Suche

Abo

Die schwierige Suche nach geteilter Souveränität

Ein gut organisiertes föderalistisches System bietet viele Vorteile, aber auch Angriffsflächen für persönliche Machtgelüste und die Gefahr von Fehlfunktionen.

Die schwierige Suche nach geteilter Souveränität

In der Ukraine führten Differenzen mit der Zentralregierung zum Krieg: Knabe mit Fahne der Volksrepublik Donezk. (Bild: Keystone)

In der Schweiz ist der Föderalismus so tief in der Kultur verankert, dass uns die Vorteile kaum noch auffallen. Diese betreffen zwei Kernpunkte: Erstens ermöglicht der Föderalismus verschiedene Arten von Bekenntnissen zu einem Land, was den Respekt gegenüber Minderheiten zum Ausdruck bringt. Anstatt die Menschen zu zwingen, sich mit einer Nation zu identifizieren (die ihnen vielleicht fremd ist) oder sich zu einer Ethnie (die vielleicht nicht ihre eigene ist) oder einer Sprache (die sie vielleicht nicht sprechen) zu bekennen, kann die Zugehörigkeit im Föderalismus durch mehrere Kriterien ausgedrückt werden. Dazu passt die Erfahrung, dass sich Schweizer oft nur im Ausland als solche wahrnehmen. Im Land selber können die Leute ihre kantonale, regionale oder lokale Zugehörigkeit sowie ihre sprachliche Identität – im Fall der Romands sowie der Italienisch- oder der Rätoromanischsprachigen – ohne Einschränkungen leben.

Der andere Vorteil des Föderalismus besteht darin, dass er eine Entwicklung des gesamten Landes zulässt. Aufgrund ihrer Autonomie können die föderalistischen Einheiten ihr Potenzial ausschöpfen, ohne vom guten Willen einer Zentralregierung abhängig zu sein. Demgegenüber konzentriert das politische und wirtschaftliche Leben in vielen anderen Staaten auf eine – häufig übervölkerte – Hauptstadt.

«Klassische» Föderationen verdanken ihre Stabilität insbesondere den erwähnten Qualitäten. Die Vereinigten Staaten (Gründungsjahr 1787), die Schweiz (1848), Kanada (1867), Australien (1901) und Deutschland (1949) gehören zu den wohlhabendsten Staaten. Indien (1950) wiederum gilt als grösste Demokratie der Erde.

Diese Länder prosperieren, weil alle ihre Regionen entwickelt sind. In der Schweiz zum Beispiel ist Bern nicht die wichtigste Stadt, und im Gegensatz zu vielen zentralistischen Staaten finden sich mit Genf, Basel oder Lugano auch in Grenzregionen dynamische Zentren.

Da Föderationen versuchen, die Provinzen nicht zu vernachlässigen, gibt es in reichen Gegenden wie Zürich, Bayern oder New York keine Abspaltungsbewegungen. Kanada hat es nach einem langen Dialog geschafft, die Unabhängigkeitsbestrebungen von Québec zu bewältigen. Belgien wandte diese Strategie mit Flandern an, indem es 1993 ein föderalistisches System wählte. Das politische System ist zwar verwirrend komplex, die Einheit des Landes wurde aber bisher bewahrt. Auch Grossbritannien liess sich vom Föderalismus insofern inspirieren, als es den Parlamenten in Schottland, Wales und Nordirland weitreichende (wenn auch asymmetrische) Rechte einräumte. Im Jahr 2014 entschied sich Schottland gegen die Unabhängigkeit.

Persönliche Machtgelüste


Diesen Erfolgsmodellen stehen zahlreiche Gegenbeispiele gegenüber, die von einer mangelnden Weitsicht und einem fehlenden Respekt gegenüber Minderheiten der politischen Führungsfiguren zeugen. Das einzige Anliegen dieser Politiker scheint darin zu bestehen, ihre Macht auszubauen. Verhängnisvoll ist, dass dieser Mangel an Vernunft auch in den föderalistischen Einheiten auftreten kann. Gewisse Föderationen haben dies nicht überlebt. So implodierte Jugoslawien infolge von Rivalitäten zwischen den einzelnen Republiken.

In anderen Föderationen versuchen Staatschefs vom Zentrum aus, die Macht an sich zu reissen. In Venezuela oder Russland haben «charismatische» Präsidenten die föderalistische Dimension ihres Landes ausgehebelt. Noch Ende der Neunzigerjahre wurde grosse Hoffnung in die «Quasi-Föderationen» Spanien und Südafrika gesetzt. Zwanzig Jahre später muss angesichts der Katalonien-Krise und der Vereinnahmung der Macht durch die Elite des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) festgestellt werden, dass beide Länder den Übergang zu echten Föderationen nicht geschafft haben. Nebst dem Referendum in Katalonien fand vergangenes Jahr auch im irakischen Kurdistan eine umstrittene Volksabstimmung über die Unabhängigkeit statt. Der Wunsch nach einer Abspaltung ist stark, weil es weder in Spanien noch im Irak gelang, die staatliche Macht so aufzuteilen, dass die Regionen und Gemeinschaften ihre Eigenheiten bewahren und gleichzeitig Teil eines grösseren Gesamtstaates sein können. Seit Menschengedenken werden Minderheiten verfolgt: In der Türkei gelten Kurden sogar als «Terroristen».

Die Weigerung, jegliche Souveränität abzugeben, bremst auch den europäischen Aufbauprozess. Die amerikanischen Staaten oder die Schweizer Kantone hatten seinerzeit begriffen, dass Einheit stark macht. Heute ist die Idee der «Vereinigten Staaten Europas», wie sie dem französischen Schriftsteller Victor Hugo am Herzen lag, kein Thema mehr. Gründerväter der EU wie Jean Monnet oder Richard Coudenhove-Kalergi müssen sich angesichts von Brexit und EU-Skepsis im Grab umdrehen. Besonders ernüchternd ist, dass ein föderalistisches Europa heikle Situationen wie die Griechenland-Krise oder die Migration einfacher hätte bewältigen können. Dennoch scheint kein europäischer Staat bereit, auch nur einen Bruchteil seiner Souveränität zugunsten der europäischen Föderation zu opfern.

Diese festgefahrene Haltung kann auf allen Ebenen Probleme aufwerfen. Dänemark zum Beispiel, das die Idee des Föderalismus stets abgelehnt hat, scheint nun seine Inseln zu verlieren. Im Mai 1944 (wer erinnert sich noch daran?) beendete die isländische Bevölkerung die Union mit Dänemark zugunsten der Unabhängigkeit mit einem Volksmehr von 95 Prozent. Derzeit wird auch auf den Färöer-Inseln und in Grönland über die Ablösung von Dänemark diskutiert.

Auch Frankreich, das so sehr auf seine Einheit bedacht ist, könnte Neukaledonien verlieren, das am 4. November 2018 über eine Loslösung abstimmen wird. In Paris selbst wirft der Sieg der korsischen Nationalisten bei den Regionalwahlen vom vergangenen Dezember delikate Fragen auf.

Tragödien und Hoffnung


Es gibt noch schwerwiegendere Beispiele. In der Ukraine hat die Weigerung, den russischsprachigen Regionen im Osten einen eigenen Status – zum Beispiel als Kantone innerhalb einer Föderation – zu geben, zum Verlust der Krim und einer kriegsähnlichen Situation geführt. In Sri Lanka führte eine ebenso blinde Haltung zu einem Bürgerkrieg im tamilischen Norden der Insel, der erst 2009 zu Ende ging und seit 1972 mindestens 100’000 Opfer gefordert haben soll. Dennoch bleibt dort der Begriff «Föderalismus» tabu.

Die Unfähigkeit eines Staates, seine Vielfalt zu berücksichtigen, kann zu einer Katastrophe führen. Entsprechend existiert Somalia nicht mehr, und der Jemen könnte dasselbe Schicksal ereilen, da sich verschiedene Fraktionen, die von aussenstehenden «Alliierten» unterstützt werden, in einem verheerenden Bürgerkrieg bis aufs Blut bekämpfen.

In diesem traurigen Panorama des zeitgenössischen Föderalismus sind jedoch auch gewisse Lichtblicke erkennbar. So wurde Nepal mit der Annahme der Verfassung 2015 zu einem föderalistischen Staat mit sieben Provinzen. Allerdings gestaltet sich der Aufbau der Institutionen als schwierig. Auf den Philippinen will Präsident Rodrigo Duterte, der für seine verbalen Entgleisungen bekannt ist, seinen Archipel in eine Föderation transformieren. Da dieser Prozess in seinen Augen überlebenswichtig im Kampf gegen Armut und die islamischen Aufstände ist, hat er beispielsweise im rebellischen Süden bereits die autonome Region Bangsamoro geschaffen. Die Anhänger der Zentralisierung sehen im Föderalismus allerdings weiterhin eine Bedrohung für die Einheit des Landes, auch wenn die Beispiele aller historischen Föderationen, beginnend mit der Schweiz, das Gegenteil beweisen.

Zitiervorschlag: Nicolas Schmitt (2018). Die schwierige Suche nach geteilter Souveränität. Die Volkswirtschaft, 24. Mai.