Sozialpartnerschaft in Gefahr?
Der Trend zur Individualisierung bringt Gewerkschaften in Bedrängnis. Demonstranten in Marseille. (Bild: Keystone)
Die in Genf beheimatete Internationale Arbeitsorganisation (ILO) feiert nächstes Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Damit ist sie die älteste Organisation innerhalb des UNO-Systems. Die ILO, die 187 Mitgliedsstaaten zählt, will in erster Linie auf der Basis von internationalen Normen und Standards die soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt fördern: Über 180 solcher rechtlichen Instrumente geben die Spielregeln für die Arbeitsbedingungen in einer zunehmend globalisierten und sich rasch verändernden Wirtschaft vor.
Gleich lange Spiesse und Mindeststandards für alle Beteiligten im globalen Wettbewerb lautet das Credo. Dazu tragen namentlich die acht Kernübereinkommen zur Abschaffung der Kinderarbeit, zur Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, zur Beseitigung der Zwangsarbeit, zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen bei.
Die Schweiz hat diejenigen 60 Übereinkommen ratifiziert, welche für eine entwickelte Wirtschaft relevant sind. Ihre Seriosität in Bezug auf die Umsetzung der Kernübereinkommen wird international anerkannt. Sie setzt sich dafür ein, dass das rechtliche Regelwerk aktualisiert und den heutigen Bedingungen angepasst wird. Darüber hinaus kommt der Schweiz als Sitzstaat eine besondere Verantwortung zu.
Die ILO unterscheidet sich von anderen UNO-Organisationen vor allem durch ihre dreigliedrige Struktur aus Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern. Dieser sogenannte tripartite Ansatz findet sich in allen Länderdelegationen und Organen, was der ILO eine hohe Legitimität verschafft.
ILO im digitalen Zeitalter
Entstanden ist die ILO nach dem Ersten Weltkrieg in der Hoffnung, soziale Spannungen in Zukunft zu vermeiden, indem die Staatengemeinschaft die Arbeitnehmenden durch internationale Regelungen besser schützt. Sie durchlebte in der Folge zahlreiche historische Phasen, die bezüglich der politischen Herausforderungen, der konjunkturellen Entwicklung, grundsätzlicher sozialpolitischer Problemlösungsphilosophien, aber auch gesellschaftlicher Wertorientierungen starken Veränderungen unterworfen waren. Die Grundsätze des sozialen Friedens und der Solidarität sind aber auch hundert Jahre später nach wie vor gültig – wenngleich sich die Arbeitswelt verändert hat. Bestehende Wertschöpfungssysteme werden durch die Globalisierung und das in einem bis dato noch nicht da gewesenen Ausmass an Informations- und Kommunikationstechnologien durchdrungen. Die sogenannte vierte industrielle Revolution mischt Wissen, Produkte, Dienstleistungen, Wertschöpfungsketten, Jobs und Branchen auf.
Diese Herausforderungen greift die ILO in einer «Initiative zur Zukunft der Arbeit in unserem Leben und unserer Gesellschaft» auf, welche der ILO-Generaldirektor Guy Ryder zum 100-Jahr-Jubiläum lanciert hat. Neben den traditionellen Anliegen, wie etwa der Förderung des Rechts auf Arbeit, der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze, der Entwicklung sozialer Sicherungssysteme und letzten Endes der nachhaltigen Sicherung unseres Wohlstandes, geht es in der Initiative auch um die Frage, wie sich die Sozialpartnerschaft angesichts der absehbaren technologischen Veränderungen und der fortschreitenden Tertiarisierung der Wirtschaft weiterhin als relevante und gestaltende Kraft behaupten kann.
Als kleine und offene Volkswirtschaft macht sich die Schweiz stark für die Initiative. Das Engagement erfolgt nicht nur auf der Basis der gemeinsamen Werte, welche die Schweiz mit der ILO teilt, sondern auch aus dem Willen zum gemeinsamen Handeln heraus, um das Vertrauen in die Arbeitswelt von morgen zu stärken. Deshalb kandidiert die Schweiz für die Präsidentschaft der internationalen Arbeitskonferenz im Jubiläumsjahr. Dies ist das höchste Organ der Organisation.
Raison d’Être der ILO bedroht?
Bisher hat es die Schweiz bestens verstanden, den steten strukturellen Wandel zu ihren Gunsten zu nutzen. Es ist auch gegenwärtig davon auszugehen, dass die Digitalisierung, gleich dem bisherigen technologischen Fortschritt, zu einem gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungsanstieg führen wird und dank der Spezialisierung auf hochwertige Tätigkeiten sowohl den Werkplatz Schweiz stärkt als auch den Beschäftigten mehr Wohlstand beschert.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine starke Sozialpartnerschaft, welche den Wandel in einem offenen und konstruktiven Dialog mitgestaltet. Damit sollen auch in Zukunft dank unternehmerischer Initiativen und Innovationsfreudigkeit neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn anderswo Arbeitsplätze verschwinden. Im Hinblick auf das ILO-Jubiläum begleitet das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) die Sozialpartner bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Erklärung zur Zukunft der Arbeit und der Sozialpartnerschaft. Dadurch soll die vertrauensvolle Zusammenarbeit auch angesichts einer globalisierten Wirtschaft und des technologischen Wandels weitergehen.
Die ILO hat in der Vergangenheit ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber globalen Veränderungen und neuen Technologien unter Beweis gestellt. Da angesichts der digitalen Änderungen atypische Beschäftigungsformen zunehmen könnten, führt dies womöglich zu einem schleichenden Bedeutungsverlust der Sozialpartnerschaft. Dies wiederum gefährdet den tripartiten Ansatz – die Raison d’Être der ILO.
Die globalen Tendenzen widerspiegeln auch die Situation in der Schweiz. Auf der Arbeitnehmerseite bringen schwindende Mitgliederzahlen aufgrund gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen die Gewerkschaften in Bedrängnis, während auf der Arbeitgeberseite eine zunehmende Aufsplitterung der Interessenvertretung der Unternehmen festzustellen ist. Diese Tendenzen stellen ein grundsätzliches Problem hinsichtlich der Repräsentanz der Sozialpartner und letztlich ihrer Legitimität im Prozess der Interessenkoordination dar.
Die erwähnte ILO-Initiative richtet sich daher nicht nur auf die Zukunft der Arbeit, sondern auch auf die Zukunft der Sozialpartnerschaft. Nur eine effiziente und funktionierende sozialpartnerschaftliche Verständigung und Interessenkoordination – subsidiär vom Staat begleitet – trägt dazu bei, Lösungen auf Stufe der Branchen und Unternehmen zu finden, welche der Notwendigkeit der Wirtschaft entsprechen, die nötige Flexibilität garantieren und einer Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen vorbeugen. Dieser Ansatz schafft Sicherheit und sozialen Zusammenhalt, die zur Förderung und zum Schutz von Investitionen, zur Schaffung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen und schliesslich zur Wahrung des Wohlstands unabdingbar sind.
Zitiervorschlag: Bless, Adrian; Zürcher, Boris (2018). Sozialpartnerschaft in Gefahr? Die Volkswirtschaft, 24. April.