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«Die Verflechtung zwischen den Staatsebenen hat zugenommen»

Der Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen, Benedikt Würth, kritisiert eine steigende Aufgabenverflechtung zwischen Bund und Kantonen. Handlungsbedarf sieht er insbesondere beim Gesundheitswesen.
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«Aus meiner Sicht gibt es auch mehr Zentralisierung, weil der Einfluss der Interessenverbände zugenommen hat.» Benedikt Würth vor dem Haus der Kantone in Bern. (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)

Herr Würth, bündeln Sie im Haus der Kantone die Verhandlungsmacht der Kantone gegenüber dem Bund?


Ja. Die Kantone haben ein elementares Interesse daran, sich intern abzustimmen und ihre Kräfte zu bündeln. Das kommt auch dem Bund zugute. In der Schweiz sind viele zentrale Bereiche wie die Steuern, der Verkehr, die Bildung, das Gesundheitswesen oder die Sicherheit entweder kantonale oder geteilte Zuständigkeiten von Bund und Kantonen. Dies bedingt ein intensives Zusammenwirken.

Der neue Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen ist seit zehn Jahren in Kraft. Was waren damals die Hauptziele?


Diese Reform war ein Meilenstein. Seit 1848 war die Geschichte der Schweiz eine Geschichte der Zentralisierung mit einem ineffizient gewordenen Finanzausgleich. Das ist in den Neunzigerjahren als Mangel erkannt worden. Im alten Finanzausgleich waren die Bundessubventionen in den jeweiligen Ausgabenbereichen zweckgebunden und von der Finanzkraft eines Kantons abhängig. Diese Vermischung von Anreiz- und Umverteilungszielen führte zur erwähnten Ineffizienz.

Wurden die Schwächen des alten Systems mit der Reform überwunden?


Ja, die Mittel aus dem Finanzausgleich sind seither frei einsetzbar für die Kantone. Weiter wurden zwei Ausgleichsinstrumente geschaffen, welche die exogenen Lasten, das heisst die soziodemografischen und geografisch-topografischen Besonderheiten der Kantone, abfedern. Und mit dem Ressourcenausgleich hat man der unterschiedlichen Steuerkraft der Kantone Rechnung getragen. Die Anreizthematik wurde besser gelöst und die Subsidiarität gestärkt. Zwischen Wettbewerbs- und Solidaritätselementen herrscht heute eine gute Balance. Das hat die Verantwortung der Kantone gestärkt.

Dann ist alles in Ordnung?


Nein. Die Verflechtung zwischen den Staatsebenen hat zugenommen. Zudem belastet vor allem das Gesundheits- und Sozialwesen die kantonalen Finanzhaushalte. Seit dem Inkrafttreten des Finanzausgleichs 2008 hat dieser Bereich über alle Kantone gerechnet zu Mehrkosten von 2,7 Milliarden Franken pro Jahr geführt. Dabei sind die Kantone stärker vom demografischen Wandel betroffen als der Bund, wie die langfristigen Perspektiven des Eidgenössischen Finanzdepartementes zeigen.

Ist das eine neue Lastenverschiebung vom Bund zu den Kantonen?


Im Ergebnis wirkt es sich so aus. Der Bund ist in diesem Fall der Regulator und Gesetzgeber des Krankenversicherungsgesetzes. Die finanziellen Auswirkungen – sowohl bei der Spitalfinanzierung als auch bei der Pflegefinanzierung – liegen jedoch bei den Kantonen sowie bei den Versicherern. Die Gesundheitsausgaben machen rund 0,4 Prozent des Bundeshaushaltes aus. Bei den Kantonen sind es 14 Prozent. Indem die Bundesebene die hauptsächliche Regulierungsmacht ausübt und die Kantone die finanziellen Konsequenzen tragen, wird das ökonomische Prinzip der fiskalischen Äquivalenz verletzt. Dieses besagt: Wer zahlt, befiehlt.

Warum nimmt die Zentralisierung zu?


Das Verständnis für unterschiedliche Lösungen sinkt tendenziell. Diese Entwicklung bereitet uns Sorgen.

Zum Beispiel?


Die Maturitätsquoten. Sie variieren in den Kantonen zwischen 11 und 30 Prozent. Im Kanton St. Gallen liegt die Quote beispielsweise relativ tief, da St. Gallen ein Industriekanton ist und die Jungen eher eine Lehre absolvieren. In Kantonen mit einem grösseren Dienstleistungssektor gibt es mehr Gymnasiasten. Exponenten aus dem Bildungsbereich machen in den Medien diesen Umstand schnell einmal zum Problem. Wir sehen das anders: Das Mittelschulwesen ist eine kantonale Aufgabe, und jeder Kanton muss letztlich selber entscheiden, wie er die Schwerpunkte setzen will. Aus meiner Sicht gibt es auch mehr Zentralisierung, weil der Einfluss der Interessenverbände in den letzten Jahren zugenommen hat.

Wie wirkt sich das aus?


Die Lobbyisten haben ein Interesse daran, auf Bundesebene Lösungen zu finden. So können sie viel gezielter Einfluss nehmen, als wenn sie in 26 Kantonen anklopfen müssen.

Sie fordern eine Überprüfung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Wo sehen Sie Handlungsbedarf?


Aktuell haben wir eine Diskussion um die Finanzierung ambulanter Leistungen im Gesundheitsbereich: Der Bund regelt, die Kantone sollen zahlen. Ein anderes Beispiel sind die individuellen Prämienverbilligungen: Der Bund hat kürzlich neue Regeln erlassen bei der Finanzierung von Kinderprämien. Das verpflichtet die Kantone, zusätzliche Mittel einzuschiessen, ohne dass sie das beeinflussen können. Dabei bin ich überzeugt, dass die Kantone den Bedarf an Prämienverbilligungen vor Ort am besten abschätzen können. Auch der Bahninfrastrukturfonds wird auf Bundesebene gesteuert. Die Planungsregionen können zwar Inputs machen, aber die Entscheidung liegt beim Bund. Gleichzeitig zahlen wir jedes Jahr eine halbe Milliarde in diesen Fonds, ohne mitzuentscheiden, wo die Gelder schlussendlich hinfliessen.

Eine Nivellierung ist nicht das Ziel des Finanzausgleichs

Die Finanzkraft der Kantone ist sehr unterschiedlich.


Das ist ein Spiegelbild der unterschiedlichen, historisch gewachsenen Wirtschaftsstrukturen im Land. Ertragskraft der Unternehmen und Löhne sind in einem von Finanz- oder Pharmaclustern geprägten Kanton anders als beispielsweise in einem gewerblich-touristisch geprägten Kanton. Zur Schweiz gehört aber die ganze Vielfalt. Eine Nivellierung ist nicht das Ziel des Finanzausgleichs. Aber man will den Kantonen eine sogenannte Mindestausstattung des schweizerischen Mittels garantieren. Die Höhe dieser Mindestausstattung wird politisch diskutiert.

Im Finanzausgleich ist die Mindestausstattung bei 85 Prozent des schweizerischen Mittels festgelegt. Momentan wird sie aber durch alle Kantone übertroffen. Was nun?


Das ist einer der Streitpunkte. Diese 85 Prozent waren ursprünglich ein Richtwert. Der Finanzausgleich ist momentan noch so ausgestaltet, dass das Bundesparlament die Dotierung der Töpfe steuert. Dabei kann dieser Richtwert über- oder unterschritten werden. Beides ist schon vorgekommen. Momentan liegt er bei 88,2 Prozent.

Sie schlagen einen neuen Mechanismus vor.


Der Kompromissvorschlag der Kantone ist es, eine Mindestausstattung von 86,5 Prozent zu garantieren und im Gesetz festzulegen. Der Mechanismus würde dann jährlich angewandt, ohne dass das Parlament darüber entscheidet. Für die Nehmerkantone wird die Reform zu spürbaren Mindereinnahmen führen. Trotzdem unterstützen die grosse Mehrheit der Nehmerkantone und der Bundesrat diesen Vorschlag. Ohne einen breit getragenen, funktionierenden Finanzausgleich wird möglicherweise der Ruf nach einer materiellen Steuerharmonisierung – und damit verbunden die Zentralisierungsdynamik – wieder stärker. Und das wollen weder Nehmer- noch Geberkantone.

Die Kantone Wallis, Jura, Freiburg und Neuenburg sind dagegen, der Kanton Bern enthält sich.


2015 gab es zwischen den Kantonen erhebliche Spannungen. Deshalb ist es bereits eine hervorragende Leistung, dass 21 Kantone diesem Kompromiss zustimmen. Ich hoffe natürlich nach wie vor, dass man die verbleibenden oppositionellen Nehmerkantone auch noch gewinnen kann. Aber letzten Endes ist es vielleicht vermessen, zu glauben, dass man alle ins Boot holen kann. Schon bei der Volksabstimmung 2004 haben drei Kantone Nein gesagt.

Eine Konfliktlinie entlang der Sprachgrenze habe ich in der KDK noch nie erlebt.

Abgesehen vom Finanzausgleich: Wo verlaufen die verschiedenen Konfliktlinien zwischen den Kantonen? Gibt es einen Röstigraben oder einen Stadt-Land-Graben?


Nein, eine Konfliktlinie entlang der Sprachgrenze habe ich in der Konferenz der Kantonsregierungen bis jetzt noch nie erlebt. Die Unterschiede verlaufen entlang konkreter Interessenlagen. Beim Finanzausgleich sind die Perspektiven von Gebern und Nehmern logischerweise unterschiedlich. Beim Thema Personenfreizügigkeit sind es beispielsweise Grenzkantone wie Tessin oder Genf mit vielen Grenzgängern, die strengere flankierende Massnahmen befürworten. Ausserdem gibt es ganz spezifische Interessen der Bergkantone, wie etwa die Diskussion um die Wasserzinse zeigt.

Das Stimmvolk der Kantone Genf und Waadt hat 2002 die Vorlagen zur Kantonsfusionierung verworfen. Das Gleiche gilt für Basel-Stadt und Basel-Landschaft im Jahr 2014. Auf Gemeindeebene gibt es viele Fusionen. Warum nicht auf Kantonsebene?


Ich persönlich finde, dass solche Strukturreformen diskutiert werden sollen. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Mobilität hat zugenommen. Die Bedeutung funktionaler Räume ist gestiegen. Wenn man versucht, die territoriale Ordnung stärker dieser Realität anzunähern, ist das legitim. Aber offenbar wollen die Leute das nicht, wie die letzten Urnengänge dazu zeigen. Die Fusionswelle bei den Gemeinden ist ebenfalls etwas abgeebbt – zumindest im Kanton St. Gallen, der in den letzten zehn Jahren viele erfolgreiche Gemeindefusionen erlebt hat.

Wie wichtig ist den Bürgern die föderale Struktur der Schweiz?


Die meisten Menschen beurteilen generell nur die Qualität der Aufgabenerfüllung in der Schweiz. Dabei differenzieren sie kaum, ob Bund, Kanton oder Gemeinde eine Aufgabe erfüllen, sondern beurteilen das Gesamtangebot der öffentlichen Dienstleistung. Bei Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Verkehr hat die Schweiz dank dem föderalen Aufbau und dank Subsidiarität einen hervorragenden Service public. Das Tolle an unserem Föderalismus ist, dass jede Ebene effektiv auch Entscheidungsmacht hat und über Steuerhoheit verfügt.

Wo stösst der Föderalismus an seine Grenzen?


Die funktionalen Räume werden grösser und haben andere Gravitationsfelder. Das bedeutet, dass die interkantonale Zusammenarbeit weiter an Bedeutung zunehmen wird. Wenn die Kantone dies aber verpassen, wird es tendenziell auch zu weiteren Zentralisierungen kommen.

Wie sieht der schweizerische Föderalismus in 50 Jahren aus?


Ich bin kein Hellseher (lacht). Aber ich glaube, das föderale Prinzip wird nach wie vor ein Teil der Schweiz sein. Und zwar deshalb, weil man in einem vielsprachigen und so vielfältigen Land keinen Zentralstaat aufbauen kann. Das lehrt uns momentan ja auch die Geschichte mit Spanien und Belgien, wo es weniger gut läuft. Das föderale Prinzip hält die Schweiz zusammen.

Wird sich also nichts verändern?


Natürlich gibt es Trends wie die Digitalisierung und den demografischen Wandel. Wie die Digitalisierung auf die verschiedenen Wirtschaftsbranchen wirkt, kann heute niemand mit Sicherheit sagen. Eine Prognose ist, dass die Finanzindustrie eher zurückgeht und die klassische Hightech-Industrie dazugewinnt. Zudem wird auch das Thema Stadt-Land an Bedeutung gewinnen, denn in den städtischen Gebieten ist die demografische Veränderung weniger gravierend als in den ländlichen Räumen. Das hat Einfluss auf Ressourcen und Lasten.

Werden dadurch die Zentralisierungstendenzen weiter zunehmen?


Ich hoffe es nicht. Aber letztlich sind die Aufteilung der Aufgaben sowie die Ausgestaltung der Ausgleichssysteme das Resultat eines demokratischen Prozesses, der die Bedürfnisse der Bevölkerung widerspiegelt. Der Föderalismus bleibt in diesem Sinne dynamisch und im Fluss.

Zitiervorschlag: Blank, Susanne (2018). «Die Verflechtung zwischen den Staatsebenen hat zugenommen». Die Volkswirtschaft, 22. Mai.

Benedikt Würth

Der 50-jährige CVP-Politiker Benedikt Würth ist seit 2011 Regierungsrat des Kantons St. Gallen und seit 2016 Vorsteher des Finanzdepartements. Seit April 2017 präsidiert er die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK). Zuvor hat er als Gemeindepräsident von Jona die Gemeindefusion vorbereitet und war von 2007 bis 2011 erster Stadtpräsident von Rapperswil-Jona. Der studierte Jurist ist verheiratet und Vater zweier Kinder.