländer etablierte komplementäre Konzepte für die Messung einer nachhaltigen Entwicklung und Lebensqualität.

Zurzeit steht die VGR unter einem scheinbar neuen Rechtfertigungsdruck. Legitimerweise wird diskutiert, wie internetbasierte Dienstleistungen, die wir vermeintlich kostenlos konsumieren, gebührend in die Wertschöpfungsmessung einfliessen. Neue Geschäftsmodelle – etwa der «Gafa-Konzerne» (Google, Apple, Facebook, Amazon) – scheinen durch Einsatz neuer Technologien, sehr hohe Skaleneffekte sowie das rigorose Erschliessen von Netzwerkeffekten die VGR auf den Kopf zu stellen. Gratisleistungen führen allerdings nicht zwingend zur systematischen Unterschätzung der in Geldeinheiten gemessenen Wertschöpfung. Denn auch die meisten dieser neuartigen Dienstleistungen werden bezahlt, entweder direkt oder indirekt, zum Beispiel über Werbeeinnahmen.

Diese aktuelle Debatte zeigt jedenfalls, wie der technische Fortschritt die konzeptionellen statistischen Grundlagen immer wieder herausfordert. Solche technische Neuerungen mussten auch schon früher berücksichtigt werden. So führte das Aufkommen des Personal Computers in den Achtzigerjahren zu einer langen Debatte, wie die Produktion von immer günstigeren und leistungsfähigeren Computern real – sprich: korrigiert um die deutlich zunehmende Qualität – erfasst werden kann. Später verlagerte sich die Diskussion auf die angemessene Erfassung der Softwareherstellung sowie von Forschung und Entwicklung, die als «immaterielle» Leistung bis vor wenigen Jahren nicht als Investitionen in die VGR einfloss.

Politische Wachstumsvorgaben sind heikel


Ein anderes Missverständnis zur Finalität der VGR geht davon aus, dass eine BIP-Zunahme zu den vordringlichen Zielen der Politik gehört. Dabei gibt es hierzulande keine politischen Vorgaben für ein «Zielwachstum». Die vierteljährlichen Prognosen, die der Bund, die Schweizerische Nationalbank (SNB) und private Instituten erstellen, geben den privaten und öffentlichen Entscheidungsträgern Orientierung, wie sich die wirtschaftliche Aktivität in den kommenden Quartalen entwickeln könnte. In der kurzen Frist sind sie gewissermassen eine exogene Grösse, aber kein politisches Versprechen über die Entwicklung des wirtschaftlichen Wohlstandes der Bürger.

Dieser Umstand ist erwähnenswert, weil in anderen Ländern mit der künftigen Wirtschaftsentwicklung ständig Wahlkampf betrieben wird. Ob Regierungsparteien oder Oppositionsparteien: Im Ausland ist die Verlockung deutlich grösser, der Wählerschaft eine rosige wirtschaftliche Zukunft zu versprechen. Zur Jahrtausendwende liess sich etwa der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, in der «Lissabon Agenda 2010» zu einem explizit angepeilten jährlichen realen Wachstum von 3 Prozent über zehn Jahre verleiten. Die Eurokrise liess diese Träume platzen. Seither sind die EU-Gremien mit solchen Versprechen zurückhaltender geworden.

Natürlich kommt dem langfristigen Wirtschaftswachstum auch in der Schweizer Wirtschaftspolitik ein hoher Stellenwert als politischer Kompass zu – und damit auch dem BIP respektive dem BIP pro Kopf als dem international anerkannten Mass hierfür. Wirtschaftswachstum bedeutet auf die Länge nicht nur, dass sich die Haushalte mehr oder teurere Autos, Fernseher oder Ferien leisten können. Aus dem von Innovation getriebenen Wachstum resultieren im Endeffekt auch eine bessere Gesundheitsversorgung, eine bessere Ernährung, ein längeres Leben, mehr Freizeit, eine bessere Altersvorsorge und anderes mehr. Daran dürften ausnahmslos alle Menschen in der Schweiz interessiert sein, und deswegen muss dieses Verständnis von Wohlstandsmehrung weiterhin ein Ziel der Wirtschaftspolitik sein. Aber selbstverständlich gilt dies nicht uneingeschränkt, sondern nur unter Berücksichtigung anderer Ziele wie zum Beispiel Umweltschutz oder Umverteilung. Die Austarierung unterschiedlicher Ziele und möglicher Zielkonflikte ist eine Konstante der Politik. Dies soll auch in Zukunft so sein.

  1. Zu den Anfängen der BIP-Messung vgl. Beitrag von Ronald Indergand und Philippe Küttel in dieser Ausgabe. []

Literaturverzeichnis

  • Coyle, Diane (2014). GDP – A Brief but Affectionate History, Princeton.
  • Haskel, Jonathan, Westlake, Stian (2018). Capitalism Without Capital – The Rise of the Intangible Economy. Princeton University Press, Princeton.
  • Sachverständigenrat, Conseil d’Analyse Economique (2010). Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem. Wiesbaden, Paris.
  • Stiglitz-Sen-Fitoussi Commission SSFC (2009). Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress.

Bibliographie

  • Coyle, Diane (2014). GDP – A Brief but Affectionate History, Princeton.
  • Haskel, Jonathan, Westlake, Stian (2018). Capitalism Without Capital – The Rise of the Intangible Economy. Princeton University Press, Princeton.
  • Sachverständigenrat, Conseil d’Analyse Economique (2010). Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem. Wiesbaden, Paris.
  • Stiglitz-Sen-Fitoussi Commission SSFC (2009). Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2018). Das BIP als unerlässlicher Kompass. Die Volkswirtschaft, 26. Februar.