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«Die Politik sollte nicht die Stimmen der Bürger kaufen»

Monika Bütler, Ökonomieprofessorin an der Universität Sankt Gallen, erklärt im Interview, was aus ihrer Sicht in der Altersvorsorge schiefläuft und weshalb sie eine Zückerchenpolitik bei Abstimmungen für falsch hält. Ausserdem erklärt sie, wo sie Frauenquoten für sinnvoll hält und wo nicht.

«Die Politik sollte nicht die Stimmen der Bürger kaufen»

«Eine generelle Frauenquote lehne ich ab.» Monika Bütler vor ihrem Büro an der Universität St. Gallen. (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)
Frau Bütler, in welchem Alter hören Sie mit der Erwerbstätigkeit auf?

(lacht) Ich werde wahrscheinlich nie ganz aufhören. Vielleicht werde ich später nichts mehr verdienen, aber ich bin gerne aktiv. Allerdings habe ich bereits ein bisschen reduziert und bin nur noch zu 50 Prozent an der HSG. Ich habe gemerkt, dass es nicht gesund ist, mit Mitte fünfzig jede Woche 70 Stunden zu arbeiten.

Die Altersvorsorge 2020 wurde im September abgelehnt. Auch Sie waren dagegen. Warum?

Mir hat das ursprüngliche Paket von Alain Berset eigentlich sehr gut gefallen. Dann kamen diese zusätzlichen 70 Franken AHV-Rente dazu. Ich fand das ein schlechtes Signal an die Jungen. Meine Generation zwischen 50 und 65 Jahren, der es in der Geschichte der Schweiz wirtschaftlich ohnehin schon am besten ging, wäre dadurch noch bessergestellt worden. In einem Reformpaket ist das nicht akzeptabel. Zudem finde ich auch diese Zückerchenpolitik sehr schlecht. Die Politik sollte nicht die Stimmen der Bürger kaufen. Sie muss ihnen erklären, weshalb Massnahmen sinnvoll sind.

Vor Weihnachten hat der Bundesrat das weitere Vorgehen skizziert. Er will die AHV und die berufliche Vorsorge separat sanieren. Die AHV hat Vorrang. Wie schätzen Sie das ein?

Das ist ein gangbarer Weg. Die AHV betrifft uns alle und ist deshalb näher bei den Leuten. Allerdings haben nun Pensionskassen, die fast nur das Obligatorium der beruflichen Vorsorge versichern, wirklich ein Problem mit dem überhöhten Umwandlungssatz.

Die Pensionskassen haben im letzten Jahr hohe Renditen erwirtschaftet. Ist das finanzielle Problem damit bereits entschärft?

Nein. Erst wenn die Zinsen deutlich höher liegen als heute, entspannt sich das Problem. Die Finanzierung der längeren Lebensdauer ist damit allerdings noch immer nicht gelöst. Wir haben nach wie vor eine Umverteilung zuungunsten der Jungen. Bisher profitierten immer nur die Alten von höheren Renditen. Es wäre besser, die Umwandlungssätze herabzusetzen und dafür Mechanismen einzuführen, damit Jung und Alt von guten finanziellen Verhältnissen der Kasse profitieren.

Bundesrat Berset bekräftigt, er wolle das Leistungsniveau erhalten. Schätzen Sie das als realistisch ein?

Was heisst Leistungsniveau? Wer heute in Rente geht, bekommt übers Leben gesehen insgesamt mehr Gelder als jemand, der vor 20 Jahren in Rente ging. Ganz einfach, weil er oder sie länger lebt. Wenn die Leistungen für eine längere Lebensdauer reichen müssen, dann müssen wir entweder über ein höheres Rentenalter oder auch eine Senkung des Leistungsniveaus pro Jahr nachdenken.

Die Leistungen aus erster und zweiter Säule sollen gemäss Bundesverfassung 60 Prozent des Erwerbseinkommens ausmachen. Wird das noch möglich sein?

Diese 60 Prozent nach Steuern erreichen immer noch sehr viele – selbst mit gesenkten Leistungen. Aber es waren eben in der Vergangenheit meist deutlich mehr als 60 Prozent. In den letzten 30 Jahren hat sich die Vorstellung eingebürgert, dass das Lebenshaltungsniveau nach der Pensionierung fast gleich hoch bleibt – auch ohne private Ersparnisse.

Man will das Rentenalter zwischen 62 und 70 Jahren flexibilisieren. Kann das unser Arbeitsmarkt überhaupt aufnehmen?

Alle bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass der Arbeitsmarkt eine Erhöhung des Rentenalters absorbieren kann. Das hat auch für die Schweiz gegolten, als sie 1997 das Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 erhöht hat. Je mehr Erwerbsjahre verbleiben, desto einfacher ist es, eine Stelle zu finden.

Auch für ältere Erwerbslose?

Wir hatten das Problem der Altersarbeitslosigkeit schon immer und werden es auch weiterhin haben. Wir müssen bessere Lösungen finden, diese Leute wieder zu integrieren oder für den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu entschädigen. Heute machen wir das schlecht.

Es macht keinen Sinn, eine 58-Jährige zu zwingen, ihr ganzes Vermögen aufzubrauchen

 

Was machen wir schlecht?

Wer aus der Arbeitslosenkasse fällt, ist auf Sozialhilfe angewiesen. Das ist einfach nicht akzeptabel für eine 58-Jährige.

Wie könnte man es besser machen?

Eine ältere Person sollte eine bessere Form der Absicherung haben als jemand, der mit 20 Jahren keine Stelle hat. Es macht keinen Sinn, eine 58-Jährige zu zwingen, ihr ganzes Vermögen aufzubrauchen. Später braucht sie dann erst recht Ergänzungsleistungen.

Andere Länder haben in den vergangenen Jahren das Rentenalter stark erhöht. Wie wurde das durchgesetzt?

Ohne direkte Demokratie ist es natürlich viel einfacher, ein höheres Rentenalter durchzusetzen. Gute Beispiele sind die nordischen Länder. Politischen Druck gibt es allerdings immer. So ist Deutschland wieder einen Schritt zurückgegangen. Das effektive Rentenalter ist in den meisten Ländern wegen der stark reduzierten Leistungen für Frühpensionierungen gestiegen. In vielen europäischen Ländern wie Italien oder Deutschland stieg durch die Reformen auch die Altersarmut. In der Schweiz existiert ein relativ starker Konsens, dass wir Altersarmut in Zukunft vermeiden möchten.

Wie stehen andere Länder bezüglich der Altersvorsorge da?

Einige Länder sind inzwischen besser aufgestellt als die Schweiz. In Holland hat man sogar die laufenden Renten in der beruflichen Vorsorge gesenkt. Es gibt dort einen ganz klaren Anpassungsmechanismus: Wenn der Deckungsgrad unter eine bestimmte Grenze fällt, dann werden die Beiträge erhöht und die Leistungen gekürzt. Es gilt dort Opfersymmetrie, das heisst, es müssen beide Seiten zur Sanierung beitragen.

Das eidgenössische Parlament wird die Revision der Ergänzungsleistungen beraten. Die Kosten sind in den letzten 15 Jahren explodiert. Was lief schief?

Die Ergänzungsleistungen sind faktisch zu einer Pflegeversicherung mutiert. Das ist eine Möglichkeit, um die Pflege zu finanzieren – und vielleicht nicht einmal die allerdümmste. Zudem werden immer mehr Leute pensioniert, die Unterbrüche in ihrer Karriere hatten, später in die Schweiz gekommen sind oder längere Zeit im Ausland waren. Letztlich bin ich mit Herrn Berset bis zu einem gewissen Grad einverstanden, dass die Anreize in der zweiten Säule, das Kapital zu beziehen, zu mehr Ergänzungsleistungen führen.

Diese Möglichkeit muss also eingeschränkt werden?

Je mehr ich darüber forsche, desto weniger befürworte ich eine Einschränkung. Denn sie trifft die Ärmsten am meisten: Es trifft die Kranken mit einer kürzeren Lebenserwartung und Leute, die nur 100’000 oder 200’000 Franken Pensionskassenkapital haben und sich zum ersten Mal etwas leisten könnten. Die sind nicht die teuersten.

Wer ist es dann?

Teuer sind diejenigen in der Mitte, die sich eigentlich selber finanzieren könnten, es aber nicht tun. Wer Gelder aus der zweiten Säule bezogen hat, sollte daher die ganzen Ersparnisse aufbrauchen müssen, bevor er Ergänzungsleistungen beziehen kann. Gemäss unseren Berechnungen würde diese Massnahme die Kosten für diese Art von Ergänzungsleistungen bereits halbieren.

Der sogenannte Pension Gender Gap – der geschlechterspezifische Unterschied zwischen den Altersrenten – ist in der Schweiz sehr hoch. Warum hält sich das klassische Rollenmodell in der Schweiz so hartnäckig?

Beim Gender Gap muss man unterscheiden: Frauen aus dem Mittelstand, die ihr ganzes Leben verheiratet waren, geht es im Ruhestand besser als allen anderen – selbst wenn sie keine Kinder hatten und nicht gearbeitet haben. Sie haben die höchste AHV-Rente und erhalten ab dem Alter von 45 Jahren und nach mindestens 5 Ehejahren eine volle Rente aus beiden Säulen, ohne noch arbeiten zu müssen. Auf der anderen Seite fahren alleinerziehende oder geschiedene Frauen, die erwerbstätig waren, oft schlechter. Teilweise gilt das auch für alleinstehende Männer. Das hängt mit dem Familienmodell zusammen: Wir versichern heute in den Sozialversicherungen Ehe statt Betreuungsarbeit und Erwerbstätigkeit. Das muss sich ändern.

Wie soll das geschehen?

Beispielsweise sollte man den Koordinationsabzug proportional zur Arbeitstätigkeit ausgestalten oder sogar ganz streichen. Die späteren Renten sollten an die Betreuungsarbeit und die Erwerbstätigkeit geknüpft werden und nicht an den Ehestand.

Die heutigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind nicht Ursache, sondern Spiegel unseres Familienmodells.

 

Hält sich das traditionelle Familienmodell auch deshalb, weil die Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht genügen?

Ich denke, die heutigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind nicht Ursache, sondern Spiegel unseres Familienmodells. Schliesslich entscheiden sich auch Leute für das traditionelle Modell, die keine Mühe hätten, die Krippenkosten zu bezahlen.

Typische Frauenberufe werden immer noch schlechter entlohnt als typische Männerberufe. Warum wählen Mädchen solche Berufe?

Die Präferenzen sind tatsächlich unterschiedlich. Das bisherige Frauen- und Familienbild führt dazu, dass Entlohnung und Aufstiegsmöglichkeiten bei der Berufswahl der Mädchen tendenziell die kleinere Rolle spielen als bei den Buben. Vielleicht weil sie sich eher als Zweitverdienerinnen sehen.

Die Lohngleichheit steht seit 1981 in der Verfassung. Die nicht erklärbare Differenz zwischen Frauen- und Männerlöhnen beträgt laut Bundesamt für Statistik 7,4 Prozent. Der Bundesrat schlägt vor, dass Unternehmen mit 50 oder mehr Angestellten alle vier Jahre die Lohngleichheit prüfen und die Resultate der Belegschaft bekannt machen müssen. Was halten Sie davon?

Ich bin da skeptisch. Bereits ein Teil der erklärbaren Lohnunterschiede geht auf unterschiedliche Chancen zurück. Zum Beispiel: Wenn eine Frau in einem Betrieb keine Weiterbildung erhält, hat sie nachher weniger Lohn als ein gleich qualifizierter Mann, der in der Weiterbildung war. Das gilt dann als erklärbare Differenz. Lohnkontrollen führen zwar dazu, dass man bei den unerklärbaren Differenzen etwas hellhöriger wird. Gleichzeitig sind aber damit die aus meiner Sicht ebenso wichtigen, aber «erklärbaren» Lohnunterschiede vom Tisch.

Das tangiert die Chancengleichheit?

Genau. Dennoch: Transparenz bei den Löhnen führt dazu, dass die Personalverantwortlichen tatsächlich etwas besser hinschauen. Das habe ich selber erlebt. Durch die Lohnkontrollen entsteht allerdings zusätzliche Bürokratie. Wenn das Lohnreporting einfach durchführbar und somit auch für die Firmen hilfreich ist, könnte ich damit leben.

Viele Länder haben eine Frauenquote eingeführt. Was sind die Erkenntnisse daraus?

Sie sind ernüchternd. In Norwegen hat die Frauenquote zwar mehr Frauen in Verwaltungsräte gebracht, aber nicht mehr Lohngleichheit, keine besseren Beförderungsmöglichkeiten und keine Chancengleichheit.

Das Parlament debattiert in diesem Jahr auch über eine Quote für börsenkotierte Gesellschaften mit mehr als 250 Mitarbeitenden in der Schweiz. Zur Diskussion stehen Quoten von 30 Prozent im Verwaltungsrat und 20 Prozent für die Geschäftsleitung. Diese Regelung soll befristet werden. Was sind die Erfolgsaussichten?

Quoten, die sich ein Unternehmen selbst setzt: unbedingt! Das gilt natürlich auch für die Bundesverwaltung. Eine generelle Quote lehne ich ab, weil dadurch die Vertragsfreiheit verletzt wird.

Es wird argumentiert, dass Frauen die Kultur in Entscheidungsgremien verändern.

Das sehe ich auch so. Allerdings bedeuten Quoten alleine noch keine steigende Diversität. Frauen, die durch Quoten in die Gremien kommen, unterscheiden sich in ihren Wesensmerkmalen oft stärker von den Frauen in der Bevölkerung als von den Männern in den Gremien. Quoten sind zudem ein Feigenblatt: Eine Firma mit zwei bis drei Frauen in unwichtigen Positionen in der Geschäftsleitung steht formal besser da als eine, die sich wirklich um die Gleichstellung kümmert, die Quote aber noch nicht erreicht hat.

Es geht sehr langsam vorwärts.

Diskussionen bringen am meisten. Im politischen Prozess bin ich durchaus für Quoten. Denn die Politik sollte die Bevölkerung abbilden. Und hier sind die Erfahrungen mit Quoten gut. Es gibt Studien aus Italien und Schweden, wo die Parteien gezwungen waren, jedem Geschlecht mindestens 40 Prozent der Listenplätze zu gewähren. Dadurch ist nicht nur die Anzahl der Frauen gestiegen, sondern auch die durchschnittliche Qualifikation der gewählten Personen – Männer und Frauen.

Zitiervorschlag: Susanne Blank (2018). «Die Politik sollte nicht die Stimmen der Bürger kaufen». Die Volkswirtschaft, 19. März.

Monika Bütler

Die 56-jährige Monika Bütler ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt, Wirtschaftspolitik und Informationsökonomik. Sie ist Verwaltungsrätin bei den Technologieunternehmen Schindler sowie Huber + Suhner. Bütler kam erst später zur Ökonomik. Ursprünglich studierte sie Mathematik und Physik an der Universität Zürich. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Söhne.