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Der hohe Preis dafür, ein bisschen anders zu sein

Für Lebensmittel- und Haushaltsgeräteimporte aus der EU gilt das Cassis-de-Dijon-Prinzip nur bedingt. Diese Ausnahmeregelungen tragen zur Hochpreisinsel Schweiz bei und schränken die Produktvielfalt ein.
Die Energievorschriften sind in der Schweiz teilweise strenger als in der EU. Etikett auf einem Tiefkühlschrank. (Bild: Keystone)

Im Jahr 2010 hat die Schweiz unilateral das Cassis-de-Dijon-Prinzip eingeführt: Produkte, die den technischen Vorschriften der EU entsprechen und dort rechtmässig in Verkehr sind, dürfen seither auch in der Schweiz ohne vorgängige Kontrollen frei zirkulieren.[1] Ausnahmen sind möglich, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse vorliegt – Beispiele für Sonderregelungen sind Lebensmittel, energieintensive Haushaltsgeräte, aber auch Holzprodukte wie Möbel.[2]

Indem hier die inländische Gesetzgebung der EU-Gesetzgebung übergeordnet ist, sollen schädliche Informationsasymmetrien entschärft – etwa bezüglich Sicherheit oder Qualität – oder negative externe Effekte wie beispielsweise CO2-Emissionen und Luftverschmutzung reduziert werden.

Die abweichenden Vorschriften in der Schweiz, auf deren Basis die Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip beschlossen werden, bringen aber auch volkswirtschaftliche Kosten mit sich. Teilweise fallen fixe Kosten durch spezifische Investitionen an, indem etwa eine Kühlschrank-Sonderserie mit höherer Energieeffizienz entwickelt werden muss. Zudem entstehen auch wiederkehrende Kosten wie etwa die zusätzliche Etikettierung bei Lebensmitteln.

Diese Regelungen beeinflussen die Marktsituation in der Schweiz. Denn: Wird ein Produkt vom Cassis-de-Dijon-Prinzip ausgenommen, stellt sich für einen EU-Hersteller die Frage, ob er überhaupt noch in die Schweiz exportieren und den strengeren Vorschriften nachkommen will. Nur wenn der Markt genug Ertragspotenzial verspricht, wird er dies tun. Kann er die Zusatzkosten auf Vertriebspartner und Endverbraucher abwälzen, manifestiert sich dies direkt in steigenden Preisen. Verzichtet er hingegen auf den Export in die Schweiz, sinkt die Produktvielfalt. Beides tangiert den Wettbewerb in der Schweiz direkt.

Das Institut für Wirtschaftsstudien Basel (IWSB) hat in Zusammenarbeit mit dem St. Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi sowie Markus Saurer von Markus Saurer Industrieökonomie erstmals Preis- und Mengeneffekte sowie die Auswirkungen auf Produktvielfalt und Wettbewerbsintensität dieser Ausnahmen untersucht.[3] Auftraggeber ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). In der Studie wurden unter anderem Lebensmittel sowie Haushaltsgeräte untersucht.[4] Im Produktbereich «Lebensmittel» musste gegenüber dem Bereich «Haushaltsgeräte» aufgrund der hohen Regulierungsdichte und der daraus resultierenden Komplexität auf eine quantitative Schätzung der Preis- und Wettbewerbseffekte verzichtet werden. Stattdessen wurden in zusätzlichen Interviews Branchenvertreter befragt.

Bewilligungspflicht für Lebensmittel


Bei den Nahrungsmitteln existieren einerseits explizite Ausnahmen. So müssen beispielsweise in der Schweiz alkoholische Süssgetränke nebst der Angabe des Alkoholgehalts in Volumenprozent zusätzlich mit «Alkoholhaltiges Süssgetränk» gekennzeichnet sein, während in der EU eine Angabe des Alkoholgehalts ausreicht. Auch bei der unbeabsichtigten Vermischung von Allergenen wird in der Schweiz ein entsprechender Hinweis wie zum Beispiel «Kann Spuren von Nüssen enthalten» verlangt, während in der EU nur die absichtlich zugesetzten Allergene einer Deklarationspflicht unterstehen. Anderseits besteht eine allgemeine Bewilligungspflicht für sämtliche EU-Lebensmittel, welche die Schweizer Vorschriften nicht vollständig erfüllen und hier in Verkehr gebracht werden.

Ein Beispiel für die allgemeine Bewilligungspflicht ist geriebener Mozzarella aus Deutschland: Damit dieser nicht zusammenklebt, wird dem Mozzarella (maximal 3 Prozent) Kartoffel- oder Maisstärke zugeführt. Da Käse in der Schweiz jedoch keine weiteren Stoffe enthalten darf, wurde die Einfuhr bewilligungspflichtig, obwohl der Käse bereits rechtmässig in Deutschland in Verkehr war. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) bewilligte den geriebenen Mozzarella schliesslich nach deutschem Recht – trotz den abweichenden Schweizer Vorschriften.

Importe erschwert


Die Bewilligungspflicht und die Pflicht zur Angabe des Herstellungslands sowie zur Produktbeschreibung in einer Landessprache verhindern eine starke Importkonkurrenz. Ein dämpfender Effekt auf die Preise, welcher aufgrund eines intensiveren Wettbewerbs ausgelöst wird, kann somit kaum entstehen.

Nachdem das Bewilligungsverfahren zu Beginn rege genutzt worden ist, beurteilt das BLV seit 2014 jährlich lediglich noch rund zehn Gesuche (siehe Abbildung 1). Diese bescheidene Nutzung könnte das Resultat eines geringen Bedarfs für neue Produkte sein oder auch in der Tatsache begründet liegen, dass viele neue Produkte aus der EU die nationalen Normen für die Inverkehrbringung in der Schweiz bereits erfüllen.

Abb. 1 Bewilligungsverfahren bei Lebensmitteln (2010 bis 2016)




Quelle: BLV / Die Volkswirtschaft

Die Interviews mit Branchenvertretern haben zudem gezeigt, dass die direkten und indirekten Kosten des Bewilligungsprozesses markant und ein wichtiger Entscheidungsfaktor sind. Neuartige Nahrungsmittel werden von den Detailhändlern oft zuerst in Pilotmärkten getestet. Wenn dafür zusätzliche Bewilligungen nötig sind, wird auf solche Tests verzichtet. Damit entgeht den Schweizer Konsumenten eventuell die Möglichkeit, den Nutzen neuer Produkte zu entdecken.

Haushaltsgeräte: Teure Ausnahmen


Bei vielen Haushaltsgeräten sind die schweizerischen Anforderungen an die Energieeffizienz weitgehend deckungsgleich mit den EU-Normen. So können beispielsweise Geschirrspüler oder Fernseher aus Deutschland problemlos in der Schweiz verkauft werden. Die Schweiz hat jedoch strengere Energieeffizienzvorschriften sowohl bei einigen energieintensiven Haushaltsgeräten wie Elektrobacköfen, den sogenannten Weisswaren wie Kühlschränke, Tiefkühler oder Wäschetrockner als auch bei der Heimelektronik in Form von Set-Top-Boxen. Zudem benötigen hierzulande auch Kaffeemaschinen eine Energieetikette. Dies ist in der EU derzeit (noch) nicht der Fall.

Den kleinen Abweichungen stehen hohe Kosten gegenüber. Laut Experten beeinflussen die Ausnahmen die Produktvielfalt indirekt. Demnach bringen Weisswarenhersteller mitunter Produktinnovationen auf den EU-Markt, welche die strengeren Schweizer Effizienzvorschriften nicht unbedingt erfüllen. Somit müssen sie sich entscheiden, Sonderserien für die Schweiz zu produzieren oder aber den Markt nicht zu beliefern. In welche Richtung der Entscheid fällt, hängt, wie eingangs erwähnt, von den erwarteten Zusatzkosten und vom Zusatzertragspotenzial ab. Angesichts des kleinen Schweizer Marktes dürfte dieses Erfolgskalkül oft zuungunsten unseres Landes ausfallen. Tendenziell stützen Auswertungen von Zolldaten die These, dass die Produktvielfalt und damit auch der Wettbewerb unter den Ausnahmen leiden.

Die starre Fokussierung auf die Energieeffizienz verdrängt auch bestehende Technologien, die in der EU immer noch gefragt sind, wie etwa die deutlich preiswerteren Kondensationstrockner. Zudem werden Innovationen verhindert, welche für den Konsumenten zwar grosse qualitative Fortschritte bedeuten, jedoch etwas mehr Energie verbrauchen. Branchenexperten bezweifeln denn auch, ob den Cassis-de-Dijon-Ausnahmen überhaupt ein positiver Effekt zugesprochen werden kann, da die zusätzlich erzielten Energieeinsparungen ohnehin marginal sein dürften.

Eine quantitative Schätzung des Effekts der Ausnahmeregelung zeigt: Im Vergleich zu ähnlichen Geräten, welche gemäss dem Cassis-de-Dijon-Prinzip in die Schweiz gebracht werden dürfen, sind die untersuchten Weisswaren im Durchschnitt 13,5 Prozent teurer. Bei den Set-Top-Boxen lässt sich dieser Effekt allerdings nicht nachweisen, was teilweise auf den kurzen Beobachtungszeitraum und das Untersuchungsdesign zurückzuführen ist.

Die Konsumenten bezahlen den Aufpreis


Selbstverständlich sind die qualitativen und quantitativen Analysen mit Unsicherheiten verbunden. Zudem stellen die erwähnten Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip nur einen relativ kleinen Baustein der Handelsschranken dar, der vor allem im Lebensmittelbereich von massiven tarifären Hürden überschattet wird. Aufgrund dessen darf man nicht der Illusion unterliegen, dass ein Verzicht auf die Ausnahmen die Hochpreisinsel Schweiz ausmerzen würde.

Dennoch lässt sich festhalten: Die Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip haben wohl weder bei den Lebensmitteln noch bei den Weisswaren einen volkswirtschaftlichen Nutzen für die Schweiz gebracht. Vielmehr entstehen dadurch substanzielle Kosten (siehe Abbildung 2).

Abb. 2 Summarische Wirkungseinschätzung der Cassis-de-Dijon-Ausnahmeregelung bei Lebensmitteln und Haushaltsgeräten




Der Nutzen ist darum gering, weil die Angleichung der Rechtssysteme zwischen der Schweiz und der EU weit fortgeschritten ist und der «Swiss Finish» beispielsweise den Konsumenten kaum besser, sondern einfach etwas anders schützt. Aufgrund der Tatsache, dass die Harmonisierung ungehindert fortschreitet, werden die Ausnahmen ohnehin eines Tages obsolet werden. Den Preis für die Abweichungen bezahlt bis dahin vornehmlich der Schweizer Konsument.

  1. Genaue Definition siehe Art. 16a THG. []
  2. Der Bundesrat hat am 20. Dezember 2017 beschlossen, die Abweichungen der Schweizer Regelungen bezüglich Energieeffizienz von Haushaltsgeräten, alkoholischer Süssgetränke und zur Deklaration von Holz und Holzprodukten zu beseitigen. Zudem wurde eine Vereinfachung des Bewilligungssystems für Lebensmittel, die gemäss dem Cassis-de-Dijon-Prinzip in der Schweiz in Verkehr gebracht werden, in die Vernehmlassung geschickt, welche bis am 23. März 2018 dauerte. []
  3. IWSB – Institut für Wirtschaftsstudien Basel (2017), Volkswirtschaftliche Kosten ausgewählter Ausnahmen des Cassis-de-Dijon-Prinzips, Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft. []
  4. Ebenfalls untersucht wurden Holzprodukte; siehe dazu auch den Beitrag von Peter Moser und Andreas Nicklisch, HTW Chur, in dieser Ausgabe. []

Zitiervorschlag: Stefan Meyer-Lanz, Manuel Langhart, (2018). Der hohe Preis dafür, ein bisschen anders zu sein. Die Volkswirtschaft, 26. März.